Taxi

Reality Check - Geschichten rund ums Taxi in Berlin und weltweit - Materialsammlung, Bilder, Videos, Texte

  • „Nachtfahrt“ – Ein Farewell für Josef Šnobl – CulturMag
    http://culturmag.de/crimemag/nachtfahrt-ein-farewell-fuer-josef-snobl/133309

    Man lebt nicht lange, wenn man den Weg des Taxifahrers wählt.

    1.3.2021 von Ulrich Noller - Nachruf von Ulrich Noller und ein Textauszug aus dem grandiosen Fotobuch von Josef Šnobl 

    Eine sehr traurige Nachricht: Der Künstler und Fotograf Josef Šnobl ist überraschend gestorben. Erst neulich war er noch im Verlag, so hört man dort, und hat sich riesig gefreut – weil seine “Nachtfahrt” sich völlig unerwartet so gut verkauft hat, dass eine zweite Auflage gedruckt werden konnte. Dies grandiose Buch ist nun sein Vermächtnis. Mich hat es sehr beeindruckt, schon vor anderthalb Jahren, und es ist mir seitdem nicht mehr aus dem Gedächtnis geraten.

    Warum? Nicht bloß, weil es toll gedacht und gemacht ist, exzellent geschrieben, fantastisch fotografiert, weil es eine ganze Klaviatur an Rezeptionsgefühlen zu bedienen weiß – sondern vor allem auch, weil es mich die Stadt, in der ich nun seit um die 30 Jahren lebe, nochmal neu und mit ganz anderen Augen sehen ließ, und das ist: eine Entdeckung. Besonders in Lockdown-Zeiten, natürlich. Was für ein Nacht-Leben! Ungeheuer! Gibt es das überhaupt? Na klar doch, er hat es doch dokumentiert.

    Josef Šnobl, geboren 1954 in Prag, kam mit 25 Jahren nach Deutschland, um in Köln Fotografie zu studieren, sein Leben finanzierte er als Nachttaxifahrer, noch lange über das Studium hinaus, als er längst als freischaffender Künstler arbeitete. Von 1988 bis 2013 war er auf den nächtlichen Straßen der Stadt unterwegs, immer die Kamera dabei; sein Buch dokumentiert Erlebnisse, Erfahrungen, Episoden auf so spannende wie persönliche, dabei zugleich aber auch dokumentarisch anmutende Weise.

    Das Ergebnis, die Essenz, ist so etwas wie eine nächtliche Abenteuergeschichte, aus dem Taxi heraus gesehen, wie auch, durch die gelungene Aufbereitung in den Texten, eine Art persönliche Kulturgeschichte der Nacht – illustriert mit Dutzenden packenden Momentaufnahmen, meist in Schwarzweiß. Und der Blues, der dieses Buch strukturiert, gibt den Rhythmus vor, ihn spürt man jederzeit zwischen den Zeilen, unter den Bildern, der Soundtrack zu einem ganz besonderen Projekt. Große Klasse! Das wird bleiben, lieber Josef Šnobl, auch weit über dieses kleine, zerbrechliche, vergängliche Jetzt hinaus.

    Ich habe nie in einer Kleinstadt oder in einem Dorf gelebt; immer nur in der Großstadt. Ich liebe die Individualität der Bewohner, ihren Stolz, und ich schätze die Anonymität. Große Städte haben eine große Geschichte, und man wird ein Teil davon. Die Großstadt ist verrucht, vielfältig und immer in Bewegung. In einer Metropole Taxi zu fahren, hat etwas Erhabenes. In bestimmten Stunden wird sie von einer subtilen Gesetzlosigkeit beherrscht, in anderen liegt eine unschuldige, gespenstische Ruhe über den großen Häusern. 

    Bei heruntergelassenen Seitenfenstern koste ich die Nacht aus. Geräusche und Gerüche. Regen, Schnee, Frost, Hitze, Wind verändern die Akustik der nächtlichen Straßen. Manchmal entsteht eine sakrale Stille, ein andermal, wenn die Luft verbraucht ist, die Stille der Erschöpfung. 

    Köln, die Stadt von provisorischen Bauten, billigem Zeug aus den 1950er Jahren, war mir am Anfang fremd. Ich bin in Prag geboren, wo sich Gotik, Barock und Jugendstil noch vermischen. Und dieses ruinöse Provisorium, in dem ich damals anfing Taxi zu fahren, war mir ungeheuer. Eine Stadt braucht nach einer fast totalen Zerstörung rund 100 Jahre, bis sie wieder Gestalt annimmt. Köln wird nur langsam besser und schöner, aber vor allem durch die Nächte, die ich der Stadt gewidmet habe, ist sie mir zutraulich und intim geworden. Durch das Stöbern und Entdecken in ihr und ihrer Geschichte bin ich hier inzwischen mehr zu Hause als in Prag. Ehrenfeld, Bickendorf, Nippes, Sülz, Zollstock, schon diese Namen, die so viel versprechen… 

    Seit meiner Kindheit hab ich eine Schwäche für Peripherien und Fabrikhallen, für solitäre, phallusartige Schornsteine, Brachen aller Art, Gleise, die abrupt enden. Ich interessiere mich für Sackgassen und Wendehämmer an Enden der Straßen, für verfallene Hinterhöfe und vergessene, verwachsene Friedhöfe, für eine urbane, langsam verschwindende oder sich stark verändernde industrielle Welt. Gleich hinter unserem Haus im Prager Industrieviertel Karlín war ein Güterbahnhof. Die andere Seite vom Güterbahnhof grenzte an den blinden Arm der Moldau. Ein stilles Wasser mit kleinen Werften und einem putzigen Hafen. »Maniny« hieß das Stück Erde zwischen dem Fluss und unserem Haus in der Pobřežní ulice. Es lagen da etliche Schotterfußballplätze der vorstädtischen Fußballvereine, viele benutzte oder unbenutzte Fabrikhallen in allen Größen, manche Schrottplätze und ein Friedhof für Dampflokomotiven. Da lagen mindestens drei dieser Dampfungetüme, eine war auf die Seite gekippt, und eine andere stand tatsächlich auf dem Kopf. Bis heute habe ich den Geruch in der Nase. Kaum zu glauben, wie intensiv in der Erinnerung verrostetes Eisen an einem heißen Sommertag duftet. 

    In den Momenten, wenn das Fahren zum Automatismus wird, verlassen meine Gedanken die Zelle meiner Taxiwelt und gehen auf Wanderschaft. Mein Unbewusstes steuert mich durch tausendmal gefahrene Straßen und Gassen; es kennt jedes Schlagloch und jede Ampelschaltung. Umso überraschter bin ich, wenn ich plötzlich merke, dass ich von der gewohnten Strecke in eine unbekannte Straße abbiege. Ich sehe mich erstaunt um, und es kommt mir einen Augenblick lang so vor, als wäre ich aus einem Traum erwacht, in einer fremden Stadt. 

    Meine Dimension der Stadt wird mit Nachtaugen vermessen. Wenn ich tagsüber durch die Stadt schlendere, kommt sie mir bühnenhaft vor. Sie erscheint mir wie eine Kulisse mit vielen Statisten, vor der sich ein paar Schauspieler bewegen; sie ist mir fremd. Es fällt mir schwer, mich zu orientieren, und ich muss über alles nachdenken, was in der Nacht automatisch funktioniert. Die Proportionen und Entfernungen scheinen andere zu sein, die Leute sind es definitiv. Genau wie die Tagfahrer andere Menschen sind als die Nachtfahrer: ruhiger, gelassener, dicker. Meistens sind es die Taxiunternehmer selbst, die tagsüber hinter dem Lenkrad sitzen. Viele von ihnen rauchen Pfeife, was ich bei den Fahrern nachts noch nie gesehen habe. Nachtfahrer sind Kettenraucher. Die Spieler der Nacht benehmen sich anders und sehen auch anders aus, nicht wie die Lackpuppen des Tages. 

    Bonner Straße, kurz nach Mitternacht. Auf dem Gehsteig steht ein nackter Mann umgeben von Schaulustigen. Aus dem dritten Stock regnen Klamotten auf ihn herab. Ab und zu auch andere Gegenstände, begleitet von der Wut einer Frau oben im Fenster und dem Lachen der Menge. Im Vorbeifahren wirkt es wie ein Theaterstück! 

    Ein betrunkener Zahnarzt, der nachts um halb fünf eine Untersuchung meines Gebisses vornimmt. Eine Frau aus Kenia, die um fünf Uhr morgens ihre drei Kinder aus dem Bett holt, nur um sie mir zu zeigen. 

    Ein fünfzigjähriger, geistig obdachloser Mann mit verknoteter Zunge spricht mich ständig auf Englisch an, obwohl er es nicht kann … bevor plötzlich und unerwartet auf Deutsch, der Satz aus ihm herausbricht: »Ich schlaf bei meine Mama.« Danach sagt er nichts mehr, schweigend bezahlt er und geht zu Mama. 

    Ein Blinder, in Alkohol getränkt; zur Begrüßung ein Schlag mit seinem Blindenstock mir über den Kopf, es folgt ein Weinkrampf. Am Ziel schleppe ich ihn in seine Wohnung im dritten Stock. Er bekommt wieder einen Weinkrampf; ich vertrage seine Dankbarkeit nicht und haue ab. Zwei Männer, die enttäuscht ohne Frauen um halb sechs zurück ins Hotel fahren und mir bei einem Joint auf dem Hotelzimmer ihre Erlebnisse der Nacht erzählen … 

    Vor dem gleichen Hotel im Zentrum steht der große Maler Sigmar Polke und ist sehr betrunken. In einem Anfall innerer und für die Außenwelt unergründlicher Inspiration winkt er jedem Geräusch entgegen, das er vernimmt. Und es sind viele Geräusche. Die Bewegungen seiner Hände und die Motorik seines Körpers wirken von Weitem so, als ob er wild tanzen würde. Es ist der innerliche Tanz eines Schamanen, um überflüssige Spannungen abzuwerfen. Plötzlich ist alles vorbei, der Maler dreht sich um und verschwindet torkelnd in der Tiefgarage des Hotels. Später sah ich seine Retrospektive im Museum Ludwig. Sigmar Polke war ein schlechter Maler, aber sehr origineller Künstler mit unglaublich vielen Ideen. Als ich durch die Ausstellung ging und seine verschiedenen Phasen sah, entstand in mir erneut ein Erinnerungsbild, wie ich ihn als Taxifahrer oft zu seinem Atelier nach Zollstock fuhr. Ich war sein Lieblingstaxifahrer. Und wie ich ein Nachtfahrer bin, war er ein Nachtmaler. 

    Gewöhnlich ist es gegen zehn Uhr abends, dass er auf dem Habsburgerring erscheint. Manchmal ist er schon angetrunken, meistens aber nüchtern. Er geht die Reihe der wartenden Taxen entlang und schaut sich die Fahrer einen nach dem anderen genau an, bis er mich findet. Dann steigt er erleichtert ein und sagt nur kurz: »Wie immer.« Er wirkt sehr schroff, und ich weiß nicht, warum er sich gerade mich ausgesucht hat. Vielleicht, weil er am Anfang per Zufall zweimal hintereinander bei mir eingestiegen ist. Bei unserer ersten Fahrt kenne ich die Straße nicht, in der er sein Atelier hat. »Wissen Sie wenigstens, wo Zollstock ist?«, fragt er unwirsch. Ich nicke stumm und fahre hin. Den Rest lotst er mich versöhnlich. Bei der zweiten Fahrt ist er betrunken, und spricht mehr mit mir als üblich. Er ist provokant, aber ich kann ihm Paroli bieten – und das gefällt ihm. Es ist nur ein Moment, er hält inne und guckt mich längere Zeit mit ironisch blitzenden Augen und einem Lächeln an. An den Inhalt des Gesprächs kann ich mich nicht mehr erinnern. 

    Jedes Mal achte ich darauf, mich nicht als »Künstlerkollege« zu outen. Dann wäre es vorbei mit unserer zarten Taxifreundschaft. Polke ist ein scheues Reh, und schon bei einem kleinen Versuch, ein bisschen mehr zu erfahren oder sich ihm zu nähern, hätte er unsere »Beziehung« abgebrochen. Ich darf nicht zeigen, dass ich weiß, wer er ist. Und ich darf auch nicht zeigen, wer ich bin. Ein Taxifahrer bin ich … 

    Ich verbringe den Nachmittag mit Martina K., einer Regisseurin aus Wien. Kurz vor sechs verabschiede ich mich. Zu Hause ziehe ich meine feinen Lederschuhe, mein Hemd und meine Weste aus und ersetze sie durch die Taxiklamotten. Das Notizbuch und die Geldbörse in die Tasche gepackt, das Taxi wartet schon. 

    Es ist kurz vor Mitternacht, und ich stehe als Spitze am Rudolfplatz. Mein Freund, der Regisseur Ivan F. aus Frankfurt, kommt auf meine Taxe zu. Er kommt immer näher, gleich öffnet er die Tür. Ich lache ihm entgegen, aber er sieht mich nicht, er nimmt mich als Person nicht wahr, sieht nur den Taxifahrer. Ivan F. greift nach meiner Tür, zögert aber, wechselt noch ein paar Worte mit seiner Partnerin. Dann lässt er die Tür los und geht zu Fuß weiter. Zu einer Begegnung kommt es nicht. 

    Drei Uhr morgens. Ich habe die Spitze am Chlodwigplatz. Da kommen sie. Martina K. mit ihrem Freund, sie wollen ein Taxi, Martina berührt die Tür, schaut mich an, schaut durch mich hindurch und sieht mich nicht. Dann entscheidet sich auch Martina gegen das Taxi und geht zu Fuß. Ich habe heute die beiden Regisseure getroffen, die ich kenne. Beide haben mein Auto berührt, aber sind im letzten Moment nicht eingestiegen. Beide haben mich nicht gesehen, weil sie mich nicht erwartet haben, obwohl beide wissen, dass ich Taxi fahre. Beide haben sich im entscheidenden Moment anders orientiert … 

    Mich haben schon immer die verborgenen Alternativen des Erlebten interessiert. Das Taxifahren ist ein fruchtbares Feld für solche Spinnereien. Es entscheiden nur ein paar Schritte darüber, ob der eine oder die andere bei dir oder dem Kollegen einsteigt. Und noch bevor mir mein Fahrgast das Ziel nennt, frage ich mich im Stillen, wo führt die andere Fahrt hin? – Zuerst wartest du eine Stunde, bis du Zweiter bist. Dann beobachtest du, wie in das Auto vor dir eine wunderschöne Frau einsteigt, fast gleichzeitig geht die Tür bei dir auf, und hinein fällt ein stinkender, dicker, verpisster und total besoffener Sack, der nicht weiß, wo er wohnt, und wenn du es aus ihm herausbekommst, ist es um die Ecke. 

    Dass alle anderen Fahrten, ob den Kollegen vor oder nach mir zugeteilt, besser sind als meine, entspringt bloß meiner kruden Vorstellung. Es gibt Fahrten, die kein anderer machen könnte als ich, so sehr sind wir füreinander bestimmt. Es gibt aber auch solche, die ich lieber gelassen hätte, so beschissen ist die Erinnerung. Natürlich, nicht ich suche mir die Fahrten aus … die Fahrten finden mich. Ich habe keine Wahl. 

    Oft kommt es am Halteplatz nach langer Ruhe zu einem plötzlichen Tumult. Aus drei Richtungen kommen drei Fahrgäste gleichzeitig, die Taxizentrale hat zwei Fahraufträge zu verteilen, und in diesem einen Moment kulminiert alles. Die Fahrten sind vergeben, hinten sitzt mein Fahrgast, ich kenne sein Ziel, aber ein Gedanke verfolgt mich … 

    WO FAHREN DIE ANDEREN BEIDEN HIN?

    #Taxi #Köln #Arbeit #photographie