Taxi

Reality Check - Geschichten rund ums Taxi in Berlin und weltweit - Materialsammlung, Bilder, Videos, Texte

  • Berliner lebt von 317 Euro
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/berliner-ex-koch-hat-317-euro-netto-ich-habe-manchmal-nur-4-euro-am

    Ein großer Teil der Berliner Fahreinnen und Fahrer von Taxis und Mietwagen lebt wie in diesem Artikel geschildert. Er zeigt beispielhaft, wie sehr Menschen aus allen im Gesetz gegen die Schwarzarbeit (SchwarzArbG) genannten Branchen von Armut und Altersarmut betroffen sind. Die ist für sie fast unvermeidbar, egal wie sehr sie sich anstrengen:

    1. im Baugewerbe,
    2. im Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe,
    3. im Personenbeförderungsgewerbe,
    4. im Speditions-, Transport- und damit verbundenen Logistikgewerbe,
    5. im Schaustellergewerbe,
    6. bei Unternehmen der Forstwirtschaft,
    7. im Gebäudereinigungsgewerbe,
    8. bei Unternehmen, die sich am Auf- und Abbau von Messen und Ausstellungen beteiligen,
    9. in der Fleischwirtschaft,
    10. im Prostitutionsgewerbe,
    11. im Wach- und Sicherheitsgewerbe. ...

    ... müssen Beschäftigte nach § 2a Abs. 1 Nr. 1 bis 10 SchwarzArbG bei der Arbeit Personalausweis und Sozialversicherungsausweis mit sich führen. Damit kann leichter geprüft werden, ob sie bei der Sozialversicherung gemeldet und für sie Lohnsteuer gezahlt wird. Gegen Niedriglöhne und Altersarmut hilft das Gesetz jedoch nicht.

    Die einfachen abhängig Beschäftigten und kleinen Selbständigen dieser Branchen befinden sich in einer Zwickmühle. Entweder sie akzeptieren, dass ihnen ein großer Teil des Lohns unter der Hand ausgezahlt wird, und sie damit höhere Transferleistungen erhalten. Beide Einnahmequellen zusammen ermöglichen ein normales Leben oberhalb der Armutsgrenze. Oder sie sind ehrlich und leben auch während der Zeit ihrer Erwerbstätigkeit in Armut. Die Altersarmut ist ihnen in jedem Fall sicher.

    Unter diesen Umständen fällt die Entscheidung so gut wie immer für „das schnelle Geld“, was neben verschärfter Altersarmut weitere Probleme und Gefahren mit sich bringt.

    – Die Bosse locken ihre Arbeiterinnen und Arbeiter in eine Gaunergemeinschaft, in der Gehorsam und Loyalität rücksichtslos durchgesetzt werden.
    – An das Erstreiten besserer Entlohnung ist nicht zu denken.
    – Gewerkschaftliche Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen wird massiv erschwert.
    – Betriebrat? Fehlanzeige! Damit entfallen Mitsprache im Betrieb und Einigungsstellen bei Konflikten zwischen Boss und Belegschaft.
    – Der mächtige Boss verhandelt immer mit einzelnen schwachen, armen und machtlosen Angestellten.
    – Kein Kündigungsschutz, oft gibt es kein Kranken- und Urlaubsgeld.
    – Der Boss kann sich wie ein kleiner König aufführen, unmögliche Arbeitszeiten oder unbezahlte Arbeit anordnen.
    – Und nicht zuletzt gilt, „die Kleinen henkt man, die Großen läßt man laufen“, und wenns die doch mal erwischen sollte, greift „mitgefangen, mitgehangen“.

    Die innerbetrieblichen Beziehungen sind deshalb oft von rüde: „Chef, wenndu nicht zahlst, ich fahr das Auto gegen Baum.“

    Hier nun der Artikel über den frühverrenteten Koch. Ein tapferer Mann, dem wie den meisten seiner Schicksalsgenossinnen und -genossen nach Jahrzehnten harten Schuftens noch der bescheidendste Wohlstand verwehrt wird und immer noch glaubt, was man ihm eingebleut hat: „Hättest Du in die Sozialversicherung eingezahlt, würde es Dir jetzt nicht so gehen!“ Das ist eine Lüge, ein millionenfach gebrochenes Versprechen für Niedriglöhner, mit dem Menschen in lebenslange Ausbeutung gezwungen werden.

    20.8.2022 von Anne-Kattrin Palmer - Jeder hat seine Probleme, jeder schultert sie anders. Michael M. nickt, sagt: „Ja, das ist so. Ich wäre auch gerne gesund, aber Stress ist für mich Gift.“

    Der Berliner, den wir in einem Park treffen, ist 57 Jahre alt. Er ist groß und kräftig, hat kurze, halb graue Haare und trägt Jeans und ein Leinenhemd. „Ich habe immer auf mein Äußeres geachtet, man soll mir meine Situation nicht ansehen.“ Wir setzen uns auf eine Bank im Schatten mit Blick auf eine Kirche.

    Michael M. ist seit sechs Jahren erwerbsgemindert und musste seinen Beruf aufgeben. „Ich bin gelernter Koch und habe mein halbes Leben in der Gastronomie und Hotellerie verbracht.“ Er sei immer selbstständig unterwegs gewesen, erzählt er. „Ich bin durch ganz Deutschland gereist und oft in Restaurants eingesprungen, wenn Not am Mann war.“

    Als Caterer hat er auch gearbeitet, er belieferte Messen und Events. „Als ich den Beruf erlernt habe, in den 80ern, hieß es schon, dass Koch ein Mangelberuf ist. Das ist heute noch so, überall fehlen die Kräfte in der Gastronomie. Auch, weil es ein Knochenjob ist.“

    Er selbst musste mit 51 Jahren aufhören, sagt er. „Ich war aufgebraucht und ausgelaugt.“ Oft habe er sechs, sieben Tage die Woche gearbeitet, vom Morgen an bis Mitternacht. „Gastronomie ist ein hartes Geschäft. Und irgendwann hat mein Körper Signale geschickt, dass er es nicht mehr mitmacht.“

    Michael M. konnte plötzlich keinen Bus und keine Bahn mehr betreten, traute sich nicht mehr in Kaufhäuser. „Es waren Angstzustände, ausgelöst durch die Belastung.“
    Serie: Kassensturz – so viel bleibt den Berlinern zum Leben

    Lebensmittel sind teurer geworden, Heiz- und Energiekosten gestiegen. Der Winter wird hart, heißt es, die Prognosen sind düster. Wie können Berliner und Berlinerinnen das schultern?
    Wir treffen Angestellte, Rentner, Gastronomen und viele mehr, die uns offen darlegen, wie viel sie verdienen und was davon jetzt und künftig noch übrig bleibt. Alle, die uns einen Blick in die Haushaltskasse erlauben, bleiben auf Wunsch anonym.
    Wenn auch Sie uns Ihre Lage schildern wollen, können Sie uns gerne schreiben. Kontakt: leser-blz@berlinerverlag.com

    Damals riet ihm sein Arzt, die Notbremse zu ziehen und einen Rentenantrag zu stellen. „Ich habe seinen Rat befolgt, und ruckizucki hat man mich in Rente geschickt.“ Seitdem erhält er monatlich von der Deutschen Rentenversicherung 52,50 Euro. Er sagt: „Es ist so wenig, weil ich damals als dummer Mensch nicht eingezahlt habe. Daher beklage ich mich nicht und jammere nicht rum.“ Dafür habe er vorher gut verdient. „So zwischen 2500 und 5000 Euro im Monat“, sagt er, fügt hinzu: „Aber wenn es einem gesundheitlich schlecht geht, nutzt kein Geld der Welt.“

    Michael M. lebt heute von seiner Mini-Rente, die allerdings verrechnet wird, und von Grundsicherung. Monatlich erhält er 1066,23 Euro. So steht es auf dem Papier, überwiesen bekommt er 841,24 Euro. Abgezogen sind bereits 220,30 Euro für die Krankenkasse, inklusive Pflegeversicherung. Den Betrag überweist die Behörde direkt an die Kasse.

    Er kramt in seinen Unterlagen. „Der Rest steht mir persönlich zur Verfügung. Davon zahle ich aber auch Miete und Nebenkosten“, sagt er. Seine 70 Quadratmeter große Wohnung kostet 411,47 Euro monatlich, hinzu kommen derzeit Heizkosten in Höhe von 22 Euro und Strom mit 43 Euro. „Ich habe einen alten Mietvertrag. und der ist Gold wert.“
    Kassensturz: Berliner überlegt sich genau, wie er sein Geld einteilt

    Der Vermieter habe ihm allerdings schon angekündigt, dass er die Miete um 15 Prozent erhöhen muss. Auch die Heizkosten würden sich wahrscheinlich um das Vierfache erhöhen. „Das zahlt das Amt. Aber trotzdem werde ich weiter sparsam leben. Ich drehe meine Heizung selten auf. Im Winter kann ich auch mit einem dicken Pullover in einem Zimmer sitzen.“ Ansonsten zahle er noch 4,90 Euro Kontoführungsgebühren sowie 4,99 für seine Handy-Flatrate. Außerdem bezieht er Prepaid-Internet. „Das kostet mich 29,99 im Monat.“ Hinzu kommen Drogerieartikel, manchmal Medikamente, die Kosten für den Waschsalon.

    Michael M., der in Charlottenburg geboren ist, sagt: „Ich habe 317,32 Euro zum alltäglichen Leben übrig und haushalte damit wie ein Kaufmann. Darin bin ich geübt. Man muss sich sehr wohl überlegen, wie man sich das Geld einteilt.“ Er habe etwa zehn Euro am Tag, manchmal seien es aber auch nur sieben oder vier Euro. „Falls plötzliche Ausgaben anstehen.“
    Der Berliner durchforstet täglich alle Prospekte

    Lebensmittel sind ihm wichtig. „Das Essen muss gut sein, dann ist die Laune auch besser.“ Er lächelt und sagt als Mann vom Fach, welches System ihm hilft, über die Runden zu kommen: „Der Gewinn liegt im Einkauf. Ich studiere alle Prospekte, notiere mir Artikel, die mir gefallen.“ Täglich klappere er alle Supermärkte in seiner Umgebung ab, immer auf der Jagd nach Sonderangeboten.

    „Das tut mir gut. Ich komme raus und treffe Menschen.“ Heute gibt es zum Beispiel Schnitzel zum Mittagessen. „Bei einem Supermarkt gab es Schweinerücken im Angebot. Das Kilo 5,99 Euro. Ich habe mir ein halbes Kilo gegönnt. Daraus kann ich Schnitzel machen, Rouladen und mehr. Dann habe ich drei Tage zu essen.“ Er sei schließlich gelernter Koch. „Ein Bekannter von mir lebt nur von Essen aus Büchsen. Das könnte ich nicht.“

    Manchmal geht er zum Wochenmarkt in Charlottenburg, es ärgert ihn, dass dort die Currywurst inzwischen 3,20 Euro kostet. Er sagt: „Gut, die müssen bei den steigenden Energiepreisen auch reagieren. Doch mir tut jeder Euro mehr weh.“ Er sei aber clever, habe sich eine andere Bude gesucht. „Dort kostet die Wurst noch 2,20 Euro.“ In Siemensstadt habe er einen weiteren Imbiss entdeckt, bei dem die Wurst nur 1,80 Euro koste.

    An der Kirche auf dem Charlottenburger Wochenmarkt gibt es wöchentlich die Lebensmittel-Ausgabe der Tafel. „Das Angebot nehme ich nicht wahr. Ich fühle mich nicht arm.“ Das sei eine Kopf-Geschichte. „Jetzt, in dieser Situation, habe ich weniger Geld zur Verfügung, aber ich bin immer noch der, der ich war.“ Er zuckt mit den Schultern. „Was mich manchmal ärgert, ist, dass ich mir nichts spontan kaufen kann. Eine meiner zwei Hosen ist zerrissen. Ich kann nicht einfach losgehen und mir eine neue holen.“

    Am 15. Juli sind überraschend 200 Euro auf seinem Konto angekommen, der Zuschuss des Staates für die Krisenzeit, in der alles teurer wird. „Das Geld lege ich auf die hohe Kante.“ Sollte etwas passieren, habe er ein kleines Polster. „Bei mir gehen immer wieder Haushaltsgeräte kaputt. Das ist schon eine Frechheit, dass die heute nicht mehr so lange halten. Das war früher anders, meine Oma hatte ihren Staubsauger 40 Jahre lang.“ Jüngst haben sein Fernseher und sein Staubsauger den Geist aufgegeben. Er suchte bei Ebay nach einem neuen Modell, fand eines für 50 Euro. „Man muss erfinderisch sein, sonst steht man am Monatsende ohne Geld da. Den Preise für den Fernseher musste ich allerdings von meinem Tagessatz abziehen und konnte weniger einkaufen.“

    Damit habe er klarzukommen. Beim Amt für Soziales habe er auch schon mal ein Darlehen beantragt, wenn ihm etwas in seinem Haushalt in die Brüche gegangen war. „Ich musste einmal sieben Monate auf eine Antwort warten. Daher lass ich das einfach.“ Ansonsten komme er mit den Behörden gut klar. „Ich habe kaum Schwierigkeiten, man findet immer einen Weg.“

    Michael M. besitzt kein Auto, mit den Öffentlichen kann er bis heute wegen seiner Angstphobie nicht fahren. Er hat sich ein Fahrrad gekauft „Damit radele ich überall hin, ob es schneit oder stürmt, das spielt keine Rolle.“ Er fügt hinzu: „Sollte das kaputt gehen, habe ich ein richtiges Problem.“

    Jüngst hat er mal wieder eine politische Debatte verfolgt, wie so oft hat er sich geärgert. Es ging um die vermeintliche „Gratismentalität“ im Zusammenhang mit dem auslaufenden 9-Euro-Ticket, FDP-Chef Christian Lindner benutzte diesen Ausdruck. Michael M. hat sich darüber aufgeregt. „Ich vermisse den Respekt gegenüber Menschen, die eben nicht viel Geld haben.“

    Er lehnt sich zurück, sagt: „Ich habe immer wieder das Gefühl, dass Menschen, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind, runtergemacht werden. Als seien sie Gauner und würden dem Staat extra auf der Tasche liegen. Natürlich gibt es solche und solche, aber das kann man doch nicht über einen Kamm scheren“, sagt er und fügt hinzu: „Viele wissen doch gar nicht, wie schwer es ist, über die Runden zu kommen. Manchmal frage ich mich, ob die Politiker noch sagen können, wie viel eigentlich ein Liter Milch kostet.“

    Stattdessen werde eine Politik betrieben, die Menschen sozial ausgrenze. „Die größte Ohrfeige war für mich am Jahresanfang die 3-Euro-Erhöhung der Grundsicherung pro Monat. Das hilft uns kaum. Schon in den Corona-Zeiten sind die Preise in den Supermärkten gestiegen.“ Grundsicherung und Hartz IV müssten doch den Lebensumständen angepasst werden, sagt er. Daher sei es auch richtig, dass die Sozialverbände dagegen klagen.

    Sein „Held“ sei derzeit der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher. „Er nennt die Dinge beim Namen“, sagt er. Der Ökonom warnte jüngst vor einer „sozialen Polarisierung“. Die Politik habe die Pflicht, angesichts einer drohenden Gasknappheit für Versorgungssicherheit zu sorgen. „Die Situation ist bedrohlich“, mahnte Fratzscher. Weil die Preise explodiert seien. Laut Fratzscher haben die zwei bislang geschnürten Entlastungspakete nicht die Menschen „am unteren Ende gezielt entlastet“. Rentner und insbesondere Menschen, die Sozialleistungen wie Hartz IV erhielten, seien zu wenig unterstützt worden. Gerade sie hätten aber „keine Schutzmechanismen“, um längere Zeit mit hohen Preisen klarzukommen.

    Michael M. fühlt sich ernst genommen, wenn er so etwas hört. „Ärmere Menschen brauchen mindestens 680 Euro im Monat zum Leben. Das ist angesichts der steigenden Kosten angemessen. Es würde den betroffenen Menschen mehr Spielraum geben.“

    So sehen das auch die Sozialverbände, die nach der Bekanntgabe der Höhe der geplanten Gasumlage sich in dieser Woche wieder in Position gebracht haben und auf schnelle weitere Hilfen des Staates für ärmere Haushalte pochen.

    „Die Bundesregierung darf die Menschen mit kleinem Geldbeutel jetzt nicht allein lassen“, forderte etwa der Präsident des Sozialverbands Deutschland (SoVD), Adolf Bauer. Es brauche jetzt schnell „armutsfeste Regelsätze“ in der Grundsicherung sowie die Einführung der Kindergrundsicherung, sagte er der Funke-Mediengruppe. Er warnte davor, dass die Gasumlage in Höhe von 2,419 Cent die Teuerungsrate in Deutschland nochmals deutlich erhöhen werde: „Auf einen Familienhaushalt kommen zusätzlich zu den gestiegenen Gaspreisen durch die Gasumlage Mehrkosten von mehreren Hundert Euro zu.“ Der Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, twitterte, dass die Gasumlage die Gaspreise durch die Decke gehen lasse. Daher müsse es jetzt ein Entlastungspaket für Einkommensschwache geben und nicht erst im nächsten Jahr.

    Michael M. nickt. „Ich bin gespannt, was uns jetzt noch erwartet und wie wir die Krise stemmen.“ Alexander von Schönburg habe 2005 in seinem Buch „Die Kunst des stilvollen Verarmens“ beschrieben, wie man ohne Geld reich wird, sagt der Berliner. Und schon damals darauf aufmerksam gemacht, dass die fetten Jahre längst vorbei seien. „Er meinte, dass wir alle uns mehr einschränken müssen.“ Jetzt sei es wohl endgültig so weit.

    Manchmal frage ich mich, ob die Politiker noch wissen, wie viel eigentlich ein Liter Milch kostet.

    Was mich manchmal ärgert, ist, dass ich mir nichts spontan kaufen kann.

    Ich drehe meine Heizung selten auf. Im Winter kann ich auch mit einem dicken Pullover in einem Zimmer sitzen.

    Michael M. über die steigenden Heizkosten.

    * Alle Namen sind verändert, der Redaktion aber bekannt.

    #Berlin #Arbeit #Krankheit #Armut #Grundsicherung