24.12.2022 von Michael Maier - Eva Kaili verbringt Weihnachten im Gefängnis. Hinter ihr steht ein Netzwerk, das sich an EU-Geldern bediente. Ganz legal - und das ist das Problem.
Die blonde Frau steht, ganz in Schwarz gekleidet, auf einem kreisrunden roten Teppich und spricht leidenschaftlich über das Leben in der Zukunft. Immer wieder blickt sie auf ihre Sprechkarten, um sich nicht in Fachbegriffen zu verheddern. Es geht um Technologie. Die Frau lächelt in ihr Publikum: „Künstliche Intelligenz kann Vorhersagen liefern: Du kannst einen Unfall vermeiden, wenn du schnell reagierst.“ Dann wird sie wieder ernst: „Künstliche Intelligenz kann auch manipulieren. Sie kann virtuelle Persönlichkeiten erschaffen, die im wirklichen Leben ganz anders sind. Das kann vor Wahlen gefährlich werden für die Demokratien, wenn man ein verrücktes Video sieht.“
Die Frau scheint zu wissen, wovon sie spricht. Noch wirkt die ehemalige Fernsehmoderatorin Eva Kaili zwar unsicher in der fantastischen Welt der neuen Möglichkeiten. Doch im Mai 2022 kann sich die griechische Vizepräsidentin des EU-Parlaments bei ihrem Auftritt auf einer der angesagten TED-Konferenzen in Brüssel bereits mit einem wichtigen Titel schmücken: Die ausgebildete Architektin und Politologin war zuvor Präsidentin des prestigereichen Stoa-Panels, einer Task-Force, die der EU den Weg in die „Zukunft von Wissenschaft und Technologie“ weisen soll. Eva Kaili kann sich bei ihrer visionären, aber schwierigen Aufgabe unter anderem auf ihre Familie verlassen. Kurz vor Kailis Amtsantritt als Stoa-Präsidentin gründet ihre Schwester Mantalena das Kommunikationsunternehmen „Made Group“, eine Firma, die sich der „sozialen Innovation und kreativen Synergien“ widmen will. Das Unternehmen erhält laut Politico aus dem EU-Programm „Horizon 2020“ über mehrere Jahre hinweg Fördergelder im sechsstelligen Euro-Bereich.
Als Eva Kaili später die Faszination von Krypto, FinTechs und Blockchain entdeckt, gründet ihre Schwester Mantalena in Athen eine „gemeinnützige“ Organisation mit dem verheißungsvollen Namen „ELONtech“. Die Organisation will nach Eigendarstellung ein „besseres Verständnis“ für neue Technologien und ihre Regulierung durch die EU entwickeln. Im Dienst der gemeinsamen Sache arbeiten unter anderem ein Assistent und ein Mitarbeiter des EU-Parlaments für ELONtech, wie Politico herausgefunden hat. Alle Synergien werden genutzt, um die EU gemeinsam zu modernisieren: Ein von Eva Kaili gegründeter „Internationaler Beirat“ soll Stoa unterstützen. Neben Vertretern von Google und dem World Economic Forum sitzen auch Experten von ELONtech und der Katar-Stiftung für Bildung, Wissenschaft und Erziehung in dem Gremium. Kaili ist parlamentsseitig unter anderem für den Nahen Osten zuständig. Alle Zeichen stehen auf Erfolg für die digitalen Himmelsstürmer.
Wenige Monate später sind jedoch alle Träume ausgeträumt: Am Freitag vor Weihnachten 2022 erhält Eva Kaili von einem belgischen Untersuchungsrichter den Bescheid, dass sie zum Fest nicht bei ihrem Kind sein darf, sondern die Feiertage in einem Gefängnis in der belgischen Hauptstadt verbringen wird. Wegen des Verdachts der Korruption, Geldwäsche und Einflussnahme aus dem Ausland ermittelt die belgische Justiz seit Monaten im Umfeld des EU-Parlaments. Die Behörden sollen Hinweise haben, dass Katar mit Geld- und Sachgeschenken versucht haben soll, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Auch Marokko soll dies versucht haben. Der Skandal hat als „Katargate“ Brüssel in einen Schockzustand versetzt.
Im Zentrum der Ermittlungen steht die frühere Vizepräsidentin. Die Tech-Expertin konnte ihren biografischen Unfall nicht vermeiden – im Gegenteil: Was im Zuge des Skandals zum Vorschein kommt, ist gefährlich für die Demokratie in Europa. Bizarr: In der Wohnung der Krypto-Expertin wurden unüblich große Mengen an Bargeld gefunden. Ihr Vater wurde von den Ermittlern gefasst, als er Bargeld in einem Hotelzimmer deponieren wollte. Eigentlich ist eines der Ziele der Krypto- und Fintech-Branche die Abschaffung des Bargelds – weil es so massiv für Geldwäsche und Korruption verwendet wird.
Der Griechin und drei weiteren Verdächtigen wird nun die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Geldwäsche und Korruption zur Last gelegt. Auch Kailis Lebensgefährte, der als Assistent eines Abgeordneten im EU-Parlament arbeitet, und der ehemalige sozialdemokratische EU-Abgeordnete Pier Antonio Panzeri müssen Weihnachten hinter Gittern verbringen.
Für Eva Kaili ist eine Welt zusammengebrochen. Sie sei gesundheitlich angeschlagen, sagt ihr Anwalt Michalis Dimitrakopoulos am Donnerstag vor dem Brüsseler Gericht: „Sie ist unschuldig“, sagt er stockend auf Französisch: „Keine Korruption!“, sagt er. Und auf Englisch: „Sie ist unschuldig!“ Sie fühlt sich von ihrem Lebenspartner betrogen, sagt der Anwalt, nachdem er im Gefängnis mehrere Stunden mit Kaili gesprochen hatte. „Sie hat ihm vertraut, er hat sie hintergangen.“
Auch sonst wurde es trotz des zuvor florierenden Netzwerks ganz schnell ganz einsam um die Griechin: Sie wird als Vizepräsidentin abgesetzt. Ihre Partei – die Europäische Sozialdemokratie – distanziert sich. Die zweite Hälfte der großen Koalition, die konservative EVP, sagt, die Sozialisten neigen ihrem Wesen nach zur Korruption, worauf ein heftiger Schlagabtausch auf allen Kanälen folgt. Immerhin war erst vor einigen Jahren der EVP-Politiker Ernst Strasser in Österreich ins Gefängnis gewandert, weil er in einem Undercover-Video der Sunday Times der Bestechlichkeit überführt wurde.
Eva Kailis Assets wurden von den Behörden gesperrt
Auch bei der Stoa gehen die Verantwortlichen auf Tauchstation. So sagte der Potsdamer EU-Abgeordnete Christian Ehler, der im März 2022 den Stoa-Vorsitz übernahm, dem Magazin Politico, er sei sich nicht sicher, ob der Vorschlag, einen für ELONtech tätigen Experten zu ernennen, explizit diskutiert werde. Die Ernennung des Beirats hätte jedenfalls „keine finanziellen Folgen für Stoa“ gehabt. Der Vorstand habe im Rahmen dieses Mandats nur wenige Sitzungen abgehalten, die alle während Kailis Amtszeit als Vorsitzende stattfanden, fügte er hinzu. „Während meiner Amtszeit als Vorsitzender fanden keine Treffen statt – und diese Treffen haben meines Wissens zu keinerlei Initiativen innerhalb von Stoa geführt.“ Ehlers Posten sind beeindruckend: Er ist EVP-Koordinator im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE), stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Kultur und Bildung (CULT), Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und Stellvertreter in der Delegation für die Beziehungen zu Israel sowie der Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum. Es ist unklar, ob er Zeit finden wird, bei der Stoa nach dem Rechten zu sehen.
Kailis Schwester Mantalena sagte der griechischen Zeitung Proto Tema, ELONtech habe nie EU-Steuergelder bekommen. Die Namen auf der Website von ELONtech hat sie dennoch vorsorglich löschen wollen. Ihre Assets wurden von den Behörden gesperrt. Mantalena sagt, sie sei jederzeit bereit nach Brüssel zu reisen, um auszusagen. Sie bestreitet vehement, dass ihre Schwester in kriminelle Machenschaften verwickelt sei, dazu sei Eva gar nicht der Typ.
Welche Rolle die Familie Kaili und andere verwickelte Personen gespielt haben, müssen nun die belgischen Ermittler klären, die eng mit Behörden und Geheimdiensten in anderen Ländern zusammenarbeiten. Anlass für eine Auflösung des EU-Parlaments, wie kürzlich von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán gefordert, sieht man in Brüssel nicht. Lauter werden dürften stattdessen die Rufe nach einer Stärkung der Kontrollorgane auf EU-Ebene – vor allem vor dem Hintergrund der jüngsten milliardenschweren neuen Förderprogramme wie die „Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF)“. Ein Sprecher des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) sagte der Berliner Zeitung, man spreche bei den Programmen für die Covid-Folgen und die grüne Transformation „in der Tat von beispiellosen Finanzbeträgen“. OLAF sei von Anfang an beteiligt gewesen, um „sicherzustellen, dass nationale Pläne zur Umsetzung von EU-Wiedereinziehungsgeldern angemessene Bestimmungen gegen Betrugsversuche enthielten“. OLAF engagiere sich „aktiv dafür, eine gemeinsame Front mit den nationalen Behörden zu schaffen, um Betrug zu bekämpfen, der sich auf die RRF auswirken könnte“.
Durch die Korruption von arabischen Staaten wird die Demokratie in Europa nicht zugrunde gehen. Viel gefährlicher sind die Dinge, die ganz legal ablaufen, wo Wirtschaft und Wohlhabende Einfluss auf die Politik nehmen.
Patrick Breyer, EU-Abgeordneter der Piratenpartei
OLAF hatte in den vergangenen Jahren stets auch die EU-Institutionen im Blick. Im Jahr 2021 führte OLAF unter anderem Untersuchungen durch, die sich auf vier MdEP, fünf Bedienstete und sieben Wirtschaftsteilnehmer erstreckten. Es wurden laut OLAF-Bericht „schwerwiegende Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der beruflichen Pflichten durch Bedienstete des Europäischen Parlaments bzw. der Fraktion festgestellt“. Allerdings zeigt der Jahresbericht 2021, dass im Zusammenhang mit EU-Geldern weit mehr Betrugsfälle auf Ebene der Nationalstaaten angefallen sind als auf EU Ebene.
Die kriminellen Machenschaften seien nicht das Hauptproblem der EU, sagt auch Patrick Breyer, EU-Abgeordneter der Piratenpartei: „Der Fall Kaili ist die Spitze des Eisbergs. Durch die Korruption von arabischen Staaten wird die Demokratie in Europa nicht zugrunde gehen. Viel gefährlicher sind die Dinge, die ganz legal ablaufen, wo Wirtschaft und Wohlhabende Einfluss auf die Politik nehmen.“ Breyer sagte dieser Zeitung, bisher habe die Mehrheit im EU-Parlament aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen meist alle Maßnahmen ins Leere laufen lassen oder gar nicht umgesetzt, wenn es um den Kampf gegen die Korruption ging. So könnte es auch diesmal wieder sein. Unter dem Eindruck von Katargate wurde der „digitale Fußabdruck“ für alle EU-Abgeordneten beschlossen. Mit ihm soll jedes Treffen von Mandataren mit Lobbyisten oder Unternehmen nachvollziehbar werden. Die Regelung ist jedoch nur eine „unverbindliche Empfehlung“ – also zahnlos. Schon vor der Affäre sei das Image der EU bei den Europäern nicht das beste gewesen, meint Patrick Breyer. Daher sei nun entscheidend, dass auch politische Konsequenzen gezogen würden. Andernfalls „verlieren die Menschen das Vertrauen, dass in der EU-Politik in ihrem Sinn gemacht wird“.