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  • SPANDAUER VOLKSBLATT : Was ganz Neues - DER SPIEGEL 17/1964
    https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46174512.html

    22.04.1964

    In den Redaktionsräumen der Vorortgazette „Spandauer Volksblatt“ an der Neuendorfer Straße 101 im Westberliner Verwaltungsbezirk Spandau planen sechs Männer im Alter von 32 bis 40 Jahren die Sonntagsausgabe vom 26. April. Mit ihr wollen sie zum erstenmal seit Bestehen des Blattes in das 13 Kilometer entfernte Berliner Zentrum um Zoo und Gedächtniskirche vorstoßen.

    Den attraktivsten Beitrag steuert Bestseller-Autor Günter Graß ("Hundejahre") bei: 27 Schreibmaschinenseiten über „Vor- und Nachgeschichte der Tragödie des Coriolanus von Livius und Plutarch über Shakespeare bis zu Brecht und mir“. Der Schriftsteller hat dieses Manuskript für eine Shakespeare-Gedächtnisrede am Mittwochabend dieser Woche in der Westberliner Akademie der Künste ausgearbeitet; der Exklusiv-Abdruck erscheint im „Spandauer Volksblatt“ (Auflage rund 27 000).
    Schriftsteller Günter Graß, 36, ist einer der sechs Männer, die mit dem „Spandauer Volksblatt“ den Kurfürstendamm erobern wollen. Die anderen fünf:

    – Otto Peter Schasiepen, 34, Diplom -Volkswirt und Verlagsleiter des „Spandauer Volksblattes“, früher Mitarbeiter der Unternehmensberatung George S. May;
    – Hans Höppner, 34, Chefredakteur des „Spandauer Volksblattes“, früher im selben Verlag erst Lokalredakteur, später Leiter des politischen Ressorts;
    – Dr. Volker Klotz, 33, Germanist, Assistent des Literatur-Professors Walter Höllerer und Verfasser theaterwissenschaftlicher Abhandlungen;
    – Gerhard Schoenberner, 32, Herausgeber des Bildbandes „Der gelbe Stern“ und des Augenzeugenberichtes über die Judenverfolgung „Wir haben es gesehen“;
    – Wolfgang Neuss, 40, Kabarettist ("Der Mann mit der Pauke").

    Außerdem heuerten die sechs eine Reihe von Mitarbeitern an (Graß: „Keine Berufsjournalisten, aber Leute, die schreiben können“), die ebenso wie Graß und Neuss gegen normales Zeilen-Honorar (30 Pfennig) Berlins Ehre als Zeitungsstadt retten sollen.

    Denn die Spandauer teilen nicht die Ansicht des Westberliner „Abend“, der noch zu Beginn dieses Monats meinte. „Berlin gilt noch immer als bedeutendste Zeitungsstadt“. Höppner und Schasiepen, deren „Volksblatt“ bislang außerhalb Spandaus nicht zu kaufen war. sind „schon seit Jahren unzufrieden mit dem Berliner Zeitungsmarkt“.

    Zwar ist Westberlin noch immer die an Zeitungen reichste Großstadt Deutschlands. Allein die Springer -Gruppe bringt in Berlin vier Blätter heraus: Die Berliner Ausgaben der „Welt“ und der „Bild“-Zeitung, ferner „Morgenpost“ und „BZ“ mit einer täglichen Gesamtauflage von 703 962 Exemplaren. Hinzu kommen - neben dem „Spandauer Volksblatt“ - „Tagesspiegel“, „Der Abend“, „Der Kurier“, „Telegraf“ und „nacht-depesche“ (Gesamtauflage 348 154).

    Gleichwohl glauben die Spandauer, daß „etwas fehlt“. Neuss: „Die Berliner Presse-Tragödie besteht aus Absprachen“, Geschäftsgrundlage sei allein der Antikommunismus.

    Der gemeinsame Ärger über die Westberliner Tagespresse inspirierte die sechs Neuerer schließlich zu ihrem Plan. Graß: „Eines Tages sagt man eben: Nicht mehr quatschen - machen.“

    Weshalb die Zeitungsamateure ausgerechnet auf das Vorort-Journal verfielen, erläuterte Gerhard Schoenberner so:
    „In kritischen Situationen informieren mich nur drei Zeitungen objektiv: die ’Frankfurter Rundschau’, die ’Süddeutsche Zeitung’ und das ’Spandauer Volksblatt’.“ Auf der Suche nach einer Tageszeitung, „die mich informiert und nicht immer nur meine Meinung bilden will“, geriet auch Graß an das „Spandauer Volksblatt“.

    Nach dem Krieg hatte die Lokalzeitung, die heute, mit Anzeigen wohlversorgt, auf gesunder wirtschaftlicher Basis ruht, das Erbe der von den Nationalsozialisten verbotenen Spandauer SPD-Zeitung „Volksblatt“ angetreten. Alt-Sozialdemokrat und Volksblatt-Redakteur Erich Lezinsky, während der Nazi-Zeit mit Berufsverbot bedacht, gab das „Spandauer Volksblatt“ mit der Lizenznummer 1 der britischen Militärregierung zum erstenmal am 5. März 1946 heraus.

    Nach seinem Tode im Jahre 1952 bemühte sich die Berliner SPD um die Lizenz. Die Briten beließen sie jedoch der Familie Lezinsky, und der Lizenz-Neid der Sozialdemokraten führte dazu, daß sich die Lezinskys mit der SPD überwarfen und aus der Partei austraten. Das „Spandauer Volksblatt“ nahm künftig jede Gelegenheit wahr, die Berliner SPD zu attackieren.
    Das änderte sich wieder 1962, als Höppner zum Chefredakteur aufstieg und Schasiepen die Verlagsleitung übernahm. Schasiepen: „Zunächst wurde das Verhältnis zur SPD bereinigt. Dann wurden junge Leute eingestellt und der Spandauer Zopf abgeschnitten.“

    Höppner: „Wir fragten uns: Wie kommen wir über unsere Spandauer Festung hinaus?“

    Im Herbst vergangenen Jahres kamen Höppner und Graß, die sich bis dahin nicht gekannt hatten, bei der Eröffnung des neuen Hauses der Philharmonie miteinander ins Gespräch. Graß zu Höppner: „Setzen wir uns doch mal zusammen.“

    Der ersten Zusammenkunft folgten Gespräche mit anderen jungen Autoren, bis die sechs ("Komitee des 26. März") Ende März ihre publizistische Berlin-Hilfe fest beschlossen.

    Für die Zukunft wollen die Spandauer ihren Vormarsch auf den Kudamm jedoch nicht nur im Windschatten prominenter Autoren bewältigen. Schasiepen möchte dem Zeitungsmarkt „was ganz Neues“ bescheren. Und Klotz erläutert: „Wir möchten die traditionellen Sparten der Zeitung sprengen.“

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