Demo am 4. November 1989 am Alex : „Es sprachen Schauspieler, Schriftsteller, Leute von der SED“
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Rund eine Million Menschen nahmen am 4. November 1989 an einer Großdemonstration teil .
La manifestation du 4 novembre 1989 par un million de citoyens de la RDA fut l’événement le plus important de l’histoire de l’état socialiste allemand. Le peuple revendiqua une transformation démocratique de son état et de sa société.
Tous les événement suivants ne furent que les vomissements et la gueule de bois suite à l’intoxication par des substances nocives. Les toubibs capitalistes ne furent que trop contents de pouvoir appliquer leurs remèdes de cheval au patient affaibli par les poisons soigneusement administrées pendant des années. La cure réussit, le patient mourut. Depuis les vautours ne cessent de se disputer sa dépouille.
3.11.2024 von Wiebke Hollersen - Heute kaum mehr vorstellbar: Kurz vor Mauerfall sprachen auf einer Demo Bürgerrechtler neben Stasi-Funktionären. Ein Tag, an dem die Ostdeutschen Geschichte schrieben. Unsere Autorin war dabei.
Dies ist ein Zeitzeugenbericht zum 4. November 1989 von Wiebke Hollersen. Lesen Sie auch das Stück von Maritta Tkalec.
An der Dorfkirche hing ein kleines Plakat, fast zu übersehen. Fotos aus der Zeit des Mauerfalls kündigte es an. Von den Demos aus dieser Zeit. Es war eine schöne Kirche in Menz, nicht weit von Rheinsberg, ich hatte sie mir nur von außen ansehen wollen, aber jetzt zog es mich hinein.
Die Demos von 89. Es ist eine Zeit, an die ich mich erinnere wie an einen Traum. Einzelne Szenen und Bilder kleben in meinem Kopf, aber die Zusammenhänge sind verschwommen, und ich kann mir nur noch schwer vorstellen, diese Zeit wirklich erlebt zu haben.
Einen Tag wie den 4. November 1989. Wenn ich dieses Datum höre, spüre ich etwas, was ich schwer beschreiben kann. Es ist kein Tag, der so berühmt geworden ist wie der 9. November. Aber in meinem damaligen Jahr war er fast bedeutsamer.
4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz: Tage, die die Welt veränderten
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Plötzlich konnte man widersprechen
Am 4. November 1989 gab es „die größte nicht staatlich gelenkte Demonstration in der Geschichte der DDR“. So steht es auf Wikipedia. Sie soll auch „Alexanderplatz-Demonstration“ geheißen haben, steht da, aber diesen Namen habe ich noch nie gehört.
Ohne in einem Geschichtsbuch nachzuschlagen, könnte ich nicht mehr sagen, wer die Demonstration organisiert hat (die Initiative ging von Schauspielern und anderen Theaterleuten aus) und wer alles geredet hat (mehr als zwanzig Menschen, darunter Ulrich Mühe, Gregor Gysi, Günter Schabowski, Christa Wolf).
Schriftstellerin Christa Wolf während der Protestkundgebung am Alexanderplatz. Gueffroy/imagoEs war meine erste echte Demo. Ich war 14 Jahre alt und meine Mutter hatte mir tatsächlich erlaubt, hinzugehen. Sie hatte mir sogar einen Zettel mitgeben, für die Schule, in der ich an diesem Tag morgens um acht erscheinen musste. „Meine Tochter nimmt nicht am Unterricht teil.“ So etwas in der Art stand auf dem Zettel. Ich besuchte eine Russischschule in Prenzlauer Berg, in der man nicht einfach so fehlen durfte, schon gar nicht, um an einer Kundgebung teilzunehmen, die sich gegen den Staat richtete.
Aber es war der Herbst 1989, und unser junger Klassenlehrer war froh, dass nicht die halbe Klasse in den Sommerferien über Ungarn in den Westen abgehauen war. Außerdem hatte er sich nach den Demonstrationen, die es gerade erst, im Oktober, in Berlin gegeben hatte und die von Volkspolizei und Stasi brutal beendet worden waren, um Kopf und Kragen geredet. Es habe keine Gewalt gegeben, hatte er uns erzählt, oder erzählen müssen. Aber wir kannten Leute, die Leute kannten, die dabei gewesen waren. Wir hatten ihm widersprochen. Das ging auf einmal.
Beginn des Marsches am westlichen Ende des S-Bahnhofs Alexanderplatz. Ralf Roletschek Viele Demonstranten tragen Transparente Rolf Zöllner/imago Die Sicherheitskräfte halten sich zurück und beobachten vom Rand her. Rolf Zöllner/imago Forderungen der Demonstranten im Zentrum Berlins rbb Demonstranten sammeln sich am Pressecafe Rolf Zöllner/imago Rund eine Million Demonstranten versammeln sich auf dem Alexanderplatzdpa Protestdemonstration, gegen Gewalt und für verfassungsmäßige Rechte, Presse-, Meinungs- und VersammlungsfreiheitRolf Zöllner/imago Der Protestzug zieht am Palast der Republik vorbei Michael Richter/dpa Teilnehmer der Demonstration Rolf Zöllner/imago
Die Bürgerrechtskämpferin Bärbel Bohley spricht auf der KundgebungJens Kalaene/dpa Protestdemonstration, gegen Gewalt und für verfassungsmäßige Rechte, Rolf Zöllner/imago Oppositionsgruppen und Künstler hatten die Veranstaltung organisiert. dpaDie Angst war verschwunden
Und für Sonnabend, den 4. November, an dem wir wie an jedem Sonnabend vier Stunden Unterricht gehabt hätten, konnte man auf einmal einen Entschuldigungszettel vorlegen. Und dann zur Demo gehen. Ohne weitere Ermahnung, ohne Appell, ohne Reinreden der Lehrer. Nur drei oder vier Kinder aus meiner Klasse kamen ohne Zettel in die Schule und mussten zum Unterricht. Wir anderen liefen die Greifswalder runter, Richtung Alex. Ich weiß nicht mehr genau, wer „wir“ waren. Ich glaube, meine Freundin Julia, deren Großväter beide evangelische Pfarrer waren und deren Eltern sich dem Staat weitgehend verweigerten, war mit dabei. Meine Eltern waren nicht in der Kirche, sondern hatten an den Staat geglaubt und waren dann zynisch geworden. In den letzten Jahren hatte meine Mutter mich immer häufiger ermahnt, in der Schule dieses oder jenes nicht zu sagen, um mir meine Chancen in diesem „Scheißstaat“, wie sie ihn inzwischen oft nannte, nicht zu verbauen. Aber selbst diese Angst war bei ihr und mir schon verschwunden.
Vollkommen friedlich: Schätzungen zufolge nahmen eine Million Menschen an der Demonstration am 4. November 1989 teilIch hatte die Straßen von Berlin noch nie so voll gesehen wie am 4. November 1989. Ich hatte noch nie so viele handgemalte Schilder und beschriebene Bettlaken gesehen. Dann verschwimmt der Traum, ich weiß nicht mehr, was wahr ist. Schaffte ich es wirklich, bis in die Nähe der Weltzeituhr zu gelangen? Unter einer halben Million, vielleicht einer Million Menschen? Hörte ich über die Lautsprecher etwas von den Reden? Oder habe ich das alles später im Fernsehen und in Dokumentationen gesehen?
Irgendwann fingen die Dokus an, mich zu langweilen. Sie erzählten vom Wendeherbst immer nur wie vom Vorspiel zu den wirklich großen Ereignissen. Dem Mauerfall, der Wiedervereinigung. Den Ereignissen, bei denen die Westdeutschen ins Spiel kamen und die Kontrolle übernahmen.
Im Herbst 2024 betrete ich die Kirche von Menz, um Bilder von den Demonstrationen aus dem Herbst 1989 zu sehen. Sie hängen an Stellwänden, jeweils sechs Schwarz-Weiß-Fotografien neben- und untereinander. Sie sind von Jürgen Graetz, einem Fotografen, der den Alltag in der DDR dokumentiert, aber viele seine Bilder erst lange nach dem Mauerfall veröffentlicht hat. Er stammt aus Neuglobsow am Stechlinsee, lebte aber eine Zeitlang in Ost-Berlin und hatte Kontakte in die Fotografenszene der ganzen Stadt.
Ich bin allein in der Kirche. Auf einem Foto von Jürgen Graetz sind zwei Männer zu sehen, sie stehen sehr gerade, einer trägt eine Baskenmütze und eine Schärpe um den Oberkörper wie eine Miss World. Auf der Schärpe steht „Keine Gewalt“. Der andere Mann hält ein Transparent, auf dem in Schreibschrift steht: „Neue Worte, alte Macht, na dann – gute Nacht“. Ein Plakat auf dem Anorak eines Kindes fordert: „Wir wollen Astrid Lindgren lesen!“ Eine Hand hält ein großes Blatt oder eine Pappe mit nur zwei Worten: „Räumt auf“. Auf einigen Bildern fällt ein wenig Schnee, sie müssen später im Herbst aufgenommen worden sein.
Die Menschen sehen stolz aus, aufrecht, überhaupt nicht so, wie sie später und manchmal bis heute beschrieben werden. Man sieht, wie kreativ sie waren, wie viele Wünsche in ihnen steckten, wie viele Ideen. Und man sieht, wie ernst sie das alles nahmen.
So sahen wir also damals aus, denke ich. Es war also doch wahr. Ich denke auch: Das ist doch alles 100 Jahre her und nicht erst 35. So vollkommen anders, so weit weg erscheint mir diese Zeit.
Schauspieler Ulrich Mühe (links) und Johanna Schall (rechts) sprechen auf der Abschlusskundgebung. CC-BY-SA 3.0 deBürgerrechtler haben am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz geredet. Schauspieler, Schriftstellerinnen. Und Männer von der SED. Sogar der Auslandschef der Staatssicherheit. Das klingt im Nachhinein wie der komplette Wahnsinn. Diesen Leuten noch eine Bühne zu geben. Aber es war eine Zeit des Übergangs zwischen zwei Systemen, wie es sie nur ein einziges Mal in der deutschen Geschichte gab. Menschen, die politisch, ideologisch, gesellschaftlich so weit von einander entfernt waren, wie es auf ein- und derselben Bühne eigentlich überhaupt nicht möglich ist, sprachen nacheinander. Die Staatsvertreter wurden ausgebuht, sonst blieb alles vollkommen friedlich.
Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin an diesem Tag vor 35 Jahren. Ich erinnere mich an ein Gefühl von Aufbruch, Erwachsenwerden und Glück. Der 4. November 1989, nahm ich an, würde in die Geschichte eingehen. Sechs Tage lang dachte ich das. Dann wachte ich auf, am Freitag, und in der Nacht war die Mauer gefallen.
Finissage der Ausstellung von Jürgen Graetz mit den Bildern aus dem Herbst 1989: 9. November, 14 Uhr, Dorfkirche Menz, Kirchstraße 1, 16775 Stechlin. Dort stellt außerdem Andreas Domke sein Programm „Frei Land“ mit Liedern und Texten aus den Jahren 1989 und 1990 vor.
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