Abschied von Kreuzbergs idyllischem Bergmannkiez: „Die Straße ist nur noch Spekulationsmasse“
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Gekündigt: Stefan Neitzel vor dem Pralinenladen, in dem einst sein Fahrradladen warJordis Antonia Schlösser/Ostkreuz
Die Gentrifizierung frisst ihre Kinder. Der „Bergmannkiez“, wie der Neuberlimer Newspeak so sagt, war schon immer für Normalsterbliche unzugänglich, zumindest seit der Weiße Kreis die Mietpreisbimdumg abgelöst hat. Den Begriff kennse nicht? Wikipedia auch nicht? Sehnse, so lamge ist das her.
Wer sich die schicken Dachgeschoßwohnumgen leisten konnte, war hier gefühlt „seit immer“ willkommen, Geldsack auf Beinen. Für alle anderen gabs nur Seitenflügel, Hinterhaus, niderige Decken, muffige Bausubstanz, Ofenheizung, und auch das nur mit viel Glück und Beziehungen.
Jetzt fällts auch euch das auf. Gewinnerseite war mal. „That’s capitalism“, fandet ihr doch gut. Jetzt kommen die mit richtig Kapital. „Get used to it.“ Ihr habt garantiert jahrelang genau die falsche Partei gewählt. Passt zu euch. Schaut mal auf die aktuellen Ergebnisse.Capisce, die fetten Jahre sind vorbei, jetzt auch für euch.
Wenn jetzt also Yuppies und Dinks über den „Kiez“ rummosern, dann klagen die immer noch auf alpinem Niveau. Dumm jelaufen, war aber absehbar. Notting Hill, schon mal gehört?
Enttäuscht von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft? Normal, in Spandau benehmen die sich auch nicht besser, aber in den Hochhaussiedlungen trifft das Massen von normalen Leuten. Mit denen wird noch übler umgesprungen.
9.10.2024 von Hans Korfmann - Wo einst Platz für alternative Geschäftsideen war, ist heute vor allem Platz für finanzstarke Unternehmen. Wie ist das passiert? Eine Spurensuche in Kreuzberg.
Die Bergmannstraße ist keine groß angelegte Prachtallee, sondern ein Sträßchen, das nur zufällig bekannt wurde. Es gab sie schon, als die Stadtplaner Lenné und Hobrecht Anfang des 19. Jahrhunderts ihre papiernen Pläne über das Ackerland im Süden der Stadt stülpten und es mit Rechtecken aus kleinen Straßen und langen Geraden breiter Alleen versahen. Wenig später flankierten Geschäfte, Werkstätten, Gartenlokale und ein Kino die Pflasterstraße. Aber schon ein Jahrhundert später verfiel Berlins Gründerzeitarchitektur zu Ruinen. Die Stadt wurde zum Mahnmal, das auch 30 Jahre nach Kriegsende noch voller Brachen und durch eine Mauer geteilt war.
Dennoch tauchten in den Siebzigern erste Touristen in der Bergmannstraße auf. Sie kamen der Trödler wegen, die sich, angezogen durch günstige Mieten im Schatten des antiimperialistischen Schutzwalls, angesiedelt hatten, gemeinsam mit einem bunten Volk aus Wehrdienstverweigern, Hippies und Künstlern aller Art. Die richteten in den noch leer stehenden Erdgeschossen Geschäfte, Werkstätten und Kneipen ein. Die Bergmannstraße wurde zur Schaubühne alternativer Lebensentwürfe.
1989 zerbröselte auch der Schutzwall, Immobilienhändler kamen, sahen und siegten. Bis heute wirbt die Branche mit dem „idyllischen Bergmannkiez“, obwohl von der Idylle nicht viel übrig ist. Wo einst Platz für alternative Geschäftsideen war, ist heute nur noch Platz für finanzstarke Unternehmen. „Ein derart hochgezüchteter Immobilienmarkt lässt keinen Raum mehr für Werkstätten“, sagt Sascha Fricke, einer der letzten, der vorne ein Schaufenster und hinten noch eine Werkstatt in der Straße besitzt.
Die abenteuerlichen Gründerjahre Kreuzbergs, als zwischen den Trödlern der erste Indienladen eröffnete, sind vorbei. Den Laden aber gibt es heute noch, ebenso wie Bagage, das Rucksackgeschäft, das Dietmar Kirchhoff, Islamistikstudent, Taxifahrer und Flohmarkthändler, in den Achtzigern eröffnete. „Da ahnte noch niemand, dass eines Tages sogar Manager und Politiker mit Buckeln auf dem Rücken herumlaufen würden.“ Oder Ararat, der Kunstverlag, der einzog, als die Fenster noch mit Sperrholz verbarrikadiert waren. „Nicht mal eine Toilette gab es“, erinnert sich Margot Jankowski, die 1984 den ersten Postkartenständer auf die Bergmannstraße stellte. „Heute hat jeder Klamottenladen einen Kartenständer vor der Tür.“ Und Sascha Fricke vom Rahmengeschäft Weilensee sagt: „Früher eröffneten Leute einen Laden, weil sie eine Idee hatten. Heute, weil sie Geld haben.“
Eine Idee hatte 2014 auch der Senat. Er beschloss, ausgerechnet eine der beliebtesten Straßen der Stadt in eine „Begegnungszone“ umzuwandeln. Neben einer Fahrradtrasse sollten Sitzbänke und Blumenkästen den Autoverkehr blockieren. Die Anwohner protestierten. Jochen Ziegenhals vom Café Atlantic brachte es auf den Punkt: „Wir Gewerbetreibende haben die Straße doch erst zu dem gemacht, was sie heute ist. Und jetzt wollt ihr Politiker euch die auf eure Fahnen heften. Lasst die Straße, wie sie ist! Und wenn ihr den Verkehr beruhigen wollt, dann stellt zwei Polizisten auf. Wenn Ali dann mit seinem Ferrari ein paarmal 150 Euro bezahlt hat, wird er sich eine andere Strecke suchen!“
Die Proteste halfen nichts. Heute rast nicht mehr Ali mit dem Ferrari, heute rasen Radfahrer über die Gerade. So viele Unfälle wie jetzt gab es noch nie. Friedvolle Begegnungen dagegen sind jetzt seltener in der Begegnungszone. Zuletzt lockte die Browse Gallery mit einer Ausstellung berühmter Plattencover in einem leer stehenden Erdgeschoss 2020 noch einmal 20.000 Besucher in die Straße. Auch für das dreitägige Bergmannstraßenfest, das Olaf Dähmlow vom Yorckschlösschen seit den Neunzigern veranstaltete, ist nun kein Platz mehr. Ebenso wenig für das Spaghettiessen, das Jung und Alt alljährlich an einer langen Tafel versammelte. So verliert die Straße ihren Ruf. „Die Bergmannstraße“, sagt Sascha Fricke, „ist nur noch Spekulationsmasse. Da haben auch gut funktionierende Geschäftsmodelle keine Chance mehr.“
Ein wenig Idylle gibt es schon noch in der Bergmannstraße.Markus Wächter/Berliner ZeitungEiner der größten Immobilienbesitzer vor Ort ist die Gewobag, eines der landeseigenen Wohnungsunternehmen. Sie hat gleich mehrere Häuser nebeneinander gekauft und entscheidet, wer bleibt und wer geht. Zweck der 1919 gegründeten Gemeinnützigen Wohnungsbau-AG Groß-Berlin war „die Beschaffung gesunder Wohnungen zu angemessenen Preisen für minderbemittelte Familien und Einzelpersonen“. Auch noch im Jahr 2024 beteuert die Immobilienfirma: „Wir nehmen unseren sozialen Auftrag ernst.“ Und etwas weiter unten im Jahresbericht: „Lebenswerte Wohnungen und Wohngebiete, sozialverträgliche Quartiersentwicklung – dafür steht die Gewobag mit ihrer DNA.“
Tatsächlich hatte das Senatsunternehmen nach der Wende nicht nur die Immobilien, sondern auch die Bevölkerung im Auge. Mitarbeiter der Gewobag wohnten in der Nachbarschaft, Kulturschaffende wurden bevorzugt, ein Buchantiquariat konnte sich niederlassen, heute eines der Highlights der Straße. Der Siegeszug der Gastronomie aber war nicht aufzuhalten, die halbe Bergmannstraße besteht aus Restaurants. „Ich esse auch gern indisch“, sagt Sascha Fricke. „Aber das ist kein Zufall, dass hier nur noch Asia-Restaurants und Caféhausketten eröffnen. Nur da ist die Gewinnmarge noch groß genug, um mit den Mieten mitzuhalten. Da müsste die Politik die Kleinunternehmer in Schutz nehmen.“
Der Berliner Senat sitzt bereits im Aufsichtsrat der Gewobag. Und er tut, so sehen es etliche Anwohner zumindest, zu wenig gegen die Verwahrlosung der Straße. Als die Gewobag 2014 ihr gläsernes Headquarter am Spreebogen bezog, verschwanden die Ansprechpartner aus dem Viertel, der freundliche Umgangston wich moderner Investorensprache. Immer häufiger stand unter den Briefen der Firma: „Dieses Schreiben enthält vertrauliche und rechtlich geschützte Informationen. Das unerlaubte Kopieren sowie die unbefugte Weitergabe dieser E-Mail sind nicht gestattet.“
Einer, der den neuen Ton des Immobilienhändlers zuerst zu hören bekam, war Stefan Neitzel. Der Politologe war passionierter Radfahrer, fuhr mit dem Rad bis nach Spanien, träumte von Fahrradstationen auf Bahnhöfen, veranstaltete die ersten Berliner Sightseeingtouren per Rad und eröffnete in der Bergmannstraße einen Fahrradladen. Nach 20 Jahren kündigte die Gewobag der Fahrradstation wegen eines Zahlungsdefizits von 160 Euro. „Die 20 Jahre waren rum. Das ist System bei denen. Es gibt kaum Gewerbemieter bei der Gewobag, die länger als 20 Jahre bleiben“, behauptet Neitzel. Die zwei oder drei Läden, die länger in der Straße seien, würden fast schon so viel zahlen wie die Restaurantbesitzer auf der Sonnenseite.
Keine groß angelegte Prachtallee, sondern ein Sträßchen, das nur zufällig bekannt wurde – die Bergmannstraße Markus Wächter/Berliner ZeitungNeitzel schrieb, telefonierte, suchte vergeblich das persönliche Gespräch, zog vor Gericht – und verlor. Heute steht da, wo einst ein Mechaniker mit schwarzen Fingern Räder reparierte, eine Schokoladenverkäuferin mit lackierten Fingernägeln. Viel Kundschaft hat der feine Laden nicht. Früher standen die Leute hier Schlange. „Da darf man schon einmal die Frage stellen: Wie soll das weitergehen mit der Bergmannstraße?“, sagt Neitzel und grinst.
Stefan Neitzel war nicht der Letzte, der aufgab. Auch Gunhild Propawka, die aus einem Italienurlaub mit einem Kofferraum voller Schuhe zurückkam und mit ihrem Schuhgeschäft zu einem der Lieblinge in der Straße wurde, ist gegangen. „Ich hatte gerade einen neuen Vertrag unterschrieben, da kam Corona.“ Da Immobilienbesitzer aufgefordert waren, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden und Gewerbemietern entgegenzukommen, bat sie um neue Konditionen, doch eine Antwort blieb aus. Also schrieb sie: „Auch nach mehreren Versuchen ist keiner Ihrer Mitarbeitenden bereit, mit mir ein Gespräch über eine gütliche, für alle Seiten sinnvolle Lösung zu führen. Es sollte doch möglich sein, auch unter Berücksichtigung Ihrer wirtschaftlichen Interessen, eine Einigung zu finden.“ Die Gewobag schrieb, man läge mit einem Angebot von 30 Euro noch unter der Marktmiete und unterbreitete der Ladenbesitzerin die Möglichkeit, sie für „sechs Netto-Kalt-Mieten vorzeitig aus dem Vertrag zu entlassen“.
Der jüngste Leidtragende ist Sascha Fricke vom Bilderrahmengeschäft Weilensee, einem der letzten Relikte des einstigen Künstlerviertels. Er ist so etwas wie der Nachfolger von Schlumms Leistenladen, in dem sich die Künstlerboheme um Kurt Mühlenhaupt in den Sechzigern die Bilder rahmen ließ und in Ermangelung des Kleingeldes noch mit Originalen bezahlte.
Achtzig Prozent des Umsatzes erwirtschaftete Weilensee mit maßgeschneiderten Bilderrahmen. Das Geschäft lief gut, nur die Gewobag machte ihm Sorgen. Eine Mietminderung in Coronazeiten wurde abgelehnt, und als ein Jahr später Wasser durch die Decke tropfte und er Kontakt zur Verwaltung aufzunehmen versuchte, erhielt er keine Antwort. Er fuhr ins Hauptquartier am Spreebogen, wurde aber schon im Foyer abgewiesen: Man dürfe keinen Ansprechpartner vermitteln.
Als Tage später ein Klempner in der Bergmannstraße erschien, „stand die Scheiße im Schacht schon einen halben Meter hoch, es wimmelte von Maden“. Vier Monate lang war ein Teil der Räume nicht mehr nutzbar, doch eine Reduzierung der Miete gewährte die Gewobag nicht.
Ohne viel Hoffnung auf eine Antwort schrieb Fricke letztmals im Juli 2024 wegen des nun auslaufenden Mietvertrages, dass er sich eine weitere Mieterhöhung nicht leisten könne. Wieder blieb eine Antwort aus. Auf ihrer Website schreibt die Gewobag in ihrem Jahresbericht: „Das Feedback zu unserer Erreichbarkeit nehmen wir uns zu Herzen und haben Anfang 2024 die Telefonzeiten unseres Service-Centers angepasst.“
Einen Umsatz von 600 Millionen Euro konnte die Gewobag im vergangenen Jahr verbuchen. Die Firma nennt 74.000 Wohnungen ihr Eigen und möchte bis 2026 noch einmal 12.000 neue Wohnungen bauen oder kaufen. Bleibt da für Kundengespräche, Reparaturen oder sozialverträgliche Mieten kein Geld mehr und keine Zeit?
Anziehungspunkt: die Trödelmarkthändler am Marheinekeplatz Ina Schoenenburg/OstkreuzEnde Juli klebte Sascha Fricke ein DIN-A4-Blatt in die Tür des Rahmengeschäftes: „Wir schließen. Leider läuft unser Mietvertrag in naher Zukunft aus. Einen teureren Anschlussvertrag können wir uns nicht mehr leisten. Die Staffelmiete ist uns schon jetzt zu viel. Wir machen Platz für bessere Renditen.“
So klein der Zettel in der Tür war: Die Linkspartei wurde aufmerksam und fragte bei der Gewobag nach. Mitte August kramte die Immobilienfirma im Textbausteinkasten und schrieb, sie bemühe sich „im Rahmen der Vertragspflege um eine langfristige Etablierung und Bindung der Gewerbetreibenden“. Der Erhalt der Infrastruktur sei ein „wichtiger Bestandteil der Quartiersentwicklung“.
Als Mitte September auch die Berliner Zeitung anfragte, räumte die Gewobag ein, dass Sascha Fricke tatsächlich „keine Rückmeldung zu dem benannten Wasserschaden erhalten hat. Das bedauern wir sehr. Über den entsprechenden Zeitraum des Mangels haben wir Herrn Fricke rückwirkend eine entsprechende Mietminderung gewährt.“
Die Gewobag schrieb dies am Vormittag des 13. September. Sascha Fricke wusste zu diesem Zeitpunkt noch nichts von einer Mietminderung. Auch nichts davon, dass man mit dem „Gewerbemieter im Austausch“ sei. Die Gewobag, hieß es in besagtem Schreiben weiter, lege Wert auf„ein ausgewogenes und bedarfsorientiertes Gewerbeflächen-Angebot. Wir wägen bei den zu vermietenden Gewerbeflächen grundsätzlich sorgfältig ab. Das gilt auch für den Bergmannkiez und für das Geschäft von Herrn Fricke, das wir gern vor Ort gehalten hätten.“
All das erfuhr Herr Fricke erst am Nachmittag des 13. September. Am 14. hielt er die fristlose Kündigung in der Hand.
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