Gerwald Claus-Brunner : Die Anatomie eines Verbrechens

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    Le membre du parti pirate de Berlin le plus contreversé tue un ancien collaborateur et se donne la mort ensuite.

    Zu Beginn dieses Textes muss eine Feststellung stehen. Gerwald Claus-Brunner war ein kranker Mensch. Es stimmt möglicherweise nicht, was viele zu wissen glaubten, weil er es ihnen erzählt hatte: dass er an einem Gendefekt litt und nur noch einige Monate zu leben hatte.

    Claus-Brunner war psychisch krank, das wussten alle um ihn herum, das wusste er wohl auch selbst, und in seinem Umfeld heißt es, dass er in Behandlung war. Doch die Therapie konnte die Katastrophe nicht abwenden. Auch die Menschen um ihn herum hatten wohl keine Chance, oder sie erkannten sie nicht.

    In der vergangenen Woche hat Gerwald Claus-Brunner, Mitglied der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und einer der bekanntesten Politiker seiner Partei, einen Mann, den er liebte, brutal umgebracht. Anschließend richtete er sich selbst.
    Immer mit dem politischen Projekt verbunden

    Die Wahnsinnstat steht für sich. Claus-Brunner hätte sie möglicherweise auch begangen, wenn er noch in seinem alten Beruf als Mechatroniker gearbeitet hätte und nie bekannt geworden wäre. Doch der 44-Jährige war nicht nur bekannt, er war berühmt. Er war die Galionsfigur der Piraten, wurde mit seinem Kopftuch und der Latzhose überall erkannt.

    Und darum werden der Mord, den er begangen hat, und der Suizid nach der Tat für immer mit dem politischen Projekt verbunden sein, dessen Teil er war. Mit dieser Partei der Unangepassten, die aus dem Nichts zu kommen schien, kurze Zeit ein politisches Vakuum füllte, und nach der verlorenen Wahl am Sonntag dabei ist, wieder ins Nichts zu verschwinden.
    Ein verletzlicher Riese

    In der Pressestelle der Fraktion will der Sprecher am Mittwoch nichts sagen. Auch nicht auf die Frage, warum Gerwald Claus-Brunner eigentlich seit Jahren keinen regulären Sitz in einem Parlamentsausschuss mehr hatte. Es sei zu schwierig, darauf eine Antwort zu geben, dafür bitte er um Verständnis.

    Alexander Spies, der Co-Fraktionsvorsitzende, ist zu einem Gespräch bereit. „Er war ein verletzlicher Riese“, sagt er. „Er war unbeugsam. Und er hat sich oft verrannt.“

    Es gibt Leute, die bezeichnen den Umgang der Fraktion mit Claus-Brunner als Mobbing. Doch diese Darstellung beschreibt höchstens die halbe Wahrheit. Denn Claus-Brunner teilte selbst heftig aus, verbal wie auf Twitter. Wenn er das Wort „Tittenquote“ in Bezug auf Frauenförderung verwendete, dann war das eine seiner weniger unfreundlichen Äußerungen, weil er niemanden direkt angriff oder beleidigte.

    Dabei hatte alles so gut begonnen.

    Im Oktober 2009 trat Gerwald Claus-Brunner der Piratenpartei bei. Manche fragten sich schon damals, was er wollte bei diesem losen Zusammenschluss digitaler Avantgardisten. Er nannte sich den „Offline-Piraten“ und räumte mit seinem Engagement die Zweifel aus. Claus-Brunner galt als verlässlich, und er liebte, womit andere Piraten Probleme hatten: auf die Straße gehen, mit den Menschen reden.
    Kompromissbereit war er nur selten

    Dann, als die Piraten plötzlich an Zuspruch gewannen und im September 2011 ins Abgeordnetenhaus einzogen, lieh er ihnen sein Gesicht und seine Stimme. Der riesige Mann mit den komischen Klamotten – er sagte nur: „Das ist meine Arbeitskleidung, so laufe ich seit zwanzig Jahren rum, und im Parlament arbeite ich ja auch“ – wurde zum Lieblingsmotiv der Fotografen. Bei Markus Lanz wurde er gefragt, wie er sich Politik vorstelle. „Ich muss einfach so denken, wie die Leute auf der Straße“, antwortete Claus-Brunner. Dafür bekam er Applaus.

    Aber so einfach ist es nicht, und überhaupt: Was denken denn die Leute auf der Straße? Im Parlament muss man taktisch sein, zu Kompromissen bereit. Und das war Gerwald Claus-Brunner nur selten.

    Anfangs lief es gut, er saß in dem Sonderausschuss, der die Rekommunalisierung der Wasserbetriebe begleitete, ein Kernthema der Piraten. Auch im Finanzausschuss hatte er einen Sitz. Aber es funktionierte nicht auf Dauer. „Hinter harmlosen Fragen witterte er Verschwörungen“, sagt ein Fraktionskollege. Immer wieder stimmte Claus-Brunner gegen die Fraktion. Vertreter anderer Parteien beschwerten sich über sein Verhalten. Schließlich beriefen die Piraten ihn ab.

    Musste er sich Liebe erpressen?

    Was ihm blieb, war ein Vertreterposten im Petitionsausschuss. Dort engagierte er sich mit Herzblut. „Die Fraktionszugehörigkeit spielt im Petitionsausschuss keine Rolle, es geht immer um die Sache“, sagt die Grünen-Abgeordnete Anja Kofbinger. „Ich denke, das hat ihm sehr gefallen.“

    „Ich glaube nicht, dass er in die Politik gehört hat“, sagt eine frühere Parteifreundin. Zu einigen Themen habe er klare Standpunkte gehabt – etwa in sozialen Fragen. „Er bestand darauf, dass er ein Arbeiter ist.“ Aber ein zusammenhängendes politisches Weltbild habe er nicht gehabt.
    Tweet Brunners Mordopfer verpixelt

    Makaber: Dieses Foto postete Claus-Brunner am Freitag, den 16. September auf seinem Twitter-Account. Es zeigt Jan L., den Claus-Brunner bereits einen Tag zuvor, am Donnerstag, getötet haben soll.

    Doch nach einiger Zeit gab es gar nichts anderes mehr als die Politik in Claus-Brunners Leben – auch seine langjährige Beziehung zu einem jüngeren Mann ging in die Brüche. Und obwohl er überall aneckte, stapfte er weiter. Auf Parteitagen stellte er Anträge, die abgeschmettert wurden. Er kandidierte für Posten und bekam meistens nur eine Handvoll Stimmen.

    Als die Piraten ihre Landesliste zur Abgeordnetenhauswahl aufstellten, verbannten sie ihn auf Platz 27. Warum tat er sich das an? „Ich glaube, er hatte das Gefühl, dass er sich Liebe und Aufmerksamkeit erpressen musste“, sagt die frühere Parteifreundin.
    „Dann knallte die Wohnungstür, und es war erst mal Ruhe.“

    Und er blieb der Partei treu, bis zum Schluss. Noch am Donnerstag stand Gerwald Claus-Brunner an seinem Wahlkampfstand in Steglitz, postete ein Foto auf Twitter. Was danach passierte, hat die Polizei teilweise rekonstruiert. Am Abend fuhr Claus-Brunner mit dem Auto in die Koloniestraße in Wedding zur Wohnung von Jan Mirko L., seinem früheren Mitarbeiter.

    L. hatte ihn bereits einmal wegen Stalkings angezeigt. Jemand aus Claus-Brunners Umfeld sagt, er habe unter Wahnvorstellungen gelitten und geglaubt, den jungen Mann, der sich für Esoterik interessierte, aus einer Sekte befreien zu müssen.

    Im Fernsehen schaute sich L.s Nachbar Horst Schmidt gerade das Fußballspiel Schalke 04 gegen OGC Nizza an, als er im Hausflur laute Geräusche hörte. „Es hörte sich an wie ein Kampf, aber niemand schrie“, erinnert sich der Rentner. „Als wenn jemand jemanden packen würde. Dann knallte die Wohnungstür, und es war erst mal Ruhe.“

    Jan Mirko L. wohnte seit rund einem Dreivierteljahr in der Anderthalb-Zimmer-Wohnung. Im Bücherregal, das in dem engen Flur steht, liegt „Eine Anatomie der Macht“ von Noam Chomsky. Das zerwühlte Bett im Zimmer dahinter wirkte am Mittwoch, als wenn Jan Mirko L. gerade aufgestanden wäre. Im Ikea-Regal daneben stapeln sich Spiele. L. soll Spieleentwickler gewesen sein.

    Er wollte noch in die Psychiatrie

    Den Ermittlungen der Polizei zufolge überwältigte Claus-Brunner den ahnungslosen L., als der ihm die Tür öffnete. Er schlug ihm mehrmals heftig auf den Kopf und erwürgte ihn. Dann fesselte er die nackte Leiche mit Kabelbindern, befestigte ihn auf einer Sackkarre und transportierte ihn nach unten. Horst Schmidt kann sich an das Rumpeln erinnern. „Aber ich wollte nicht nachgucken. Manche ziehen hier ja bei Nacht und Nebel aus.“
    Wohnungstür des Opfers Fall Claus-Brunner

    Anschließend soll Brunner den Toten in seine Wohnung in der Schönhauser Straße in Steglitz geschafft haben. Ob er sich an dem Toten noch sexuell verging, wie eine Boulevard-Zeitung behauptete, ist Gegenstand der Ermittlungen der Mordkommission. Die Rechtsmediziner fanden bei der Obduktion jedenfalls keine Hinweise darauf.

    Nach dem Mord setzte Claus-Brunner am Sonnabend zwei Kurznachrichten bei Twitter ab: „Echter Kacktag heute, übertrifft sämtliche schlechten tage die ich je erlebt hatte bisher. Hoffe das Wochenende machts besser“, lautete eine Botschaft. Am selben Tag soll er Bekannten gesagt haben, dass er sich in die Psychiatrie einweisen wolle.

    Claus-Brunners letzte Botschaft zeigt einen lachenden jungen Mann in der S-Bahn. Überschrieben ist das Bild: „Meine Liebe, mein Leben, für dich lieber Wuschelkopf, für immer und ewig!“ Das Foto zeigt Jan Mirko L., der zu diesem Zeitpunkt tot in Claus-Brunners Wohnung lag. Am Sonntag, dem Wahltag, setzte Claus-Brunner mit einem Stromschlag seinem eigenen Leben ein Ende. Zuvor hatte er noch einen Abschiedsbrief an seine Parteifreunde gesandt. Am Montag riefen sie die Polizei.

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