Schauplatz einer spektakulären DDR-Flucht in Berlin: Das geschieht mit dem stillen BVG-Tunnel in Mitte
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30.10.2024 von Peter Neumann - 1980 fuhr eine DDR-Familie per Anhalter mit der U8 in den Westen. Für den Neubau des Waisentunnels, den sie nutzte, lässt die BVG die Spree trockenlegen.
Es ist ruhig hier unten. Obwohl der Waisentunnel nicht weit von der stark befahrenen Jannowitzbrücke verläuft, ist kaum ein Laut zu hören. Die Herbstkälte bleibt draußen, die dicken Wände halten die Zimmertemperatur konstant. Doch die Wände und die Decke sind undicht. Deshalb sind die Tage des stillen Tunnels in Berlin-Mitte gezählt. Während eines spektakulären Bauprojekts, das die teilweise Trockenlegung der Spree erfordert, soll die Betonröhre abgerissen und neu gebaut werden. Doch die Kosten steigen immer weiter – und die Kritik dauert an. Zeit für ein Update zu diesem großen U-Bahn-Vorhaben.
Wer von der Jannowitzbrücke aus in Richtung Westen schaut, bekommt eines der schönsten Berliner Stadtpanoramen zu sehen. Die Spree ist hier ziemlich breit, der Schiffsverkehr ist dicht. Vor der Kulisse der Hochhäuser auf der Fischerinsel liegen historische Schiffe. An den Ufern laden baumbestandene Promenaden zum Spazierengehen ein, links wird gerade das Märkische Museum saniert.
Von Anfang an tropfte Wasser in den Waisentunnel in Berlin-Mitte
Nur wenige Fachleute und andere Eingeweihte wissen, dass unter dem Fluss außer der U8 ein weiterer U-Bahn-Tunnel verläuft. Dass der Waisentunnel so wenig bekannt ist, liegt daran, dass dort keine Züge mit Fahrgästen gefahren sind. Doch für den innerbetrieblichen Verkehr der BVG ist die 865 Meter lange Verbindung zwischen der U5 und der U8, die nach der benachbarten Waisenstraße benannt wurde, sehr wichtig. So diente sie dazu, U-Bahnen, die in die Werkstatt müssen, zu überführen.
Am 8. März 1980 war der Waisentunnel Schauplatz einer sehr ungewöhnlichen Flucht aus der DDR. Mitglieder einer Berliner Familie gelangten durch den Tunnel und die anschließende Wehrkammer zur U8. Dieter W., Stellwerksmechaniker bei den Ost-Berliner Verkehrsbetrieben BVB, stellte am Signal 655 die mechanische Fahrsperre auf Halt. Als die U-Bahn kam, hielt er den Zug mit einem roten Lichtsignal an. Per Anhalter reiste W. mit seinen Verwandten nach Kreuzberg in den Westen – auf dem Boden des Führerstands kauernd. In West-Berlin blieb die Flucht geheim, damit der Transit nicht gefährdet wird. Damals unterquerten die U6 und die U8 die DDR-Hauptstadt Berlin.
Schon als der Tunnelrohbau 1914 bis 1917 entstand, fiel die 180 Meter lange Spreequerung durch Leckagen auf, geht aus der Expertise der von der BVG beauftragten Ingenieurbüros ZPP und Amberg Engineering hervor. Als er 1930 endlich in Betrieb genommen wurde, wurde bereits überlegt, ihn gleich wieder abzureißen. Man entschied sich, den Tunnel mit einer Innenschale abzudichten. Doch das Grundproblem blieb. Nach einer Bauwerksprüfung und weiteren Untersuchungen zog die BVG 2018 die Reißleine. Der Waisentunnel bekam die Note 4, ungenügend. Seitdem ist er nicht mehr in Betrieb, beide Wehrtore sind geschlossen. Die letzte Fahrt hatte am 7. Mai 2016 stattgefunden.
U-Bahnen müssen per Tieflader reisen – das kostet fast 7000 Euro pro Wagen
Weil U-Bahn-Wagen nicht mehr auf der Schiene überführt werden können, bleibt nur noch die Straße. 2020 wurden 64 Wagen auf Tiefladern zwischen den Betriebswerkstätten Friedrichsfelde und Britz befördert. Seit 2021 waren es 140, die Kosten betrugen 900.000 Euro – 6700 Euro pro Wagen. Wenn im kommenden Jahr die Lieferung der neuen Fahrzeugserie J beginnt, sei mit einem deutlichen Anstieg dieser Überführungen zu rechnen. Weitere Folge: Technikpersonal aus dem Osten Berlins muss nun im Westen arbeiten. Doch die Arbeitswege nach Britz sind für viele BVGer viel länger.
Ortstermin unter der Spree: Der stille U-Bahn-Tunnel wird endlich saniert
Für die BVG ist klar: Die Wiederinbetriebnahme des Waisentunnels ist „alternativlos“. So steht es in der Vorlage für den BVG-Aufsichtsrat, der 2022 grünes Licht gab. Er habe eine „existenziell wichtige Bedeutung für den gesamten U-Bahn-Betrieb“ und befinde sich in einem „irreparablen Zustand“, heißt es weiter. Der Tunnel müsse abgebrochen und neu errichtet werden. Ihn einfach so liegen zu lassen wäre keine Option. Das Wasser- und Schifffahrtsamt Berlin beklagt sich schon seit Jahren darüber, dass die Tunneldecke an der Spreesohle ein Risikofaktor sei. Der Abbruch sei unumgänglich.
Inzwischen liegt die Planung vor. Danach sollen Abschnitte unter den Ufern saniert werden. Unter der Spree bleibe aber nur die C-Variante, wie die Ingenieure das Konzept nennen: In offenen Baugruben wird das Tunnelbauwerk in zwei Abschnitten abgetragen und neu errichtet – erst im Norden, dann im Süden. Dafür wird der Fluss trockengelegt – für Sehleute, die sich für Verkehrsprojekte interessieren, wird es allerhand zu schauen geben. Schiffsverkehr soll während des gesamten Projekts möglich sein. Denn die BVG verspricht, dass die Spree in allen sechs Bauphasen durchgängig befahrbar bleibt.
Zwar hat die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes das Vorgehen prinzipiell bestätigt, wie der Senat notierte. Trotzdem gab es von dieser Seite Einwände. Alle Gutachten und Planungen würden derzeit noch geprüft, um sie während des laufenden Planfeststellungsverfahrens zu berücksichtigen. Der bisherige Zeitplan, der den Baubeginn auf das zweite Halbjahr 2023 und die Fertigstellung auf das erste Halbjahr 2027 terminierte, lässt sich nicht mehr halten.
Auch die Kostenangaben müssen korrigiert werden. 2021 sprachen die Planer noch von rund 30 Millionen Euro. Als der BVG-Aufsichtsrat vor zwei Jahren das Go gab, war dann schon von 55,5 Millionen Euro die Rede. „Die aktuelle Kostenberechnung geht von Gesamtkosten in Höhe von rund 77 Millionen Euro aus“, sagte Michael Herden, Sprecher von Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU). Das Vorhaben soll durch das Land Berlin gefördert werden. Allerdings soll der Bund angezapft werden: Bis zu 50 Prozent des Geldes soll aus Fördermitteln kommen, die nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz gezahlt werden – Insidern bekannt als GVFG.
Neue Verbindung in Moabit würde 400 bis 450 Millionen Euro kosten
Doch der SPD-Haushaltspolitiker Sven Heinemann bleibt skeptisch. „Können GVFG-Mittel für solch einen reinen Verbindungstunnel überhaupt in Anspruch genommen werden? Und ist es langfristig wirklich sinnvoll gedacht, den Tunnel nur noch eingleisig zu bauen? Die Beantwortung dieser Nachfragen steht noch aus“, sagte der Abgeordnete.
Er bleibe dabei: „Die Summe für einen Tunnel bei dem Untergrund in Mitte mit Spreequerung ist meines Erachtens zu niedrig angesetzt“, bekräftigte Heinemann. „Zudem wurden die Alternativen nicht ausreichend geprüft, insbesondere der Transport auf dem Schienenweg mit neuem Abzweig über das Netz der Neukölln-Mittenwalder-Eisenbahn (NME) zur Betriebswerkstatt Britz. Oder wäre es möglich, entsprechende Werkstattkapazitäten im Bereich der U5 zu schaffen? Und was würde eine Verbindung von der U5 zur U9 im Bereich Turmstraße kosten?“
Dafür würden 400 bis 450 Millionen Euro fällig, entgegnen die von der BVG beauftragten Ingenieure. Zudem würde es mindestens bis 2035 dauern, bis die heute von hinter dem Hauptbahnhof endende U5 weiter nach Moabit hinein verlängert ist. Was die NME anbelangt: Diese Verbindung sei noch nicht vertieft untersucht worden, sagen Experten. „Diese Variante ist weder in Bezug auf das Planungs- und Genehmigungsverfahren noch auf den Umsetzungszeitraum und die zu erwartenden Kosten vorteilhaft“, heißt es. Anders formuliert: zu kompliziert und zu kostspielig.
Aber wann kann das Projekt Waisentunnel denn nun beginnen? Dazu schweigen sich die offiziellen Stellen aus. Ende der 2020er-Jahre könnte der neue Tunnel in Betrieb gehen, schätzt man im Senat. „Der Zeitplan hängt maßgeblich vom Planfeststellungsverfahren ab“, sagt BVG-Sprecher Nils Kremmin. „Das Verfahren läuft, alle Unterlagen wurden eingereicht. Sobald der Beschluss da ist, könnten wir rund sieben Monate später mit dem Bau beginnen. Die Baufachleute rechnen mit einer Bauzeit von rund vier Jahren.“ Anfangs waren es drei. Doch zumindest diese Vorhersage hat sich lange nicht geändert.