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  • Altenpflege: Auch osteuropäischen Frauen steht Mindestlohn zu | Telepolis
    https://www.heise.de/tp/features/Altenpflege-Auch-osteuropaeischen-Frauen-steht-Mindestlohn-zu-6118456.html

    Mal sehen, was sich die Verleihfirmen nun ausdenken, um den Mindestlohn nicht zahlen zu müsen. Vermutlich werden sie vermehrt mit „Wegwerffirmen“, so genannten 18-Monats-GmbHs im Ausland arbeiten, um sich Lohnforderungen zu entziehen.

    25. Juni 2021 von Bernd Müller - „Paukenschlag“ des Bundesarbeitsgerichts: Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in der 24-Stunden-Pflege sind nicht zulässig. Sozialverbände „Tsunami“ für häusliche Pflege

    Lange Zeit funktionierte die Ausbeutung von osteuropäischen Frauen in der häuslichen Altenpflege reibungslos - das könnte nun ein Ende haben. Am Donnerstag fällte das Bundesarbeitsgericht in Erfurt ein Grundsatzurteil dazu. Einen „Paukenschlag für entsandte Beschäftigte“ nannte DGB-Bundesvorstandsmitglied Anja Piel das Urteil; denn das Gericht stellte fest: Den ausländischen Beschäftigten, die Senioren in ihren Wohnungen betreuen, stehe der gesetzliche Mindestlohn zu.

    Geklagt hatte eine nun 69-jährige Bulgarin. Seit 2013 war sie als Pflege- und Haushaltskraft in Privathaushalten zunächst in Koblenz und Bonn tätig; seit 2014 pflegte sie eine mehr 90-jährige Dame in deren Wohnung in einer Seniorenanlage in Berlin. Sie verdiente dabei 1.350 Euro brutto (950 Euro netto) im Monat zuzüglich eines Bonus‘ von 50 Euro.

    Bei einer Vergütung auf dem Niveau des damaligen Mindestlohnes von 8,50 Euro je Stunde entsprach das Arbeitsentgelt einer täglichen Arbeitszeit von sechs Stunden, wie es auch im Arbeitsvertrag geregelt war. Der Streit entbrannte sich aber an der realen Arbeitszeit, denn es ist ein lang bekanntes Problem: In der häuslichen Ganztagespflege sind geregelte Arbeitszeiten kaum möglich - die Beschäftigten müssen stets in Bereitschaft sein.

    Das vermittelnde Unternehmen hatte mit einer Klausel im Arbeitsvertrag versucht, das Risiko einer längeren Arbeitszeit auf die Beschäftigte abzuwälzen. Die Bulgarin musste sich verpflichten, keine Überstunden zu machen. Gleichzeitig wurde aber in den zum Arbeitsvertrag gehörenden Unterlagen festgehalten, dass es sich um eine „24-Stunden-Betreuung“ handle und Nachtwachen notwendig seien.

    Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg befand im August 2020, dass dieses Vorgehen „treuwidrig“ sei. Da eine umfassende Betreuung zugesagt worden sei, sei eine Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 30 Stunden nicht zulässig, und für das zugesagte Leistungsspektrum sei dies darüber hinaus auch unrealistisch. Das Gericht befand, dass die bulgarische Pflegerin stattdessen für eine tägliche Arbeitszeit von 21 Stunden zu entlohnen sei.

    Gegen dieses Urteil war die bulgarische Vermittlungsfirma mit einem Revisionsbegehren vorgegangen. Das Bundesarbeitsgericht entschied nun: „Auch Bereitschaftsdienstzeit ist mit dem vollen Mindestlohn zu vergüten“, so der Vorsitzende Richter Rüdiger Linck in der Verhandlung. Dabei machte er deutlich, dass Bereitschaftsdienst auch darin bestehen könne, dass die Pflegehilfe im Haushalt der Senioren wohnen müsse „und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit zu leisten“.

    Der verhandelte Fall sei kein Einzelfall, hatte Justyna Oblacewicz von der DGB-Initiative „Faire Mobilität“ im Dezember erklärt. Pro Jahr hätten sich etwa 400 Personen aus der häuslichen Ganztagespflege an die „Faire Mobilität“ gewandt.

    Wie viele Menschen in der häuslichen Ganztagespflege arbeiten, lässt sich nur schätzen - offizielle Zahlen darüber gibt es nicht. Zwischen 300.000 und 600.000 seien es schätzungsweise, sagte Oblacewicz; die meisten seien osteuropäische Frauen. „Ihre Verträge reichen in der Regel von wenigen Wochen bis zu drei Monaten, und in dieser Zeit leben sie meist auch in dem Haushalt der zu pflegenden Person.“ Ist die Zeit vorüber, kehren sie in ihre Heimat zurück und werden dann in einen neuen Haushalt vermittelt.

    VdK: Häuslicher Pflege droht „Armageddon“
    Während die Gewerkschaften das Urteil am Donnerstag begrüßten, verhielten sich Sozialverbände zurückhaltend gegenüber dem Richterspruch. „So nachvollziehbar die Entscheidung auch ist, das Urteil löst einen Tsunami aus für alle, die daheim auf die Unterstützung ausländischer Pflegekräfte angewiesen sind“, erklärte Eugen Brysch, Vorstand der Deutsche Stiftung Patientenschutz in Dortmund, gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa). Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, nach dem Urteil drohe der häuslichen Pflege ein „Armageddon“. Brysch betonte: „Hätten wir die ausländischen Pflegekräfte nicht, wäre die häusliche Pflege schon zusammengebrochen.“

    Ver.di: Modell „basiert auch systematischem Gesetzesbruch“
    Dagegen sprachen sowohl Gewerkschaften als auch die Bundestagsfraktion Die Linke von teilweise ausbeuterischen Zuständen. „Das Modell der sogenannten 24-Stunden-Pflege basiert auf systematischem Gesetzesbruch“, erklärte Silvia Bühler, Bundesvorstand der Dienstleitungsgewerkschaft ver.di. Wenn eine Beschäftigte die Versorgung eines pflegebedürftigen Menschen rund um die Uhr sicherstellen solle, könne das nicht mit legalen Dingen zugehen.

    Ob sich so schnell etwas an den Zuständen ändern wird, ist ungewiss. „Dickfellige Arbeitgeber und Vermittlungsagenturen setzen sich mit dem Angebot der rund-um-die-Uhr-Betreuung seit Jahren über geltendes Recht hinweg“, heißt es in einer Erklärung des DGB.

    Was für die Auftraggeber ein Sorglos-Paket ist und für Arbeitgeber und Vermittlungsagenturen eine Goldgrube, ist für die Beschäftigten pure Ausbeutung. Trotz 24-Stundentag mit Arbeit und Bereitschaft erhalten sie höchstens den Mindestlohn für acht Stunden - wenn überhaupt. Mit unübersichtlichen Entsende- und Vermittlungsmodellen sparten die Arbeitgeber außerdem maximal möglich an Sozialbeiträgen.

    (Presseerklärung des Deutschen Gewerkschaftsbundes)

    Im Dezember hatte Justyna Oblacewicz von der DGB-Initiative „Faire Mobilität“ erklärt, viele osteuropäische Beschäftigte wüssten nicht, dass sich die Höhe des zu zahlenden Lohnes am deutschen Recht orientieren müsse. Hinzu komme noch die Sprachbarriere. Auch wenn bei der Vermittlung ein bestimmtes Sprachniveau vorausgesetzt werde, sei es in der Praxis oft nicht ausreichend. Deshalb könnten sich viele osteuropäische Frauen nicht über ihre Rechte informieren. Ein noch größeres Problem sei aber, so Oblacewicz, „dass die Frauen mit ihm Haushalt der Person leben, die sie pflegen, und dadurch recht isoliert sind“. Der Arbeitsalltag biete auch kaum die Möglichkeit, sich zu informieren.

    DGB: Spahn soll Familien seine Versäumnisse erklären
    Beschäftigte würden aber auch oft bewusst über ihre Rechte getäuscht. Vor allem die polnischen Dienstleistungsverträge seien so aufgebaut, „dass die Frauen quasi als Selbständige nach Deutschland kommen, und ihnen wird suggeriert, dass sie deshalb keine Arbeitsschutzrechte in Anspruch nehmen können“, betonte Oblacewicz. Faktisch stimme das aber nicht, und darüber kläre dann die „Faire Mobilität“ auf.

    Der DGB sieht nun Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in der Pflicht. Er solle den Familien seine Versäumnisse erklären, die auf die 24-Stunden-Pflege angewiesen sind. „Er hätte die Pflegepolitik neu ausrichten und die Pflegeversicherung zu einer Bürgerversicherung umbauen können, die sämtliche Pflegeleistungen abdeckt“, heißt es in der Erklärung. Die Zeche für eine jahrzehntelang verfehlte Politik dürfe nicht auf dem Rücken der Beschäftigten abgeladen werden.

    #Arbeit #Ausbeutung