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  • Listeningbars: Wie hippe Berliner und unbequeme Designermöbel mir den Spaß am Musikhören nehmen
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    1.12.2024 von Johann Voigt - Niemand hört mehr richtig zu, Musik verschwimmt zum Hintergrundrauschen. Berliner Listeningbars wollen das ändern – aber das Publikum kann anstrengend sein.

    Irre Stimmen dringen aus den Klipsch-Cornwall-Lautsprechern in den Raum hinein. Die Betonwände sind unverputzt, karg und grau. Sperrige Holzstühle stehen vor sperrigen Holztischen und alle Menschen im Raum haben ihren Blick ernst auf die Musikanlage gerichtet. Es wirkt wie ein Ritual. Der Raum sieht aber auch ein wenig so aus, als hätte Marie Kondō hier aufgeräumt und ein skandinavischer Interieur-Designer seine Finger im Spiel gehabt. Was ist das für eine Welt?

    Die beiden Lautsprecher kosten so viel wie ein Gebrauchtwagen und sind in einem Holzregal drapiert, darunter stehen Platten und Bücher. Die Lautsprecher sind das Herz der Migas Listeningbar in Wedding – und das Herz hat gerade angefangen zu schlagen.

    Ich sitze also an einem Donnerstagabend mit ein paar Freunden im überfüllten Migas. Gerade redeten hier noch alle wild durcheinander, tranken Wein, aßen Käse. Es ging darum, wer wen kennt, um Business, aber kaum um Musik. Dann ein letztes Husten und Räuspern, ein letztes Gläserklirren, es wird still. Und dann diese Stimmen, die in kurzen Intervallen erklingen. Sie sind Teil eines Stücks der amerikanischen Experimentalmusikerin und Akkordeonspielerin Pauline Oliveros.

    Das Migas in der Nähe des S-Bahnhofs Wedding gibt es seit knapp einem Jahr. Ziel ist, dass Menschen sich wieder mehr Zeit nehmen für Musik. Eine Erfahrung des intensiven Zuhörens. Ausgewählte Musik läuft über eine besonders gute und besonders teure Anlagen. Das kann von einem Album der Metalband Black Sabbath oder der Soulsängerin Erykah Badu bis zu Bach-Violinkonzerten alles sein. Oft führt ein Kenner durch den Abend. Wer Teil dieser Erfahrung sein will, muss schweigen – und sich im besten Fall noch ein kleines Bier für fünf Euro kaufen.

    Musik funktionierte nur noch als Fast Food

    Genau das, was ich brauche, dachte ich, und meine Freunde dachten das auch. Wir alle haben lange als Musikjournalisten gearbeitet oder selber Musik produziert, tauschen uns immer noch jede Woche über neue Releases aus. Aber die Art des Musikhörens hat sich verändert. Als Vinyl ein Revival erfuhr, machte ich mit, kaufte mir mit 16 Jahren einen Plattenspieler und gab extrem viel Geld für Platten aus. Ich saß stundenlang alleine oder mit Freunden im Zimmer und hörte zu. Mittlerweile ist der Plattenspieler verstaubt.

    Ich erwische mich jeden Freitag dabei, wie ich bei Spotify durch Hunderte Songs doomscrolle. Ich höre ein paar Sekunden hin, klicke weiter, favorisiere einige Songs, sammle sie in Playlisten, höre mir diese Playlisten nie wieder an. Die Zeit, aber vor allem die Konzentration, um ein Album von vorne bis hinten zu hören, habe ich selten. Das macht mich traurig.

    Ist Musik, frage ich mich, wirklich nur noch ein Hintergrundrauschen? Nur noch ein funktionaler Stimmungsaufheller in Clubs? Ein Mittel für soziales Erleben bei Konzerten? Haben wir es verlernt, Musik zu hören, ohne dabei etwas anderes zu tun?

    Ich erinnere mich an eine transzendentale Erfahrung. Wir lagen auf dem Teppich in meinem WG-Zimmer, das neue Album „Faith in Strangers“ des Musikers Andy Stott lief auf Platte durch. Wir hatten unsere Augen geschlossen, lagen da wie gelähmt, niemand sagte ein Wort. Es gab ein Gefühl der Verbundenheit durch das bloße Zuhören. Nichts anderes als diese Erfahrung erwarte ich mir jetzt auch in der Migas Listeningbar.

    Überhaupt, Listeningbars, eigentlich ein Konzept, das im Japan der 50er Jahre populär war. Sie etablieren sich gerade in Berlin. Als ein weiterer Versuch, ein kollektives Innehalten in einer hektischen, lauten Stadt zu provozieren. Eine Art Achtsamkeitsübung. Yoga, Meditation, Listeningbar. 2017 eröffnete das Rhinocéros in Prenzlauer Berg, wenig später das Neiro in Mitte und das Unkompress in Neukölln. Natürlich waren London und New York noch etwas früher dran als Berlin. Und jetzt wird auch im Migas zugehört.

    Hier ist es karg und kühl, denke ich, kurz bevor ein Mann in schwarzem Rollkragenpullover hinter die Plattenspieler tritt und das erste Stück von Pauline Oliveros anspielt. Es gibt keine Teppiche, keine Sessel, nur diese unbequemen Holzstühle. Die Menschen, die hier sitzen, sprechen überwiegend Englisch, legen viel Wert auf Kleidung, sehen nicht so aus wie die Nerds bei nischigen Experimentalmusik-Konzerten. Es herrscht eine angespannte Stimmung. Eine Frau zeichnet geistesabwesend auf einem Tablet.

    „Wir könnten auch in New York Bushwick sein“, sagt ein Freund. Wer die Codes nicht kennt und bedienen kann, fällt hier auf, denke ich, und mir kommt „Die feinen Unterschiede“ von Pierre Bourdieu in den Sinn. Je nach sozialem Status haben Menschen ihren eigenen Habitus. Geschmack ist nichts Angeborenes, weder bei Mode noch bei Musik.

    Gut aussehen ist wichtiger als zuhören

    Und hier im Migas, da geht es an diesem Abend sehr viel um Geschmack und Status. Um eine angestrengte Selbstpräsentation einer urbanen Boheme, die sich teure Kleidung leisten kann. Ich bekomme das Gefühl, dass viele hier gar nicht gekommen sind, um wirklich zuzuhören. Sondern nur, um später sagen zu können, dass sie da gewesen waren. Ich glaube nicht, dass Pauline Oliveros das gefallen hätte. „Deep Listening, intensives Zuhören, war für sie eine Form des Aktivismus“, erklärt der Mann hinter dem Plattenspieler zwischen zwei Stücken. Heute im Migas ist Deep Listening vor allem eine Form der Selbstdarstellung.

    Zwei Songs vor Schluss verschwinden wir enttäuscht aus dem Migas und gehen in die Kneipe Magendoktor um die Ecke. Hier ist die Musik scheiße, das Bier kostet weniger als die Hälfte, und ein buntes Potpourri an Menschen schreit durcheinander. Geschmäcker aller Klassen treffen aufeinander.

    „Die Musik war gut, aber der Ort war klaustrophobisch und hat einem das Gefühl gegeben, hier nicht hinzugehören“, sagt einer meiner Freunde. Dann erwähnt er einen Bekannten, der eine Woche zuvor im Migas war. Es lief „OK Computer“ von Radiohead, und er war so ergriffen, dass er eine Google-Bewertung schrieb:

    „Gestern Abend im Migas eine intensive Erfahrung gemacht. (…) Es wurde mein absolutes Lieblingsalbum ‚OK Computer‘ von Radiohead gespielt. Und ich habe es seit seiner Veröffentlichung Tausende Male gehört. Und dennoch war es für mich wie ein erstes Mal. So intensiv war diese Erfahrung. So tief gingen die 12 Arrangements in die Ohren bis hin zur Seele. Es war wie eine Zeitreise ins Jahr 1997 und ich musste weinen und hatte fast eine Stunde lang eine gehörige Gänsehaut. Es war einfach beeindruckend und unvergesslich.“

    Das ist sie, die transzendentale Erfahrung. Ich habe so sehr auf die anderen Gäste geachtet, dass ich sie verpasst habe. Ich werde den Plattenspieler anschließen, Deep Listening trainieren und wiederkommen.

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