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Agent d’ingérence étrangère : Alle die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein. Jan und Hein und Klaas und Pit, die haben Bärte, die haben Bärte. Jan und Hein und Klaas und Pit, die haben Bärte, die fahren mit.

  • Vom Niedergang des Westens zur Feindschaft mit Russland
    https://multipolar-magazin.de/artikel/niedergang-des-westens

    Quelques réflexions à propos de la disparition de la culture politique européenne et de son remplacement par l’idéologie états-unienne. L’article ne s’intéresse pas directement à l’exceptionnalisme américain et l’idéologoe du « manifest destiny » parce qu’il décrit la perspective européenne. Il est cependant utile de garder ces idées en tête pour se faire une idée de la signification des phénomènes décrits dans l’article.

    27.3.2025 von Hauke Ritz - Deutschland besaß zur Zeit des Mauerfalls kein öffentliches Bewusstsein von der Gestaltbarkeit der Welt. Ganz anders die USA, deren Hegemonie seither ausgebaut wurde und hierzulande als naturgegeben akzeptiert wird. Europäische Werte wie Diplomatie und Verständigung, die aus der eigenen kriegerischen Geschichte erwuchsen, gerieten unter die Räder. Hauke Ritz zeichnet in seinem aktuellen Buch den Niedergang des Westens – mit Deutschland an zentraler Stelle – nach. Er spricht von einem „kolonialisierten Bewusstsein der Europäer“ und einer „fast kindlichen Unreife“ der US-Außenpolitik. Multipolar veröffentlicht Auszüge .

    Liest man heute die verschiedenen Wahl- und Grundsatzprogramme der CDU, SPD, FDP und Grünen, die zwischen 1990 und 1994 – also in den ersten Jahren nach dem Epochenbruch von 1989 – verfasst wurden, so fällt einem als Erstes die nach Innen gerichtete Perspektive auf. Alle deutschen Parteien dieser Periode betreiben im Grunde Nabelschau. Ihre Wahlprogramme und Grundsatzpapiere sind zu über 90 bis 95 Prozent der Innenpolitik gewidmet. Es geht um Umweltschutz, Sozialstaat, Emanzipation der Frau, Vereinbarkeit von Beruf und Familie und viele ähnliche Themen. Im SPD-Wahlprogramm des Jahres 1990 kommen die Wörter Sowjetunion beziehungsweise Russland nicht einmal vor, stattdessen finden sich formelhafte Bekenntnisse zur transatlantischen Partnerschaft. Lediglich die Grünen fallen etwas aus dem Rahmen, insofern sich bei ihnen vereinzelt ein Problembewusstsein bezüglich des Fortbestands der NATO finden lässt. Sie sprechen von einer Überwindung der Blockordnung und beziehen damit die absolut gegenteilige Position zu ihrem heutigen Kurs. Doch letztlich ging es auch bei den Grünen vorrangig um Innenpolitik.

    Die Dominanz der Innenpolitik in allen Wahlprogrammen zeugt von einer Gesellschaft, die die Verantwortung über die Weltordnung an eine andere Macht abgetreten hat. Da helfen auch ein paar idealistische Bekundungen zum Kampf gegen den Hunger in der Welt nicht, solange solche Äußerungen ohne Kenntnis und Thematisierung der globalen ökonomischen Strukturen abgegeben werden. Deutschland besaß zur Zeit des Mauerfalls kein öffentliches Bewusstsein von der Gestaltbarkeit der Welt. Die damals existierende Weltordnung wurde als etwas an sich Gegebenes wahrgenommen und wie eine natürliche Ordnung verstanden. Dass diese Weltordnung von der damals dominanten Supermacht USA gestaltet worden war und daher auch anders geformt werden könnte, wurde in der Öffentlichkeit ausgeblendet. Dies waren denkbar schlechte Voraussetzungen, um der Sternstunde der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert – dem Fall der Berliner Mauer – mit einer eigenen Willensbekundung zu begegnen.

    Ganz anders in den USA. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, begriff man dort sehr schnell, dass mit dem Wegfall des geopolitischen Konkurrenten sich eine einmalige Möglichkeit für eine amerikanische Expansion bot. Dies löste an amerikanischen Universitäten Euphorie, aber auch hitzige Diskussionen aus. Bald schon tauchte der Begriff einer unipolaren Welt auf. Die Welt des Kalten Krieges besaß eine bipolare Struktur. In ihr musste die internationale Ordnung stets mühsam ausgehandelt werden. In den amerikanischen Diskussionen begann nun der Gedanke Gestalt anzunehmen, die Welt nach dem Kalten Krieg könne eine unipolare Struktur annehmen. Darin wiederum war eine Vielzahl an Implikationen beschlossen, die fast jeden Bereich der modernen Zivilisation berührten und die schnell von einzelnen Wissenschaftlern ausbuchstabiert wurden.

    Was während des Mauerfalls als Diskussionen an Universitäten begonnen hatte, war sehr folgenreich. Es begann mit rein akademischen Debatten, in denen man verschiedene Begriffe zur Beschreibung einer noch unerhört wirkenden Vision bemühte. Man sprach abwechselnd vom „Ende der Geschichte“, von einer „neuen Weltordnung“, von einem „unipolaren Moment“, schließlich vom „neuen amerikanischen Jahrhundert“. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gewann man allmählich Sicherheit, trat zunehmend forsch und auch gut organisiert auf. Nach und nach trat das Ideal einer unipolaren Weltordnung in den Vordergrund, verdrängte alternative Konzepte und wurde zum strategischen Ziel der US-amerikanischen Außenpolitik.

    Die Europäer haben anfänglich gar nicht verstanden, dass die USA den Weg hin zu einer unipolaren Weltordnung eingeschlagen hatten. Sie machten sich nicht klar, was dies letztendlich beinhaltete. Nämlich, dass es fortan nur noch ein einziges modernes Zivilisationsmodell geben würde. Und dass dieses über wirtschaftliche, militärische oder ideologische Abhängigkeit und Verflechtungen für alle übrigen Kulturen der Welt Verbindlichkeit erlangen sollte. Das bedeutete zwar nicht, dass gänzlich andere Kulturen wie die chinesische und die indische sofort ihre Charakteristika verloren hätten. Aber es bedeutete schon, dass eine liberale internationale Kultur amerikanischer Prägung die globalen Entwicklungen so tief greifend prägen würde, dass die übrigen lediglich regional verankerten Kulturen die Möglichkeit verlieren würden, selbst eine Interpretation der modernen Welt zu entwickeln. Die USA strebten danach, über eine Kombination aus wirtschaftlicher, technologischer, kultureller und ideologischer Macht eine Weltordnung vorzugeben, deren strukturelle Macht letztlich eine Verwestlichung der gesamten Welt einleiten würde.

    Die unipolare Weltordnung beruhte somit auf einem unglaublich ehrgeizig gedachten Machtanspruch, dessen negative Konsequenzen entweder hingenommen oder nicht mitgedacht wurden. Die Architekten und Planer einer unipolaren Welt glaubten, dass es den USA sowohl als Staat als auch als Kultur vorbehalten sei, im Alleingang darüber zu befinden, in welche Richtung sich die moderne Welt im 21. Jahrhundert entwickeln sollte. Vor dem Hintergrund ihrer Geschichte hätten die Europäer einem solchen Machtanspruch niemals zustimmen können. Denn durch diesen werden einzelne Kulturen vor die Wahl zwischen massiver Schwächung oder Selbstbehauptung gestellt ; eine fatale Alternative, die schon einmal im Europa des 17. Jahrhunderts zahlreiche Bürgerkriege in Gang gesetzt hatte. Zur Vermeidung der Wiederholung derartiger Konflikte waren seinerzeit die Grundsätze des Westfälischen Friedens aufgerichtet worden, die bis heute das Fundament des Völkerrechts bilden.

    Doch die Europäer blieben hinsichtlich der Grundprinzipien der neuen Ära erstaunlich unbewusst. Sie merkten nicht einmal, dass alle strategischen Grundsatzentscheidungen der 1990er- und 2000er Jahre ohne sie vollzogen wurden. Die Europäer waren nicht beteiligt bei der Ausgestaltung der Globalisierung, bei der Wahl der ihr zugrunde liegenden Wirtschaftsphilosophie, bei der Architektur des modernen Finanzmarktes. (1) Die Europäer waren auch nicht beteiligt an der Entwicklung neuer Technologien, etwa des Internets. Sie entwickelten infolgedessen auch keine internetbasierten digitalen Konzerne, hatten keine Stimme bei der Frage, ob diese Konzerne eine Monopolstellung erwerben dürften und waren daher auch nicht in der Lage, europäische Werte im Bereich der Datensicherheit und Privatsphäre mit diesen neuen Technologien zu versöhnen. All diese Entwicklungen nahmen die Europäer wie Naturphänomene wahr, ohne die gestaltende amerikanische Macht dahinter zu erkennen, geschweige denn öffentlich zu thematisieren. (...)
    Das europäische Weltordnungskonzept

    Europa hatte das Völkerrecht auf der Grundlage seiner eigenen politischen Erfahrung geformt. Und diese war davon geprägt, dass seit dem Niedergang des Römischen Reiches Europa in mehrere Staaten und Einflusszonen zerfiel und nie wieder zu einer politischen Einheit zurückgefunden hatte. Seit über 1500 Jahren ist der Kontinent politisch zersplittert, was unter anderem auch an den geographischen Grenzen Europas, wie zum Beispiel den Alpen, den Pyrenäen, den Karpaten, dem Ärmelkanal oder der Ostsee liegt, die auf natürliche Weise verschiedene Völker und Sprachräume voneinander trennen. Doch obwohl ein neues Römisches Reich nicht mehr erstand, hat es doch eine Struktur hinterlassen, durch die die kulturelle Einheit des Kontinents trotz politischer Zersplitterung erhalten blieb.

    Dies lag vor allem am Wirken der Kirche, die nach dem Untergang des Römischen Reiches die Einheit Europas zumindest im religiösen und kulturellen Bereich aufrechterhalten konnte. Entscheidend hierbei war die Erhaltung und Weitergabe des antiken Wissens in den frühen Klöstern der Kirche, durch die ein einheitlicher europäischer Bildungskanon geschaffen wurde, auf dessen Grundlage dann mit dem Anbruch der Renaissance eine enorme Entfaltung und Differenzierung der europäischen Kultur stattfand, die nun, durch die gemeinsame christliche Prägung, über politische Grenzen hinweg sich vollzog. So konnte die Philosophie des Humanismus zusammen mit den Künsten die kulturelle Einheit Europas aufrechterhalten, als der Kontinent im Streit der Konfessionen zerrissen wurde. Später war es die Philosophie der Aufklärung und die wachsende Bedeutung der Literatur und Musik, die abermals über politische Grenzen hinweg eine ähnliche Rolle spielten. Vom 17. über das 18. und 19. Jahrhundert zeigte sich Europa immer mehr als ein einheitlicher kultureller Resonanzraum, in dem es zwar unterschiedliche nationale Kulturen gab, die aber über identische Formen und Merkmale verfügten und sich gegenseitig beeinflussten.

    Indem Europa seine politische Zersplitterung durch kulturelle Verbundenheit kompensieren konnte, bildete es eine Ausnahme unter den meisten übrigen Zivilisationen der Welt. Denn weit häufiger geschah es, dass sich eine politische Zentralmacht etablierte, die dann wie in der arabischen Welt in der Gestalt eines Kalifats, oder wie in China oder den USA mittels des Militärs und des Rechts einen umfassenden einheitlichen Machtbereich schuf. Dass dies in Europa nicht geschehen ist, zwang den Kontinent dazu, seine diplomatischen Fähigkeiten früh und umfassend zu entwickeln. Da in einem politisch zersplitterten Kontinent stets der Krieg ausbrechen konnte, musste der Diplomatie, der Verständigung, der Reflexion auf die Interessen des anderen, seiner Perspektive und Sichtweise eine entsprechend hohe Bedeutung beigemessen werden. In Europa bildete sich als Folge ein Völkerrecht aus, in dem die Reflexion auf die Verschiedenartigkeit des anderen Landes von vornherein mitberücksichtigt wurde. An die Stelle der manichäischen Sichtweise, die auf dem Gegensatz von Gut und Böse beruht, trat eine Sichtweise, die der Gegenseite das Recht zur Andersartigkeit zugestand. Damit vollbrachte Europa eine Zivilisationsleistung, hinter die es selbst zwar periodisch immer wieder zurückfiel, die aber bis heute von höchster Aktualität ist und der gerade in der anbrechenden multipolaren Welt eine enorme Bedeutung zukommt.

    Erstmals kodifiziert wurde dieser zivilisatorische Fortschritt im Westfälischen Frieden von 1648, durch den der 30-jährige Krieg beendet werden konnte, was später zur Grundlage des Völkerrechts wurde. Denn das aus dem Westfälischen Frieden hervorgegangene Völkerrecht basiert auf der Vorstellung, dass alle Staaten unabhängig von ihrer Größe und Macht gleichwertige Subjekte des Völkerrechts seien. Ihnen allen wurde daher Souveränität zugesprochen, auch wenn ihre Macht, diese zu verwirklichen, ganz unterschiedlich war. Mit anderen Worten : Das aus dem Westfälischen Frieden hervorgegangene Völkerrecht bindet die Starken zugunsten der Schwachen, es erkennt die Souveränität Frankreichs und Großbritanniens genauso an wie die Dänemarks. Es beruht auf dem Gedanken, dass die großen Staaten sich durch die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen eine freiwillige Selbstbeschränkung auferlegen. Es versteht, dass dieser Geist der Selbstbeschränkung eine Voraussetzung für die Geltung zivilisatorischer Standards ist, die nur allzu leicht wegbrechen können, wenn der freien Konkurrenz Raum gegeben wird.

    In einer nach westfälischen Grundsätzen geordneten Staatenwelt sind alle Staaten, auch die kleinen, vor einer Einmischung anderer Mächte in ihre inneren Angelegenheiten geschützt. Im Gegenzug mussten diese Staaten im westfälischen System ihre Außenpolitik ebenfalls auf dem Respekt vor der Souveränität anderer Staaten begründen und von einer Einmischung in deren innere Angelegenheiten absehen. Ein auf den Grundsätzen des Westfälischen Friedens aufgebautes Völkerrecht garantiert sozusagen den verschiedenen Staaten das Recht, verschieden sein zu dürfen. Garantiert wird dieses Recht durch die bewusste Aufrechterhaltung eines Machtgleichgewichts zwischen den Staaten. Sollte ein Staat diese Grundsätze wiederholt missachten, konnten aufgrund der Prinzipien des Westfälischen Friedens Gegenkoalitionen entstehen, die diesen Missbrauch wiederum eindämmen würden.

    Durch Geltung dieser Grundsätze war es quasi ausgeschlossen, dass Wertgegensätze in der Außenpolitik eine allzu große Rolle spielen. Es kam zu einer Trennung zwischen einer wertorientierten Innen- und einer nur noch interessengeleiteten Außenpolitik. Dies war die Lehre, die Europa aus dem 30-jährigen Krieg gezogen hatte, einem Krieg, der gerade durch die Einmischung äußerer Mächte 30 Jahre gedauert hatte und selbst dann nicht endete, als die meisten Kriegsparteien längst erschöpft waren. Dieser Krieg hatte die destruktive Wirkung von Werten in der Außenpolitik offengelegt. Die Ausklammerung von Werten aus der Außenpolitik sollte in Zukunft die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und damit weltanschauliche Kriege wie den 30-jährigen Krieg unmöglich machen.

    Indem Europa aus den Erfahrungen des Krieges gelernt hatte, entwickelte es eine Außenpolitik, die auf die Erhaltung des Friedens zielte. Dass dies in der praktischen Anwendung nicht immer gelang, ist zwar richtig. Doch kann auch dieses periodisch wiederkehrende Scheitern die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass mit den Grundsätzen des Westfälischen Friedens ein erster Schritt unternommen wurde, die zerstörerische Wirkung einer rein subjektiven Macht zu brechen. Indem die Staaten gezwungen werden, in einem Mächtegleichgewicht zu existieren, werden sie zur Reflexion auf den anderen Staat und dessen Interessen gezwungen.

    Solange die USA im 20. Jahrhundert lediglich als informelles Imperium auftraten, so lange waren die amerikanischen Verbündeten in Europa formell souverän. Praktisch war zwar auch damals bereits der amerikanische Einfluss insbesondere auf die deutsche Politik erdrückend. Doch gab es zumindest noch Restbestände von Souveränität, insbesondere in der deutschen Wirtschaftspolitik. Solange dies der Fall war, strukturierten das Völkerrecht und damit auch die Grundsätze des Westfälischen Friedens die Beziehungen innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft. Die USA mussten in ihrer Europapolitik einerseits auf die formale Souveränität ihrer Verbündeten Rücksicht nehmen und andererseits in einem Machtgleichgewicht handeln.

    Die amerikanischen Neokonservativen wandten sich in den 1990er Jahren gegen das westfälische Modell, weil sich nur so ihr Ideal einer Konsolidierung der eigenen Gesellschaft und letztlich auch der ihrer Verbündeten unter einem dominanten Narrativ durchsetzen ließ. Sie registrierten, dass die moderne Konsumgesellschaft im Gegensatz zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr die gleiche Identifikation mit dem Gemeinwesen und eine daraus resultierende Opferbereitschaft hervorbrachte. Um dem abzuhelfen, zogen sie die Schaffung einer mythischen Weltsicht in Erwägung, die die Gesellschaft auf den Kampf zwischen Gut und Böse einschwören und mit dem Hass auf das vermeintlich Böse auch wieder die Liebe und Identifikation mit dem eigenen Land erzeugen würde. Werte sollten daher in der Außenpolitik wieder eine Rolle spielen und fortan als Türöffner für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten dienen. Um eine solche Einmischung zu begründen, sollte die Verantwortung zum Schutz (Responsibilty to Protect) zu einem Pfeiler des Völkerrechts werden. Der Westfälische Frieden, der eine solche Einmischung aus guten Gründen untersagte, wurden von den Neokonservativen als „Westfailure“ (2) verhöhnt.

    Dass damit auch all die destabilisierenden Elemente in die Politik zurückkehren würden, die im 17. Jahrhundert den 30-jährigen Krieg und andere Bürgerkriege ausgelöst hatten, interessierte die Neokonservativen nicht. Denn ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Welt und dem Frieden war ihnen unbekannt. Verantwortungsbewusstsein kannten sie nur gegenüber den USA, von deren Erhabenheit und Glorie sie träumten, wobei sie dabei hauptsächlich an ihre eigene privilegierte Klasse dachten und nicht unbedingt an die arbeitende Bevölkerung. Sie wollten mit den Werten der Demokratie sprichwörtlich einen Dschihad führen. Ihnen ging es vor allem darum, sich erneut wie die ersten Entdecker und Siedler zu fühlen, die in die Wildnis vordrangen und eine unklare Grenze nach Westen verschoben. Hinter der äußerst blutigen und aggressiven Außenpolitik stand eine fast kindliche Unreife. (...)
    Die kurze Phase des europäischen Widerstands

    Die Schattenseite des alleinigen amerikanischen Supermachtstatus wurde für die Europäer erst nach der Jahrtausendwende allmählich sichtbar. Im Zuge des Terroranschlags vom 11. September 2001, der im Einsturz des World Trade Centers kulminierte, begannen die USA nun offen als Imperium mit globalen Ansprüchen aufzutreten. Noch während des Kalten Krieges hatten sie sich ganz anders verhalten. Obwohl sie auch damals schon über ausländische Militärbasen verfügten, sich in die Innenpolitik zahlreicher Länder einmischten und ihre eigene Währung als Weltwährung etabliert hatten, stritten sie stets ab, ein Imperium zu sein und hielten nach außen den Anschein aufrecht, die Souveränität ihrer Verbündeten zu achten.

    Doch nach dem 11. September begann man in Washington Bündnistreue zu fordern, die Souveränität der Verbündeten wurden nun immer direkter beschnitten. Präsident W. Bush verkündete eine Woche nach den Anschlägen in seiner Rede an die Nation : „Jede Nation in jeder Region hat eine Entscheidung zu fällen. Ihr seid entweder mit uns oder mit den Terroristen.“ (3) In der Folge etablierten die USA eine Präventivkriegsdoktrin, die Angriffskriege der USA ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates legitimierte. An die Stelle der vom UN-Sicherheitsrat gewährleisteten Legitimität sollte nun das Recht der USA treten, Länder anzugreifen, von denen sie sich aus welchen Gründen auch immer bedroht fühlten. Dies bedeutete, dass die USA in Zukunft relativ willkürlich und ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats handeln konnten.

    Zum ersten Mal war diese Doktrin im zweiten Jugoslawienkrieg 1999 angewendet worden. Nun, im Jahr 2003, sollte diese Doktrin erneut angewendet werden und so allmählich zum Gewohnheitsrecht werden. Der ebenfalls schon ohne UN-Mandat durchgeführte Jugoslawienkrieg war von den Europäern noch als Ausnahme gezählt worden, dem Afghanistankrieg hatte man unter dem Schock der Ereignisse vom 11. September 2001 zugestimmt. Doch beim Irakkrieg wurde den Europäern allmählich bewusst, wohin die USA die Welt führten, nämlich in eine Zukunft, in der die Prinzipien des Westfälischen Friedens nicht länger gelten würden. Erst jetzt schien man in Berlin und Paris die Konsequenzen zu begreifen. Es kam von europäischer Seite zu einer kurzen Phase des Widerstands. Diese manifestierte sich im gemeinsamen „Nein“ des damaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac, des deutschen Kanzlers Gerhard Schröder und des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die Europäer setzten sich dafür ein, dass die Präventivschlagsdoktrin der USA nicht die Vereinten Nationen ersetzten würde.

    Doch letztlich blieb diese kurze Allianz zwischen Paris, Berlin und Moskau von einzelnen Politikern und konkreten Umständen abhängig. Sie konnte nicht in eine dauerhafte Weltsicht und einen etablierten Konsens übersetzt werden, weshalb es auch nicht zur Institutionalisierung dieser Ideen kam. Dies war auch schon alleine deshalb außerordentlich schwierig, weil die USA auch damals bereits über eine kulturelle und mediale Hegemonie in Europa verfügten und somit eine autonome europäische Selbstverständigung schon in der Frühphase stören konnten. Nach dieser kurzen Phase des eher spontan entstandenen Widerstands folgte dann mit Angela Merkel auf deutscher Seite und Nicolas Sarkozy und François Hollande auf französischer die Phase der Akzeptanz und Unterstützung des Konzepts einer unipolaren Weltordnung, die als „internationale regelbasierte Ordnung“ bezeichnet wurde.

    Warum trugen die Europäer die ehrgeizigen Pläne Washington mit ? Warum haben sie sich nicht nachhaltiger gewehrt und auch versucht, gegen amerikanische Widerstände eine Debatte über diese außenpolitischen Planungen durchzusetzen? Wäre es nicht gerade der wesentlich älteren europäischen Zivilisation zugekommen, die Amerikaner vor der Unvermeidlichkeit des Krieges zu warnen, der in ihrer Machtprojektion beschlossen lag ? Doch die europäische Politik bezog sich vor allem auf die Innenpolitik und besaß kaum ein Bewusstsein von der Möglichkeit eines eigenständigen europäischen Wegs.

    Darüber hinaus war in Europa eine Generation von Politikern an die Macht gekommen, die erstmals ohne große Weltanschauungen aufgewachsen war. Das Zerbrechen des Sozialismus löste auch die Abwicklung der Sozialdemokratie aus. Und Kommunismus, Nationalismus, Katholizismus und Konservativismus hatten schon in den Jahrzehnten zuvor eine fundamentale Kritik erfahren. Das Vakuum wurde durch neoliberale Sichtweisen und letztlich durch die Legitimierung von Egoismus in Bezug auf das eigene Fortkommen ersetzt. Infolgedessen kam eine Klasse an Politikern an die Macht, die sich nur noch für ihre eigene Karriere, aber nicht mehr für den Gang der Geschichte verantwortlich fühlte. Die Weltordnungskonzepte den Amerikanern zu überlassen, erwies sich nun als rationales Kalkül. (…)
    Abgleisung der Europäischen Union

    Im Jahr 2005 erschien Jeremy Rifkins Buch „The European Dream : How Europe’s Vision of the Future Is Quietly Eclipsing the American Dream“ (Der europäische Traum – Wie Europas Zukunftsvision den amerikanischen Traum leise in den Schatten stellt). In diesem Buch hebt der Autor deutlich hervor, dass, gemessen an den äußeren Daten, Europa weit besser zur globalen Supermacht geeignet wäre als die USA. Es hätte ein fortschrittlicheres Verständnis von Diplomatie, eine größere Wirtschaftsleistung, ein besseres Ausbildungsniveau und so weiter. Was der Autor allerdings übersah, war, dass der Europäischen Union eine wichtige Komponente für Selbstständigkeit und Souveränität fehlte. Und dies war ein Bewusstsein ihrer selbst.

    Europa war im 19. Jahrhundert das unangefochtene Zentrum von Wirtschaft, Technik, Fortschritt und Wissenschaft. Allerdings war es in Nationalstaaten unterteilt, von denen einige Imperien aufbauten, was wiederum Konflikte zwischen ihnen hervorrief, die letztlich das Jahrhundert der europäischen Kriege auslösten. Europa war mit dem Paradox konfrontiert, dass es gerade seine wirtschaftliche, technische und wissenschaftliche Überlegenheit war, die den Kontinent zwischen 1914 und 1945 zweimal hintereinander fast zerstörte. Hinzu kam, dass der Zweite Weltkrieg insbesondere für Deutschland eine moralische Niederlage darstellte und das Land mit dem eigenen Bösen konfrontierte. Deutschland, das noch wenige Jahrzehnte zuvor für seine Kultur und Zivilisation geachtet wurde, hatte die bis dahin größte Barbarei der Menschheitsgeschichte ins Werk gesetzt. Die weitreichende Zerstörung in Verbindung mit einer nicht nur militärischen, sondern auch moralischen Niederlage hat das Land nachhaltig traumatisiert. Aufgrund der führenden Rolle Deutschlands in der Europäischen Union übertrug es diese Haltung auf weitere Teile Europas. Das Resultat ist eine massive Unsicherheit Europas sich selbst gegenüber.

    Die Anwesenheit der Amerikaner nach 1945 bot hier einen leichten Ausweg. Anfangs war es die offensichtliche Niederlage, die die Deutschen zum Verzicht auf Souveränität zwang. Doch mit der Zeit wurden auch die Vorteile spürbar. Indem man seine Souveränität nach Übersee übertrug, übertrug man auch die Verantwortung und damit das Risiko, erneut schuldig zu werden. Insbesondere für die Westdeutschen stellte die amerikanische Hegemonie eine psychologische Garantie dafür dar. Die Erinnerung an die einstige Souveränität der einzelnen europäischen Staaten und das Mächtegleichgewicht, das sie untereinander bildeten, wurde mit den Erinnerungen an die Weltkriege verkoppelt und auf diese Weise als etwas Negatives bewertet, zu dem man nicht zurückkehren wollte. Angesichts der Scham und des Schmerzes über die Schuld am Zweiten Weltkrieg konnte man auf einer unbewussten Ebene fast Dankbarkeit für die verlorene Souveränität empfinden.

    Da Deutschland und mit ihm viele andere europäische Staaten vor allem in Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik ihre Souveränität nach Washington übertragen hatten, verfügten die USA über die Freiheit, nach Belieben in europäische Belange eingreifen zu können. Während europäische Geheimdienste darauf achteten, dass weder Russland noch die Türkei oder der Iran Einflussnetzwerke in Europa installierten, drückte man bei den Amerikanern alle Augen zu. Ihnen war es erlaubt, zum Beispiel in Deutschland eine Atlantikbrücke zu betreiben, die Vertreter in allen Parteien ihre eigenen nannte und so auf den politischen Ausleseprozess in gleich mehreren Parteien Einfluss nehmen konnte.

    Auch die Fähigkeit der USA, medial in Europa Einfluss auszuüben, wurde von den Europäern nie unterbunden. Und so waren die USA in der Lage, das Streben der jungen Europäischen Union nach Souveränität abzugleisen. Hätte die Europäische Union ihr Versprechen von Frieden und Demokratie wirklich wahr machen wollen, so wäre es unumgänglich gewesen, die Union zunächst zu vertiefen, ihr im ersten Schritt Merkmale von Staatlichkeit zu verleihen, ehe man sie erweiterte. Doch die USA setzten sich in Politik und Medien für eine schnelle Erweiterung der Europäischen Union ein. Einmal um zwölf Staaten erweitert, war sichergestellt, dass jeder weiteren Diskussion über eine Vertiefung und damit verbundene Aneignung von Souveränität kein Erfolg beschieden sein konnte.

    Dies wurde den Europäern schmerzhaft bewusst, als sie sich in Paris, Berlin und Moskau im Jahre 2003 gerade zum gemeinsamen „Nein“ zum Irakkrieg durchgerungen hatten. Davon nicht sonderlich irritiert, erklärte Donald Rumsfeld, es gäbe jetzt ein „New“ und ein „Old Europe“. Die neu aufgenommenen Staaten Osteuropas seien das „New Europe“, dessen Außenpolitik sich in Zukunft eng an die Washingtons anlehnen würde. Damit war jeder Versuch verunmöglicht worden, eine eigene europäische Außenpolitik der EU zu definieren. Durch die schnelle Erweiterung, die an einen vorangegangenen NATO-Beitritt gekoppelt war, (4) waren die Europäer in eine transatlantische Falle getappt. Von nun an stand von vornherein fest, dass jede Initiative hin zu einer eigenständigen europäischen Außenpolitik von Polen, den baltischen Staaten sowie weiteren osteuropäischen Staaten wie Tschechien oder Rumänien verhindert werden würde. Die einzige Möglichkeit für die EU, als Ganzes einen außenpolitischen Konsens herzustellen, bestand darin, diesen zusammen mit den USA zu formulieren. Und das bedeutete, dass die EU ihr Friedensversprechen verraten und fortan bereit sein musste, die Funktion des amerikanischen Brückenkopfes in Eurasien zu spielen. Konkret bedeutete dies, dass die EU als Basis für eine zukünftige Destabilisierung Russlands dienen würde.

    Auch Versuche, den Euro in Konkurrenz zum Dollar als Weltwährung zu etablieren, scheiterten am konstanten Einfluss der USA auf die innereuropäischen Belange. Griechische Schulden, die mit Hilfe der amerikanischen Bank Goldman Sachs im griechischen Schattenhaushalt versteckt worden waren, lösten 2010 die bislang größte Währungskrise in der Europäischen Union aus. Die Sparpolitik, die daraufhin unter Führung von Angela Merkel den Staaten der Europäischen Union auferlegt wurden, stellte sicher, dass der Euro nicht mit dem Dollar konkurrieren konnte und bremste zudem das Wirtschaftswachstum für viele Jahre. War in den 2000er Jahren das Bruttosozialprodukt der EU noch etwas größer als das der USA, drehte sich dieses Verhältnis als Folge der Austeritätspolitik drastisch um. Nichts fiel der neokonservativen Fraktion in Washington so leicht, wie Europa als Konkurrenten auszuschalten. Denn Europa, das noch immer von den Traumata zweier Weltkriege belastet war, fürchtete sich auf einer unbewussten Ebene vor Souveränität und Selbstständigkeit und half daher den Amerikanern bei der eigenen Eindämmung. (…)

    Die deutsche Ausgabe von Brzezińskis berühmtem Buch „The Grand Chessboard“ („Die einzige Weltmacht“) enthält ein Vorwort von Hans-Dietrich Genscher. Genscher bemüht sich darin, Brzezińskis Deutung der Geographie europäisch zu interpretieren und entgegen der inhärenten Logik des Textes als Aufforderung zur Zusammenarbeit zu begreifen. Doch diese Deutung kommt einer Selbsttäuschung gleich, insofern der Text diese Interpretation einfach nicht stützt. Hier war eindeutig der Wunsch Vater des Gedankens. Und dieser Wunsch durchzieht die gesamte europäische Politik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Europäer haben sich ein Amerika gewünscht, das bei Lichte betrachtet nicht existiert. Wie in einer Missbrauchsbeziehung haben sie die Fehltritte Amerikas entschuldigt und auf Besserung gehofft. Und so haben sie selbst dort nicht den amerikanischen Analysen widersprochen, wo diese wie im Fall Brzezińskis dramatisch hinter den Wissens- und Erfahrungshorizont der Europäer zurückfielen. (…)
    Deutschland mit zwei Identitäten

    (…) Egon Bahr, der Architekt der deutschen Ostpolitik unter Willy Brandt, [war] in den Umbruchsjahren eigens nach Moskau gereist, um die Russen davor zu warnen, zu naive Zugeständnisse zu machen und stattdessen eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur unabhängig von der NATO zu erarbeiten. (5) Er prognostizierte richtig, dass eine Aufrechterhaltung der NATO in einen neuen Kalten Krieg einmünden würde. Auch ließ sich Deutschland in den Amtszeiten Kohls und Schröders auf eine enge wirtschaftliche Kooperation ein, die beiden Seiten nützte. Hinzu traten Initiativen wie das Deutsch-Russische Forum oder der Petersburger Dialog, die den Willen der deutschen Gesellschaft nach Aussöhnung und dauerhafter Freundschaft zum Ausdruck brachten. Doch diesen positiven Ansätzen, die ihren Höhepunkt in der Amtszeit Gerhard Schröders fanden, standen auch negative gegenüber. Deutschland beteiligte sich an der Zerschlagung Jugoslawiens und übte in den 1990er Jahren zusammen mit den USA Druck auf Russland aus, wenn es darum ging, Moskau zum Verzicht auf eigene außenpolitische Positionen zu bewegen.

    Denn Deutschland besaß in all diesen Jahren zwei Identitäten, es begriff sich sowohl als europäisches als auch als westliches Land. Als europäisches Land strebte es die Aussöhnung mit Russland an und wollte die Lehren aus zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg ziehen; als Vertreter des Westens wirkte es daran mit, Russland aus Europa auszuschließen und die Gräben der Weltkriege und des Kalten Krieges erneut aufzureißen. Und so schwankte es beständig zwischen Kooperation und einer Übernahme des amerikanischen Siegestaumels.

    Mit dem Amtsantritt Merkels begann die letztere Haltung allmählich zu überwiegen. Nun beteiligte sich die deutsche Presse auch immer stärker an dem von den USA ausgehenden Informationskrieg gegen Russland. Damit wurde etwas möglich, was all die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland unmöglich erschien. Je feindseliger die deutsche Presse über Russland schrieb, desto leicht kamen im Berliner Konkurrenzkampf Politiker in führende Positionen, die heimlich von aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Revanchegelüsten gegenüber Russland getrieben waren. Immer größer wurde so der Kreis an deutschen Politikern, die alle Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg arrogant beiseiteschoben und aktiv auf eine Zerstörung der deutsch-russischen Beziehungen hinarbeiteten. Die politischen Grundsätze der Entspannungspolitik Brandts, Schmidts, Kohls und Schröders wurde in wenigen Jahren aufgelöst und dem Vergessen überantwortet. (…)
    Hegemonie über die moderne Welt

    Solange Russland als der östliche Teil Europas seine Souveränität nach ihrem kurzfristigen Verlust in den 1990er Jahren allmählich zurückgewann und sich der Schwächung der europäischen Identität widersetzte, so lange bestand für ganz Europa die Möglichkeit eines Vergleichs und damit auch einer Umkehr. Zwar war es den USA gelungen, während des Kalten Krieges die in der Neuzeit entstandene europäische Weltkultur neu zu interpretieren und in ein machtvolles Instrument ihrer eigenen globalen Einflussnahme zu verwandeln. Doch war ihre Hegemonie über die europäische Kultur nicht lückenlos. Solange Russland über Souveränität verfügte und sich unabhängig von den USA in der Welt und in der Geschichte orientieren konnte, so lange bestand auch für das übrige Europa die Chance, seine eigene Position zu erkennen und sich seiner eigenen Identität und Geschichte zu erinnern.

    Denn die amerikanische Interpretation der europäischen Kultur war nur unter der Bedingung wirklich stark und dominant, dass sie die einzige Interpretation der europäischen Kultur war. Sobald die Möglichkeit eines Vergleichs bestand, wurde sofort der synthetische Charakter der postmodernen Werte sichtbar. Kein Mensch, der die Schönheit und das Kulturniveau einer voll entwickelten bürgerlichen Kultur gesehen hat, könnte sich danach noch für die in lauter Lifestylegruppen zersplitterten postmodernen Gesellschaften erwärmen. Gerade weil die amerikanische Interpretation der europäischen Kultur letztlich auf einer manipulativen Umwertung ihrer tragenden Prinzipien beruhte, konnte sie den Vergleich mit dem Original nicht standhalten. Die bloße Tatsache, dass sich Russland der postmodernen Umwertung der europäischen Kultur nicht anschloss, stellte somit für die USA eine Bedrohung dar.

    Zugleich ging eine solche Bedrohung für die USA nicht von China, Indien oder dem Iran aus, die zwar den amerikanischen Supermachtstatus geographisch, militärisch und wirtschaftlich herausforderten, die auch in ihrer jeweiligen Region die amerikanischen Interessen durchkreuzen konnten, die aber als außereuropäische Mächte keine Möglichkeit besaßen, auf die Interpretation der europäischen Kultur selbst einzuwirken. Im „hermeneutischen Weltbürgerkrieg“ (6) besaßen China, Indien und Iran nur eine regionale, aber keine globale Stimme. So wie für Europäer die Kulturunterschiede zwischen China und Japan kaum wahrnehmbar sind, so schwierig ist es für Chinesen, die USA und Europa voneinander zu unterscheiden oder die Moderne von der Postmoderne zu trennen. Nur wer Teil eines Kulturkreises ist, kann dessen kulturelle Quellen erfühlen, kann dessen Entwicklungsrichtung beurteilen und kann die eigentliche Kultur von ihrer ideologischen Verformung trennen.

    Weil in der gesamten europäischen Welt heute nur noch Russland über Souveränität verfügt, kommt in der heutigen Welt diese Rolle nur Russland zu. Würde die Russische Föderation ihre Souveränität verlieren, so könnte die westliche Welt zwar immer noch wirtschaftlich und militärisch herausgefordert werden. Aber die dauerhaft amerikanische Hegemonie über die bestehende Weltkultur wäre dann wahrscheinlich kaum noch umzukehren. Diese Sonderrolle Russlands in der heutigen geopolitischen Auseinandersetzung erklärt, warum sich die USA von ihrer Gegnerschaft gegenüber Russland nie haben lösen können, warum sie bis zum heutigen Tag mehr Ressourcen für die Eindämmung Russlands ausgeben als für die Chinas, obgleich China der eigentliche wirtschaftliche Herausforderer der USA ist.

    Dieser Widerspruch wird aber schnell verständlich, wenn man versteht, dass in der heutigen Welt Macht zu einem ganz erheblichen Maße eine geistige und kulturpolitische Dimension angenommen hat. Haben sich die Weltmächte im 19. und 20. Jahrhundert noch vorrangig um die Kontrolle geographischer Räume und die dort gelagerten Rohstoffe gestritten, so ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ein neuer Faktor hinzugetreten. Der neue geographische Raum, der nun im 21. Jahrhundert die Aufmerksamkeit aller militärischen Strategen verlangt, liegt im Bereich der Kultur und den kulturformenden Institutionen, also den Medien, den Universitäten, der Wissenschaft. Haben sich die Strategen des 19. Jahrhunderts um die Kontrolle von Meeresengen und Gegenküsten gestritten, so streiten sich die Strategen des 21. Jahrhunderts um die Frage, wer die Massenformation des Weltbewusstseins kontrolliert. Weil aber dieses Weltbewusstsein in den vergangenen 500 Jahren im ganz erheblichen Maße von Europa geformt worden ist, kann nun auch seine weitere Prägung kurzfristig nur von einer größeren Macht ausgehen, die in Europa beheimatet oder zumindest wie die USA von Europäern besiedelt worden ist. Langfristig wäre es zwar durchaus vorstellbar, dass auch China, Indien und Iran ihre eigenständige Interpretation der modernen Welt entwickeln und über diese globalen kulturpolitischen Einfluss gewinnen. Doch kurzfristig steht nur einer europäischen Macht und den USA diese Möglichkeit offen. (…)
    Der Westen – Eine Anomalie der Geschichte

    Allmählich stellte sich auf diese Weise ein kolonialisiertes Bewusstsein der Europäer her. Über die Jahrzehnte wurde dieser psychologische Einfluss der USA auf die Europäer zur Hauptsäule ihrer politischen Macht in Europa und war bald wichtiger als der direkte militärische und wirtschaftliche Einfluss. Die Tradition Europas, Frieden durch Herstellung eines Machtgleichgewichts zu suchen, wurde durch das amerikanische Denken in Feindbildern und das amerikanische Streben nach nackter Gewalt überschrieben. Von Krise zu Krise wurde es für die Europäer immer schwieriger, sich überhaupt noch als eigenständiges Subjekt wahrzunehmen und über die eigene Geschichte sowie daraus abgeleitete Interessen nachzudenken.

    Spätestens seitdem die USA mit Unterstützung der EU und Deutschlands 2014 einen Staatsstreich in der ukrainischen Hauptstadt Kiew durchführten, befindet sich der gesamte europäische Kontinent in einem Zustand der hypnotischen Starre. Dass die Ukrainepolitik allem widerspricht, wofür sowohl das Projekt der europäischen Einigung als auch die deutsche Außenpolitik seit 1949 eigentlich gestanden haben, konnte fortan nicht mehr öffentlich artikuliert werden. Fast die gesamte politische Klasse sowie alle maßgeblichen Institutionen reagieren fortan nur noch auf Signalwörter und bewegen sich reflexionslos in Richtung Krieg.

    Dieser den Europäern auferlegte Zustand einer unbewussten Orientierungslosigkeit schloss selbstverständlich aus, dass ein selbstbewusster Akteur wie Russland, der seine Geschichte kannte und über eine eigenständige Orientierung in der Welt verfügte, sich an den innerwestlichen Diskussionen beteiligt hätte. Russland besaß das Potenzial, die Europäer an das zu erinnern, was sie verloren hatten, insbesondere dann, wenn es zu gemeinsamen Strategiedebatten kommen sollte. Russland musste deshalb aus amerikanischer Sicht möglichst aus Europa herausgehalten werden, ja auch als Gesprächspartner möglichst isoliert werden. Denn bereits die Gespräche zwischen europäischen und russischen Diplomaten stellten für den amerikanischen Einfluss eine Gefahr dar.

    Russland hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Gestalt des Sozialismus ein eigenständiges Zivilisationsmodell entwickelt und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Status einer Supermacht eingenommen. Auch im 19. Jahrhundert war Russland neben Frankreich, Deutschland und Italien eine der prägenden Kulturnationen Europas gewesen, mit maßgeblichen Beiträgen im Bereich der Literatur, Musik und Philosophie. Vor dem Hintergrund dieser Vergangenheit betrachtete Russland die Verwestlichung Europas mit ganz anderen Augen. Russland war zwar in den 1990er-, 2000er- und 2010er Jahren bereit, eine Allianz mit dem Westen einzugehen. Und die Angebote Moskaus, Russland könne selbst der NATO beitreten (7) und immer engere wirtschaftliche Verflechtungen mit der EU eingehen, ja sogar akzeptieren, dass „irgendwann in der Zukunft Brüssel unsere gemeinsame Hauptstadt ist“, (8) waren durchaus ernst gemeint.

    Doch war von Anfang an klar, dass mit dem Eintritt Russlands sich die westliche Welt selbst hätte fundamental ändern müssen. Mit dem russischen Staat hätte ein Akteur am Tisch Platz genommen, der die Prozesse der kulturellen Transformation nicht wie die Politiker Deutschlands, Italiens und Frankreichs als natürliche Prozesse hinnahm und akzeptierte, sondern jemand, der sie aus eigener machtpolitischer Erfahrung kannte und entsprechend auch zur Diskussion gestellt hätte. Russland wäre deshalb nur in den Westen integrierbar gewesen, wenn die bis dahin verdeckt ausgeübte kulturpolitische Macht der USA zu einem gemeinsamen politischen Inhalt der gesamten Allianz geworden wäre, was wiederum Diskussionsprozesse angestoßen hätte, die zu einer veränderten Bewertung und damit auch Politik hätten führen müssen.

    Dies wiederum bedeutet, dass Russland nur in den Westen integrierbar gewesen wäre, wenn die USA Europa in die Unabhängigkeit entlassen hätten. Damit aber wären die USA nicht länger das administrative Zentrum des Westens gewesen. In gewisser Weise hätte dies die Auflösung beziehungsweise Neuschöpfung des Westens bedeutet. Statt einer unipolaren Struktur, deren Zentrum in den USA lag, wäre eine tripolare Struktur mit drei Zentren entstanden, deren Mitte allerdings Europa gebildet hätte. Mit diesem neuen Europa hätten sich sowohl Russland als auch die USA nur auf dem Weg einer partnerschaftlichen Beziehung verbinden können. Der Westen hätte sich in den größeren europäischen Kulturraum transformieren müssen, um Russland zu integrieren. In diesem größeren europäischen Kulturraum, der dann wirklich von Vancouver bis Wladiwostok gereicht und aus drei unabhängigen Zentren bestanden hätte, hätten die USA dann gleichberechtigte Beziehungen zur EU und zu Russland pflegen müssen.

    Bis zum 24. Februar 2022 war Russland ein Land gewesen, das sich der europäischen Kultur tief verbunden gefühlt hatte, in gewisser Weise einen europäischen Traum besaß und das Wohlergehen Europas wünschte, ja zu ihm beitragen wollte. Diesen Freund verstoßen und möglicherweise dauerhaft verloren zu haben, indem man wie einst die oberste Heeresleitung im Ersten Weltkrieg die Abtrennung der Ukraine von Russland plante, ist die vielleicht dramatischste Fehlentscheidung Europas in seiner gesamten Geschichte. Wie weit Russland jetzt durch seine Integration in das neue Bündnissystem der BRICS-Staaten sich von Europa entfernen wird, bleibt abzuwarten. Der in den letzten 300 Jahren vorherrschende ausschließliche Bezug Russlands auf Europa wird sich aber wohl so schnell nicht wieder herstellen. Allerdings lassen sich kulturelle Prägungen nur über Generationen und nicht kurzfristig verändern, weshalb die Möglichkeit einer erneuten, auf der gemeinsamen Kultur begründeten Allianz der Staaten der EU mit Russland immer noch denkbar ist.

    Hauke Ritz, Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas, Promedia, 272 Seiten, 23 Euro

    Über den Autor: Hauke Ritz, Jahrgang 1975, studierte allgemeine und vergleichende Literatur- sowie Religions- und Kulturwissenschaften an der FU und HU Berlin. Er unterrichtete unter anderem an der Universität Gießen und der Lomonossow-Universität Moskau. Gemeinsam mit Ulrike Guérot veröffentlichte er 2022 das Buch „Endspiel Europa“.

    Titelfoto: Westliche Staatsschefs beim G7-Gipel in Italien im Juni 2024 | Bild: picture alliance / Anadolu | Baris Seckin
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    Anmerkungen

    (1) Als Oskar Lafontaine 1998 als Finanzminister der damals noch jungen rot-grünen Regierung darauf hinwies und einen eigenen europäischen Weg vorschlug, wurde er von der britischen Presse als der gefährlichste Mann Europas tituliert. Kurze Zeit später reichte er seinen Rücktritt ein.
    (2) Susan Strange : The Westfailure System, The Review of International Studies 25, 1999, S. 345-354
    (3) The White House, Address to a Joint Session of Congress and the American People, 20. September 2001
    (4) Hannes Hofbauer, Europa – Ein Nachruf, Promedia Verlag, Wien 2020, S. 188
    (5) Wladimir Putin, Gastbeitrag : Offen sein, trotz der Vergangenheit, Die ZEIT, 22. 6. 2021
    (6) Jacob Taubes, Die Welt als Fiktion und Vorstellung, in : Funktionen des Fiktiven – Poetik und Hermeneutik, Bd. 10, München 1983, S. 421
    (7) Johannes Arends, Ex-NATO-Chef : „Putin wollte zu Beginn seiner Amtszeit beitreten“, Kurier.at, 04. 11. 2021
    (8) Vgl. : Moskau-Besuch : Schröder und Chirac besänftigen Putin, Spiegel Online, 04. 04. 2004

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