Afghanen wurden hier noch im Januar aus den Zügen geholt. Ukrainerinnen hingegen dürfen durchfahren, von ihnen ist am Grenzbahnhof Buchs nichts zu sehen. Das ist kein Zufall. Ein Rückblick auf 150 Jahre Schweizer Willkommenskultur.
Etwas talaufwärts, nach Sargans links um die Ecke, liegt Maienfeld, das Heidiland. Benannt nach jenem Roman, der weltweit das Bild der Schweiz prägte: mit Heidi, Alpöhi, Geissenpeter, den saftigen Matten und den weissen Bergen unter blauem Himmel. Ein Sehnsuchtsort für Touristen genauso wie für Verfolgte und Vertriebene aus aller Welt.
Doch anders als wohlhabende Feriengäste gelangen Flüchtlinge kaum je ins Heidiland. Sie stranden vielmehr an einem gesichtslosen Grenzbahnhof. Zum Beispiel in Buchs, St.Gallen: einer Bahnstation in einem Industriequartier mit fensterlosen Bauten, einer Recyclinghalle, der in Beton gegossenen Bus-Station auf dem Vorplatz und einer Industriebrache mit Kies, Unkraut und Stumpengleis. Kein Postkartensujet.
Und doch ein Ort, der eben so typisch ist für die Schweiz wie das Heidiland. Kaum wo lässt sich die wechselvolle Geschichte der eidgenössischen Flüchtlings- und Migrationspolitik nachzeichnen wie hier. Die einen wurden als Helden begrüsst. Andere hinter Stacheldraht in der Desinfektionsanlage entlaust und bürokratisch erfasst. Von den Nazis verfolgte Juden versuchten, versteckt im Güterzug in Sicherheit zu gelangen. Manche von ihnen vergraben in Kohletransporten – auch um der direkten Rückweisung an der Schweizer Grenze zu entgehen.
Für Kaiserin Sissi stand sogar Portier Rohrer stramm
Erbaut wurde der Bahnhof 1858, etwas abseits des Dorfes, weil die Bauersleute von der Bahn zunächst nichts wissen wollten. Der Anschluss an die weite Welt folgte 1884 mit der direkten Anbindung an die neue Arlbergbahn. Sie brachte den wirtschaftlichen Aufschwung. Güterzüge mit Schlachtvieh aus Ungarn, Weinbeeren aus der Türkei und Holz aus Serbien kamen hier an. «Da waren auch die Sammelwagen mit den Auswanderern aus den Oststaaten, deren Ziel Amerika war: Fremde, armselig reisende Menschen, deren Sprache niemand verstehen konnte», heisst es in einem Beitrag des «Werdenberger Jahrbuchs» über das Jahr 1890.
Adlige reisten durch, der König von Bulgarien, Balkanfürsten mit ihrem Hofstaat. Ja, selbst Kaiserin Elisabeth, die Sissi, erfrischte sich auf ihren regelmässigen Durchreisen im Bahnhofbuffet: «Da stand selbst der Portier Rohrer stramm, Vorstand Gasser hielt bahndienstliche Ordnung, der österreichische Zollinspektor Lutz, ein liebenswürdiger, fein gebildeter Mann, erwartete in Galauniform und mit einem Paradedegen an der Seite die Kaiserin und machte die Honneurs», heisst es im Jahrbuch. Es war eine Blütezeit, der Aufstieg Buchs’ als das «Tor zum Osten».
Für viele Flüchtlinge hingegen wurde Buchs zum Nadelöhr in die Schweiz – je nach Herkunft und politischer Grosswetterlage. Denn in ihrer Flüchtlingspolitik war die Schweiz nie neutral. Das zeigt sich gerade in diesen Tagen wieder. Die kriegsvertriebenen Ukrainerinnen und ihre Kinder brauchen in Buchs nicht auszusteigen. Sie profitieren von der Reisefreiheit, die ukrainischen Staatsangehörigen schon vor dem russischen Angriff auf ihr Land in ganz Europa gewährt wurde. Sie brauchen kein Visum, fahren in Buchs durch und lassen sich später wahlweise in Zürich, Altstätten oder sonst einem Bundesasylzentrum registrieren, um vom Schutzstatus S zu profitieren. Tausende von Gastfamilien bieten ihnen Unterkunft an.
«Ich reise nicht gern. Wozu auch? Die Welt kommt ja zu uns»
Wie anders die Bilder noch im Winter: Junge Männer aus Afghanistan, die von den Grenzbehörden aus dem Nachtzug aus Wien geholt werden, müssen sich auf Perron 4 in Reih und Glied aufstellen. Danach werden sie ins Provisorische Bearbeitungszentrum Buchs (POB) geführt und asylrechtlich erfasst. So schildert es das «St.Galler Tagblatt» im Januar in einer Reportage. Das POB hat der Kanton Anfang Jahr eröffnet, um die Registrierung gemäss den Regeln des Dublin-Abkommens der sogenannt illegal eingereisten Personen zu beschleunigen. An jenem Januarmorgen sind es rund 30 junge Afghanen.
Die Ukrainerinnen und die Afghanen sind lediglich die letzten beiden von sehr vielen verschiedenen Flüchtlingsgruppen, die im Laufe der Jahrzehnte am Grenzbahnhof vorbeigekommen sind. Einer, der diese Geschichten kennt, über sie in der Lokalzeitung berichtet hat, ist Hansruedi Rohrer, langjähriger Fotoreporter des «Werdenberger und Obertoggenburgers» sowie Buchser Stadtchronist. Der 72-Jährige führt ein Archiv mit Tausenden von Bildern und kaum weniger Geschichten. Rohrer ist Buchser, durch und durch. Und ausgesprochen sesshaft: Ein einziges Mal unternahm er eine Reise ins Ausland mit Übernachtung – nach München für eine Reportage. Sonst beschränken sich seine Auslandvisiten auf Kinobesuche ennet dem Rhein im liechtensteinischen Schaan. «Ich reise nicht gern. Wozu auch? Die Welt kommt ja zu uns», sagt Rohrer.
Auf einem Rundgang vom Bahnhof durch das Industriequartier zeigt er die Schauplätze: Die Rheinbrücke, wo die Züge über eine Rechtskurve in die Schweiz einfahren, die ehemaligen Standorte eines Auffanglagers und eines Aufnahmezentrums. Er erzählt von den ersten Flüchtlingen, die 1871 in Buchs angekommen seien, notabene aus Westen: Soldaten der Bourbaki-Armee, die im Jura über die Grenze gekommen waren und auf die Schweiz verteilt wurden. «Man sammelte damals in unserem Städtchen warme Kleider und Schuhe für sie.»
Kriegsinternierte skandieren: «Evviva la Svizzera!»
Rohrer händigt von ihm verfasste Artikel und Archivtexte über die Weltkriege aus. Über das «Flüchtlingsjahr 1915 in Buchs» etwa: Nach Ausbruch des Krieges wurden die italienischen Familien, die in Österreich gelebt hatten, als Angehörige eines nun plötzlich feindlichen Staates interniert und über die Schweiz in ihre Heimat abgeschoben. In Buchs gelangten sie auf Schweizer Boden. Im grossen Auswanderersaal, der seit Kriegsbeginn unbenutzt blieb, wurde ein Verpflegungsstand eingerichtet: «Für die ersten Transporte wurden zunächst 50 Zentner Brot und 2000 Liter Milch bereitgestellt. Die einheimischen Bäcker und Metzger hatten als Lieferanten alle Hände voll zu tun», heisst es in Rohrers Artikel. Bezahlt habe dies später die italienische Regierung. Und bei der Abfahrt aus Buchs riefen die italienischen Heimreisenden aus dem Zug: «Evviva la Svizzera!»
Weniger zu erfahren ist, wie im Zweiten Weltkrieg jüdische Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen wurden. Immerhin finden sich Arbeiten von Studentinnen über einzelne jüdische Flüchtlingsfamilien, die versteckt in Güterzügen über Buchs in die Schweiz einreisten. Besser dokumentiert ist der Ansturm von Flüchtlingen, die sich kurz vor dem Zusammenbruch des Nazireichs aus deutscher Kriegsgefangenschaft befreiten und in der Schweiz Zuflucht suchen wollten. Die Gegend zwischen dem Städtchen Feldkirch in Österreich und der Grenze glich Ende April 1945 «einem Heerlager, in dem Tausende und Abertausende sich zusammendrängten, um noch die Grenze passieren zu können, ehe sie aufs Neue durch die letzten kriegerischen Handlungen in diesem nun plötzlich zur Front gewordenen Gebiet in den Mahlstrom des Verderbens gerissen wurden», so wird im «Werdenberger Jahrbuch» ein Zeitzeuge zitiert.
Mit einer Rangierlokomotive und ein paar alten österreichischen Waggons zog man in Buchs kurzerhand einen Pendelverkehr auf, um die Flüchtlinge in die Schweiz zu holen. Beim Bahnhof wurden die Ankömmlinge «hinter die Stacheldrähte des Auffanglagers praktiziert. Man wusste ja keineswegs, mit was für ansteckenden Krankheiten diese Leute behaftet waren, und darum sollte ein Kontakt mit der Zivilbevölkerung so gut als möglich vermieden werden.» Die Flüchtlinge wurden verpflegt, registriert und «durch die Desinfektionsräume geschleust», so der Zeitzeuge. Danach ging es mit dem Zug weiter ins Landesinnere, etwa ins Hallenstadion Zürich. An einzelnen Tagen kamen so über 3500 Flüchtlinge in Buchs an.
Grosser Bahnhof für die Opfer des Kommunismus
Wie viel herzlicher fiel da der Empfang der Flüchtlinge aus Ungarn 1956 aus. In der Buchser Stadtchronik, die Hansruedi Rohrer heute nachführt und verwaltet, findet sich ein Bericht vom 9. November 1956: «Kurz nach zwei Uhr nachmittags traf ein Sonderzug mit 364 Flüchtlingen in Buchs ein. Eine grosse Menschenmenge hatte sich zur Ankunft auf dem Bahnhof eingefunden, um den Flüchtlingen in herzlicher Weise Sympathie und Willkomm zu entbieten.» Freilich wurden auch die Ungarinnen und Ungarn im Barackenlager des Grenzsanitätsdienstes aufgenommen, einer «notwendigen sanitarischen Untersuchung unterzogen» und verpflegt. Später reisten sie weiter an verschiedene Orte in der Schweiz.
In jenen Tagen profilierte sich der Bahnangestellte Peter Züger, der seit 1950 am Grenzbahnhof tätig war, in besonderer Weise: Züger sprach Ungarisch und begrüsste die Flüchtlinge über die Lautsprecheranlage in ihrer Sprache. Diese reagierten laut Jahrbuch «mit Akklamation, Freudentränen und lautstarken Zurufen Eljen- eljen! (hoch -hoch!)». Die Stimmung gegenüber den Opfern des Sowjetregimes war vergleichbar zur heutigen Situation mit den Ukrainerinnen: Die Bevölkerung in der Schweiz solidarisierte sich mit den Opfern des russischen Angriffs.
Dazu erhielt sie 1968 noch einmal Gelegenheit, als nach der Niederschlagung des Prager Frühlings tschechische und slowakische Flüchtlinge in Buchs eintrafen. Auch sie erhielten einen warmen Empfang. Auf einem Plakat bei der neu errichteten Auffangstation etwas südlich des Bahnhofs hiess es: «Wir bewundern euren Mut und eure Tapferkeit.» In der Zeitung wurde rapportiert: «Die Bevölkerung von Buchs hat in den letzten Tagen wiederholt Blumen in die Auffangstelle gebracht und für die Neuankömmlinge ein Kinderzimmer eingerichtet.»
Niemand winkt den bosnischen Flüchtlingen zu
Flüchtlingsbewegungen gab es seither immer wieder: die Boatpeople aus Vietnam 1979, die Polen 1982. Stets waren auch Rotkreuzmitarbeiterinnen vor Ort, die sich um Kinder, Verletzte, Kranke und Schwache kümmerten. Von einem grossen Bahnhof wie 1956 aber konnte kaum mehr je die Rede sein. Als im Juli 1992 ein Zug mit 1000 bosnischen Flüchtlingen eintrifft, berichtet der «Werdenberger und Obertoggenburger» von einer peinlichen Situation: Als die «müden und matten» Flüchtlinge den Personen am Bahnhof zuwinken, erwidert niemand diese schüchternen Grüsse. Der Grund: «Das Gelände, auf das der Flüchtlingszug einfährt, ist nämlich von Sicherheitskräften von Polizei, Feuerwehr und Bahn abgeriegelt. Im Innenraum befinden sich nur mehrere Dutzend Journalisten und viele Helfer. Und von denen winkt niemand.»
In den letzten beiden Jahrzehnten, mit der Personenfreizügigkeit, hat Buchs viel von seinem Charakter als Grenzbahnhof verloren. Die Zollstation ist weg, das Bahnhofbuffet sowieso. Flüchtlinge kommen immer noch, sei es aus Syrien oder wie bis vor kurzem vor allem aus Afghanistan. Doch mit dem Zoll sind die Szenen von Ankunft, Betreuung und Kontrolle aus dem Bahnhofgebiet verschwunden. Sogenannt illegal Einreisende werden diskret ins Provisorische Bearbeitungszentrum Buchs im Industriegebiet oder das Bundesasylzentrum in Altstätten gebracht. Ein Willkommensakt der anonymen Art. Wie viele aus der Ukraine über Buchs einreisen – niemand weiss es.