Berlin in Not : Überforderte Sozialämter, Vermüllung und „falsche“ Einwanderer
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Straßenszene aus Neukölln : Vermüllung sieht man fast überall in Berlin. Emmanuele Contini/Berliner Zeitung
Il y a une règle pour les pauvres : ne venez pas à Berlin. Il n’y a rien de prévu pour les gens comme vous. L’état de providence n’est plus qu’un mythe inscrit dans les lois qui font travailler les institutions de l’état. Votre demande urgente d’aide sera traitée en deux ans.
Pourtant les désargentés n’arrêtent pas de venir par centaines chaque semaine. Pour les résidents dépourvus de patrimoine cela signifie qu’ils n’arrivent plus à rien. Tout le monde est stressé. Personne ne s’occupe des choses qui dépassent le besoin immédiat. Les tas de d’ordures atteignent la dimension de petite collines.
C’est comme à Harlem/NYC dans les années 1970 mais en moins convivial.
14.10.2024 von Maritta Adam-Tkalec - Sozialberaterin Kristine Leithold begegnet in ihrem Arbeitsalltag vielen krassen Notfällen. Ein Interview über Willkür auf Ämtern und die sozialen Veränderungen in der Stadt.
Das Leben wird rauer, die Beziehungen der Menschen untereinander verändern sich. Das Gefühl, alles zerbrösele, breitet sich aus. Kristine Leithold, Sozialberaterin, besonders für russische, ukrainische und jüdische Migranten, nimmt in ihrem Alltag beunruhigende Veränderungen wahr: Einst selbstverständliche Dinge, namentlich solche im Sozialwesen, funktionieren nicht mehr wie gewohnt.
Die Ost-Berlinerin mit einem „Sozialarbeiter-Gen“ betreut seit Jahrzehnten Russen, viele Juden aus der früheren Sowjetunion und Ukrainer. In den 1990er-Jahren fanden 220.000 jüdische Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland Aufnahme; dazu kamen 2,4 Millionen sogenannte Spätaussiedler, deutschstämmige Menschen, deren Familien jahrhundertelang im Gebiet der einstigen Sowjetunion gelebt hatten.
„Die meisten Ukrainer sind russischsprachig“
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Frühjahr 2022 kamen mehr als eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge hinzu. Kristine Leithold macht darauf aufmerksam, dass etwa 90 Prozent dieser Menschen russischsprachig sind, weil sie aus den am stärksten vom Krieg betroffenen Gebieten im Osten der Ukraine kommen. „Nur eine Minderheit von ihnen will nicht Russisch sprechen“, sagt sie und erinnert daran, dass Juden schon im Jahr 2015 wütend waren auf die „falsche Einwanderung“ – sie ahnten, was da auf sie zukommen würde. Dagegen herrschte unter den Biodeutschen Blindheit.
Viele der jüdischen Kontingentflüchtlinge seien inzwischen selbstverständlicher Teil der Gesellschaft, akademisch gebildet, hätten sie die deutsche Staatsbürgerschaft, seien wirtschaftlich, politisch sowie kulturell engagiert – aber es gibt wie überall und immer auch die schwierigen Fälle. Mit solchen hat Kristine Leithold zu tun.
Die Sozialberaterin Kristine Leithold arbeitet oft unentgeltlich – wenn Sozialämter nicht zahlen für Leistungen, die aber menschlich unverzichtbar erbracht werden müssen.
Die Sozialberaterin Kristine Leithold arbeitet oft unentgeltlich – wenn Sozialämter nicht zahlen für Leistungen, die aber menschlich unverzichtbar erbracht werden müssen.Benjamin Pritzkuleit/Berliner Zeitung
Frau Leithold, wie sieht Ihr derzeit schwierigster Fall aus?
Das ist eine 95 Jahre alte bettlägerige Frau, eine russische Jüdin, dement, Pflegestufe 5. Sie wird seit drei Jahren von ihrer Schwiegertochter, die extra dafür aus Georgien nach Berlin kam, rund um die Uhr gepflegt. Diese soll abgeschoben werden. Nun muss man dem zuständigen Amt erklären, dass im Fall einer Abschiebung eine hilflose Frau allein zurückbliebe.
Das klingt hart. Ist das eine Ausnahme?
Nein, ich betreue derzeit zwölf derart schwierige Fälle. Und es ist immer schwieriger geworden, mit den zuständigen Ämtern Lösungen für sehr komplexe Problemlagen zu finden: Viele ältere, erfahrene Mitarbeiterinnen sind ausgeschieden, die jüngeren Fachkräfte mit weniger Erfahrung sind in der Tendenz weniger verbindlich. Ich sehe eine neue Gleichgültigkeit. Ganz kompliziert sind Kontaktaufnahme und Kommunikation: Man erreicht praktisch niemanden mehr.
Es gibt keine Öffnungszeiten, keine Ansprechpartner. Ob auf Anfragen reagiert wird, ist Glückssache. Die Nachwirkungen von Corona machen sich hart spürbar, Mitarbeiterinnen sitzen oft im Homeoffice und erklären dann einfach, sie hätten gerade keinen Zugriff auf die Akten. Mit dem Ukrainekrieg und den vielen Flüchtlingen ist alles noch viel komplizierter geworden. Kurz: Es herrscht Überforderung. Dabei haben die Ämter die Pflicht, auf Notsituationen schnell zu reagieren.
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Benjamin Pritzkuleit/Berliner Zeitung
Wie wirkt das auf Ihre Arbeit?
Früher hat man sich als Sozialberaterin selbstverständlich auf das Sozialrecht und vom Berliner Senat festgelegte Normen berufen, zum Beispiel wenn es um die Angemessenheit von Mieten ging, oder auf aktuelle Urteile in dieser Frage. Es gibt zwar immer noch Normen, aber die sind von der Realität der Berliner Mieten weit entfernt. Über Angemessenheit wird zunehmend willkürlich entschieden. So kann es geschehen, dass im selben Amt eine Sachbearbeiterin findet, eine Miete von 540 Euro warm sei für eine alleinstehende Person angemessen, eine andere 900 Euro. Trotz objektiver Vergleichbarkeit. Fragt man nach, heißt es: Glückssache. Das gab es früher nicht. So wird die sogenannte Mietendeckelung als Praxis, die bereits das Landessozialgericht für unzulässig erachtet hat, zur Schikane.
Oder nehmen wir die Ausländerbehörde. Da war auch früher viel los, aber es gab Dolmetscher und Anwälte. Jetzt müssen die Sachbearbeiter ohne diese Hilfe auskommen – das stelle ich mir sehr schwierig vor, zum Beispiel, wenn sie einen sprachunkundigen Abschiebekandidaten vor sich haben.
Allseits beklagt wird die Vermüllung in der Stadt. Sehen Sie einen Zusammenhang mit den gerade beschriebenen Schwächen?
Die exorbitante Vermüllung in Quartieren mit vielen Sozialwohnungen ist überall zu beobachten – ob in Tiergarten, Wedding, Schöneberg. Letztens beobachtete ich in meiner eigenen Wohngegend, wie Arbeiter Sperrmüll wegräumten – allerdings nur in einer der beiden Hofnischen, die immer vollgemüllt werden. Die zweite könnten sie vielleicht beim nächsten Mal räumen, sagten die Arbeiter. Ist das vernünftig?
Zudem hat die Vonovia vor kurzem die Papierkörbe abmontiert, wohl in der Absicht, sich die Leerung zu ersparen. Seither liegen in unseren Durchgangshöfen Verpackungen, Flaschen, Kippen … Im Buddelkasten fand sich kürzlich eine Ratte, oft gibt es dort Glasscherben und Spritzen, sodass die Nutzung für Kinder nicht zumutbar ist.
Woran liegt das? Manche sprechen ja schon von Verslumung …
Sicherlich unter anderem an den Kosten: Wird der Dreck häufiger weggeräumt, müssen das die Mieter zahlen, die Miete steigt – mit allen Konsequenzen. Ich sehe auch eine Ursache in den Problemen mit der sogenannten Einzelfallhilfe, die eingreifen muss, wenn irgendwo in einer Wohnung eine krasse Lage entsteht. Dann stellt man in der Regel einen Antrag ans Amt – ich tat das in einem konkreten Fall im Dezember 2022, der Antrag wurde im Juli 2024 bearbeitet!
Es gibt ewige Verzögerungen, und derweil wird die Situation immer schlimmer. Es gibt ja auch immer mehr Mietnomaden, die einfach keine Miete zahlen, dann verschwinden und Verwahrlosung hinterlassen. Ich kenne einen Fall, da krochen Menschen aus Rumänien in die Müllcontainer und warfen bei der Suche nach Verwertbarem, alles hinaus.
Hindert auch zunehmende Bürokratie daran, Zustände in heiklen Gegenden im erträglichen Bereich zu halten?
Schauen wir auf das seit 2023 geltende neue, durchaus gut gemeinte Teilhabegesetz: Früher dauerte die Bearbeitung der Einzelfallhilfe drei Monate. Mit dem Teilhabegesetz erfolgte ein Riesenaufwuchs an Mitarbeitern, doch die bewilligen nichts zugunsten der Bedürftigen. Es gibt viel mehr Bürokratie und de facto eine verschlechterte Lage.
Wie wirken solche Spannungen in die Gesellschaft hinein?
Ich beobachte in Alltagssituationen zunehmend Stress und Mikroaggression. Überall, aber verstärkt dort, wo Menschen mit der Digitalisierung überfordert sind, wo es keine Ansprechpartner für eine Klärung von Fragen gibt. Schwer haben es vor allem Menschen, die weder Deutsch noch Englisch sprechen. Zum Beispiel sind viele Krankenkassen-Apps nicht durchdacht, kompliziert – aber viele lebenswichtige Dinge sind nur noch per App zu regeln. Und dann die öffentlichen Verkehrsmittel – immer begleitet einen die Frage, wird man pünktlich ankommen? Das macht Stress, die Unsicherheiten wachsen.
Was sagen Ihre Klienten zu der sich ändernden Lage?
Dass es an allen Ecken und Enden bröselt. Die russischsprachigen Kunden beklagen den Verlust von einst hochgeschätzten deutschen Eigenschaften wie Ordnung, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Rechtsstaatlichkeit. Mich bewegt das, weil ich viele ihrer Argumente nicht entkräften kann. Ich möchte, dass Deutschland gut funktioniert. Das ist aber nicht mehr so.
Wie wirkt der russische Krieg gegen die Ukraine auf diese Menschen?
Die Putin-Propaganda läuft über Fernsehen und soziale Medien. Dort wird gelästert über alles, was in Deutschland schlecht läuft – und leider liefert die Realität den Stoff dafür. Menschen, die jahrzehntelang froh waren, nicht in Russland zu sein, viele haben längst die deutsche Staatsbürgerschaft, sagen nun: In Russland ist es jetzt gar nicht so schlecht. Und alle – Russen, Ukrainer und vor allem die Juden – sorgen sich wegen der überwiegend aus muslimischen Ländern nach Deutschland kommenden Zuwanderer. Sie fragen: „Hat man da die ‚richtigen‘ Flüchtlinge ins Land gelassen?“
Was fürchten sie?
Vor allem die jüdischen Zuwanderer fühlen sich nicht mehr sicher. Selbst im bürgerlichen Zehlendorf wagen es Eltern nicht mehr, ihre Kinder auf normale Schulen zu schicken. Unter meinen jüdischen Klienten sind auch Überlebende der deutschen Blockade von Leningrad. Die schicken einander WhatsApp-Schnipsel voller Araberhass. Das ist schwer auszuhalten. Sie unterstützen natürlich Israel.
In Berlin kommt eben vieles zusammen: der harte Alltag und die weltpolitischen Kontroversen. Das kommt sogar an Orten an, wo man es gar nicht vermutet – zum Beispiel in Einrichtungen für betreutes Wohnen. Die Leute vertrauen mir vieles an, ich versuche, beruhigend auf sie zu wirken – aber was sie mir anvertrauen, beunruhigt mich! Ich hatte einmal die Zuversicht, dass sich Probleme lösen lassen – das ist nicht mehr so.
Auch viele, seit langem in Deutschland lebende Bürger der ehemaligen Sowjetunion, halten den sowjetischen Gedenktag am 9. Mai hoch. Im Treptower Park oder in der Schönholzer Heide bekommt man an jenem Tag alljährlich einen Eindruck, wie viele Menschen aus dem Osten hier leben. Nadja WohllebenWas müsste die Politik tun?
Sie müsste sich um wichtige Themen wie hohe Mieten und Energiepreise, niedrige Renten, von Migranten überforderte Kommunen kümmern. Um Krieg und Frieden, Klimawandel, digitale Herausforderungen, Perspektiven und Sicherheit im Leben der einfachen Leute, ihrer Familien, um Kinder und Alte. Politiker sollten dazu beitragen, dass das Leben gestaltbar und lebbar bleibt, dass Ämter, Gerichte, Wirtschaft und Infrastruktur funktionieren, dass Gesundheitsversorgung einschließlich Pflege sowie Bildung bezahlbar und erreichbar bleiben. Stattdessen haben wir eine Politik und Realität, die die Menschen im Alltag an vielen Ecken empfindlich stört und nervt.
Stimmen die Prioritäten nicht?
Den Leuten passen die politischen Weichenstellungen nicht und nicht die Art, wie Politiker den Verärgerten und Betroffenen mangelndes Demokratieverständnis vorwerfen. Reale Probleme werden abgetan und stattdessen werden normative Vorstellungen über Ernährung, Mobilität, Sexualität und Familie verbreitet, die an der Lebensrealität einer Mehrheit vorbeigehen und konservative Menschen zu Trotzreaktionen provozieren.
Freiheit wird nicht mehr in den materiellen Handlungsspielräumen der Einzelnen und der Familien verortet (was oft Geld kosten würde); lieber philosophiert man über Werte und ultimative sexuelle Selbstbestimmung; die Relevanz für die Allgemeinheit ist eher gering. Pflicht ist, die Diskriminierung von Frauen, Kindern, Behinderten, Alten zu überwinden, eher unter Kür fällt das Recht, sein Geschlecht jährlich nach eigenem Gusto zu wechseln.
Zur Person
Kristine Leithold wurde 1963 in Berlin-Friedrichshain geboren, hat dort die Schule besucht und Abitur gemacht. Sie studierte in Potsdam Russisch und Englisch, weil sie „in beide Richtungen gucken“ wollte – auf Shakespeare wie Puschkin .
Die Wende erlebte sie mit 26 Jahren und einer zweijährigen Tochter. Ihre Dissertation konnte sie nicht mehr abschließen, fand weder in der Schule noch der Hochschule Arbeit, wurde freiberufliche Dolmetscherin im sozialen Bereich .
Der Beruf: Die erste Klientel Anfang der 1990er waren russische Juden. Sie gab Start- und Integrationshilfe und Deutschkurse. Ihren ersten festen Job fand sie im Club Dialog, einer 1988 gegründeten Migrantenorganisation, die den Dialog zwischen russischsprechenden und einheimischen Berlinerinnen und Berlinern fördert. Sie ist Mutter zweier Kinder .