„Und natürlich darf geschossen werden!“ Politische Lyrik und Linksterrorismus in Deutschland | Schamm | Contingentia
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Rudi Dutschke auf Burg Waldeck
Die meisten Liedermacher wurden gnadenlos ausgepfiffen, 1968 auf der Waldeck. Zu Tausenden waren die Mitglieder der studentischen Protestbewegung auf die Burg im Hunsrück gekommen, um das legendäre Festival der deutschsprachigen Chansons und Folksongs in eine politische Veranstaltung umzuwandeln. Aber Walter Moss-mann durfte singen und erhielt sogar frenetischen Beifall. Das war kein Wunder, sang er doch das Lied Drei Kugeln auf Rudi Dutschke, das ihm Wolf Biermann zuvor am Telefon vorgesungen hatte. Text und Melodie stammten nämlich aus der Feder des ostdeutschen Lyrikers und Liedermachers, dem die Ausreise in den Wes-ten von den DDR-Behörden verweigert worden war. Als Außenstehender solidarisierte sich Biermann demonstrativ mit den Vertretern der Studentenrevolte. Mit seinem Lied nämlich unterstützte er deren Auffassung, dass die eigentliche Schuld an dem Attentat auf ihren Wortführer Rudi Dutschke nicht etwa der 24jährige Hilfs-arbeiter Josef Bachmann trage, der Dutschke am 11. April 1968 mit drei Pistolenschüssen aus nächster Nähe niedergestreckt hatte.
Stattdessen belastete er die amtie-renden Regierungschefs der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins sowie den Zeitungsverlag Axel Springer. Alle drei hätten so lange konzertierte Hetze ge-gen die Studentenbewegung betrieben, bis irgendeine verlorene Seele zur Waffe gegriffen habe. Hier die Verse, die Mossmann auf der Waldecker Freilichtbühne vortrug:
Drei Kugeln auf Rudi Dutschke
Ein blutiges Attentat
Wir haben genau gesehen
Wer da geschossen hat
Refrain:
Ach Deutschland, deine Mörder!
Es ist das alte Lied
Schon wieder Blut und Tränen
Was gehst Du denn mit denen
Du weißt doch was dir blüht!
Die Kugel Nummer eins kam
Aus Springers Zeitungswald
Ihr habt dem Mann die Groschen
Auch noch dafür bezahlt
Refrain
Des zweiten Schusses Schütze
Im Schöneberger Haus
Sein Mund war ja die Mündung
Da kam die Kugel raus
Refrain
Der Edel-Nazi-Kanzler
Schoß Kugel Nummer drei
Er legte gleich der Witwe
Den Beileidsbrief mit bei
Refrain
Drei Kugeln auf Rudi Dutschke
Ihm galten sie nicht allein
Wenn wir uns jetzt nicht wehren
Wirst du der Nächste sein
Refrain
Es haben die paar Herren
So viel schon umgebracht
Statt daß sie euch zerbrechen
Zerbrecht jetzt ihre Macht!
Refrain
Dutschke kam bei dem Mordanschlag nicht ums Leben. Obwohl Bachmann dreimal abdrückte, konnte er von den Ärzten gerettet werden. Erst Jahre später, 1979, würde er an den Spätfolgen der Verletzungen sterben. Biermann machte sich in den Stro-phen 2 bis 4 die Dreizahl der Schüsse zunutze, indem er jeder Patrone aus der Waffe des Attentäters einen wahren Schuldigen zuordnete. Mit „des zweiten Schusses Schütze / Im Schöneberger Haus“ ist der Regierende Bürgermeister von Berlin ge-meint – ein Politiker, der ausgerechnet Klaus Schütz hieß –; die Bezeichnung „Edel-Nazi-Kanzler“ spielt auf die NS-Vergangenheit des Bundeskanzlers Kurt Georg Kie-singer an. Der eigentliche Schütze Bachmann, von damaligen Journalisten sofort zur deutschen Variante des angeblichen Kennedy-Mörders Oswald stilisiert, erfüllt in diesem Denkschema nur die Funktion einer Marionette der Mächtigen.
All dies reproduziert nur den Tenor dessen, was in den linken Studentenkreisen ohnehin vorherrschende Meinung war. Nicht unbedingt dasselbe gilt für die letzten beiden Strophen, die den Anschlag auf Dutschke als Auftakt zu allgemeinem Staats-terror darstellen und, zumindest implizit, zur Gegengewalt aufrufen.