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  • Die Fehler des Alltagspragmatismus
    Meinhard Creydt
    https://www.heise.de/tp/features/Die-Fehler-des-Alltagspragmatismus-7441310.html?seite=all

    Le pragmatisme tue au quotidien. Il est l’ennemi de l’analyse aprofondie qui permet de comprendre les raisons des faits.

    Über eine weit verbreitete wie unvermeidliche Mentalität, die nicht nur Kontroversen enge Grenzen setzt. Ein Essay.

    Der Alltagspragmatismus ist eine ebenso weit verbreitete wie unvermeidliche Mentalität. Überwältigt von seiner Selbstverständlichkeit, weiß er allerdings häufig nicht um seine Grenzen und dünkt sich dann auch außerhalb von ihnen als zuständig.
    Fixierung auf die Mittel

    Die Einwohner moderner westlicher Gesellschaften sehen sich genötigt, als um ihre Rechte wissende Verbraucher und informierte Kunden ständig auf dem Laufenden zu sein. Das Auswählen zwischen Angeboten verdrängt das Gestalten.

    Der Alltagspragmatismus entspricht der Absorption des Bewusstseins durch die Aufmerksamkeit für Mittel, Voraussetzungen und Bedingungen. Angesichts dieser „Tyrannei kleiner Entscheidungen“ (Kahn 1966) haben Bedürfnisse, die im Vergleich zu den alltäglichen Notwendigkeiten höherstufig und weiterreichend sind, das Nachsehen.

    Der Alltagspragmatismus konzentriert sich auf die Frage: „Wie erledige ich etwas?“ und auf Um-zu-Begründungen:

    Wir arbeiten, um Geld zu verdienen und uns und vielleicht unsere Familie zu ernähren. Wir essen, weil wir hungrig sind, schlafen, weil wir müde sind, gehen spazieren oder rufen einen Freund an, weil wir Lust dazu haben.
    Nagel 1990, 80

    All diese Rechtfertigungen und Erklärungen unseres Tuns betreffen Relationen zwischen Tätigkeiten und Zwecken. Ein solches Bewusstsein verbleibt in der Pragmatik des Alltagslebens. Ihm reicht es, „dass es sinnvoll ist, wenn ich am Bahnsteig bin, bevor der Zug abfährt, oder wenn ich die Katze nicht vergesse. Mehr brauche ich nicht, um in Gang zu bleiben“ (Ebd., 81).

    Sich pragmatisch Orientierende wollen Bescheid wissen, was auf welche Handlung hin zu erwarten sei. Von weitergehendem Erkennen sehen sie ab. Die Technologieforscherin Sherry Turkle befragte „einmal ein hochintelligentes junges Mädchen über die beste Art, ’SimCity’ zu spielen, […] ein Computer-Stadtplanungsspiel für Kinder. Eine der Regeln des Spieles lautet: ’Steuererhöhungen führen immer zu Aufständen’. Das Kind stellte nicht die Frage, warum Steuererhöhungen zu Aufständen führen, es wusste nur, dass es so ist, und das macht dieses Spiel einfach zu spielen“ (Sennett 1998, 95).

    Viele Ökonomen konzentrieren sich auf zu erwartende Abfolgen von Handlungen: Was tritt unter welchen Bedingungen wahrscheinlich ein und was nicht? Ökonomen interessieren sich häufig dafür, „warum der Marktpreis einer Ware über ihren Wert steigt oder unter ihn fällt, aber sie können nie über diesen Wert selbst Aufschluss geben“ (Marx, MEW 16, 119).
    Ausblendung von Nebenfolgen

    Der Alltagspragmatismus ist auf die direkten und augenscheinlichen Ergebnisse fixiert. Bei grundlegenden Innovationen wird nicht wahrgenommen, was sich durch sie verändert. Beispielsweise fügt das Fernsehen einem Land nicht nur additiv etwas hinzu, sondern verändert die Lebensweise und Politik. Der grundlegende Wandel wird in den Fragen, die die jeweilige Technik an einem eng umrissenen Auftrag messen wollen, verfehlt.

    Der Alltagspragmatismus blendet diejenigen Schichten des gesellschaftlichen Seins aus, die die immanente Nützlichkeit und Unumgänglichkeit des Gegebenen infragestellen. Es handelt sich um jenen „sog. Realismus, der, indem er die Verhältnisse für sich beansprucht, ihnen verfällt“ (Hofmann 1968, 93). Die Auffassung, die dem gegebenen Erwerbs- und Geschäftsleben immanenten Handlungen seien nützlich, verflacht die Aufmerksamkeit für das eigene Sein in der Welt.

    Die Nützlichkeitsansicht der Welt ist eine Außenansicht. Sie liefert mit schöner Regelmäßigkeit „den Nachweis, dass unter den existierenden Bedingungen die jetzigen Verhältnisse der Menschen zueinander die vorteilhaftesten und gemeinnützlichsten seien“ (Marx, Engels, MEW 3, 399). Der Alltagspragmatismus rückt diejenigen tieferen, indirekten und kontra-intuitiven Effekte und Implikationen des nützlichen Handelns, welche für das Individuum abträglich sind, an den Rand der Aufmerksamkeit.
    „Probleme lösen“

    Der Alltagspragmatismus setzt Denken mit „Probleme lösen“ gleich. Es sind „jeweils bestimmte, isolierte ’Probleme’ vorgegeben. Ausgeblendet aus dem Denkprozess bleibt dabei notwendig die Frage, warum jeweils gerade dieses und kein anderes Problem sich stellt oder gestellt wird, aus welchen Zusammenhängen das Aufkommen des Problems selbst wieder zu verstehen ist“ (Holzkamp 1976, 354).

    Der Alltagspragmatismus isoliert das jeweilige Problem „aus seinen umfassenderen Realzusammenhängen“ (Ebd., 355). Er nimmt die „umfassendere gesellschaftliche Realität als naturhaft-selbstverständlicher Pseudokonkretheit“ wahr, „an der es nichts zu begreifen gibt, in der man sich lediglich individuell zurechtfinden muss“, und dieses Verhalten gilt „als einzig vorstellbares, daher angemessenes menschliches Verhalten“ (Ebd., 356).

    Der Alltagspragmatismus tendiert infolge seiner antitheoretischen und antiintellektuellen Vorbehalte zu einer sich selbst schädigenden Beschränkung. Wer die Vorzüge grundlegender Reflexion nicht kennt, kann nicht um Klärung wissen, die aus ihr resultiert.

    Der alltägliche Pragmatismus weist eine zirkuläre Selbstverstärkung auf: „Wollen wir nur sämtlich bedenken, dass jeder nur erfährt, was er versucht.“ Häufig erfährt der Praktiker „nur das Misslingen seiner Pläne ohne Aufdeckung der Grundfehler“ (Herbart 1883, 8). Erfahrung macht nicht notwendigerweise klug. Viele wiederholen Fehler mit großer Ausdauer.
    Die Konzentration auf den kurzfristigen Erfolg

    Der Alltagspragmatismus kultiviert Fragen, die die Aufmerksamkeit eher schließen als öffnen. Beispielsweise geben „Fragen, die auf die unmittelbare Machbarkeit einer Idee zielen, dem Faktischen eine so große Präsenz, dass Fragen nach dem Möglichen dagegen so schmächtig aussehen wie ein Langstreckenläufer neben Arnold Schwarzenegger“ (Förster, Kreuz 2013, 190).

    Zu solch „schließenden“ Fragen gehört die Konzentration auf Fragen der Messbarkeit, der Kosten und der Dauer des Prozesses. Gewiss sind solche Kriterien legitim. Deren Verabsolutierung bildet das Problem.

    Selbstverständlich ist es relevant, „zu wissen, was etwas kostet – aber wenn das die erste Frage ist, die sofort reflexartig kommt, dann schränkt sie den Lösungstrichter, der in die Zukunft ragt, sofort auf einen kleinen Ausschnitt ein. Denn viele mögliche Lösungen werden dann automatisch ausgeschlossen, die Entscheidung ist mit dem bloßen Aufrufen des Wortes ’Kosten’ schon gefallen. […] Die Frage impliziert, dass wir mit einem hohen Preis ein Problem haben. Sie spiegelt zudem die Überzeugung, dass man alles noch günstiger haben kann. Dass wir unsere Ziele auch mit minimalem Aufwand erreichen können. Das wir lebenswerte Organisationen zum Sonderangebotspreis schaffen können“ (Ebd., 87).

    Ein Denken, das das „Primat der schnellen Lösung“ als oberstes Kriterium ansetzt, bevorzugt „das Dringende gegenüber dem Wichtigen“ (Ebd. 90). Die „viel zu dominante Frage nach der Zeitdauer und dem Tempo ist das Symptom für eine Haltung, die unbewusst Aktionismus und Kurzfristdenke fördert“ (Ebd.). Grundlegende Entwicklungen kommen demgegenüber nicht ohne „langwierige Kleinarbeit, tiefes Nachdenken und Konzentration“ aus" (Ebd., 91).

    Der alltägliche Pragmatismus entnimmt die Maßstäbe für die Beurteilung einer substanziellen Veränderung gerade den Umständen bzw. den Denkweisen, die Teil des Problems sind. Am Anfang einer Psychotherapie möchte der Klient eine grundlegende Veränderung, ohne seine Selbst- und Weltsicht umfassend infrage stellen zu brauchen.

    Auch in Bezug auf die Gesellschaftsveränderung ist die Haltung weit verbreitet, die eigene Aufgeschlossenheit für eine weitreichende Umgestaltung zwar zu beteuern, diese aber zugleich mit der Bedingung zu versehen, sie müsse unmittelbar praktikabel, kalkulierbar, ohne Wagnis und risikolos sein. Die Maxime lautet „Wasch mir den Pelz, aber mach ihn nicht nass!“
    Der heimliche Lehrplan

    Der Alltagspragmatismus ist aufmerksam für Probleme, die mit gutem Willen, geschicktem Handeln, ausreichender Kenntnis und Anstrengung gelöst werden könnten. Probleme, die notwendige Folgen von grundlegenden Strukturen der Gesellschaftsform (z. B. bürgerliche Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie) sind, interessieren den Alltagspragmatismus nicht.

    Mit dieser Voraussetzungen setzt er Kontroversen enge Grenzen. Eine Gesamtkritik einer Gesellschaftsformation erscheint dem pragmatischen Alltagspragmatismus als unpraktisch, als wenig erfolgversprechend und als nicht „konstruktiv“. Der Alltagspragmatismus kennt nur Streitende, die sich in einem einig sind. Sie teilen die Sorge um das Gelingen des Bestehenden sowie den Willen, es zu verbessern. Kritik dürfe nicht „negativ“ werden, sondern müsse auf Verbesserungsvorschläge hinauslaufen.

    Demgegenüber kann eine grundsätzliche Infragestellung der Gesellschaftsformation den Möglichkeitsraum viel weiter öffnen. Erst dadurch lässt sich Befürwortern und Verteidigern einer Gesellschaftsformation verdeutlichen, dass sie an einer Gesellschaft hängen, die auch durch Reformen nicht ihre Grundübel einbüßt.

    Die pragmatische Kritik geht anders vor. Sie bemängelt, jemand verwalte oder handhabe das Bestehende schlecht, mache aus ihm nicht das, was mit ihm möglich sei. Die pragmatische Kritik kennt kein Gesellschaftssystem oder eine grundlegende Gesellschaftsstruktur, sondern nur viele einzelne Baustellen. Insofern kann sie auch keinen Argwohn gegen die Strukturen der Gesellschaft im Ganzen entwickeln. Sie teilt die vorgegebenen Zwecke (z. B. Kapitalakkumulation), kreidet aber den Politikern oder Wirtschaftsmanagern an, sie würden diese Zwecke suboptimal realisieren.

    Wer die Grenzen einer Gesellschaftsformation (z. B. Feudalismus, Kapitalismus, Gesellschaften des sowjetischen Typs) erkennt, sieht das anders. Sie oder er begreift: Das zu beurteilende Objekt – also zum Beispiel die kapitalistische Ökonomie – steht notwendigerweise im Gegensatz zu grundlegenden Anliegen (zum Beispiel Lebensqualität im Arbeiten, Überwindung von Konkurrenz und Ausschluss durch Privateigentum). Daran ändert sich auch nichts durch die Verbesserung einzelner Defekte und Defizite.

    Wer eine Gesellschaftsformation infrage stellt, dem geht es nicht darum, "irgendwelche Missstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft. […] Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig (Horkheimer 1970, 27f.).

    Das pragmatische Handeln innerhalb der gegebenen Handlungsbedingungen lässt nicht zum Thema werden, wie diese Handlungsbedingungen selbst erweitert und umgestaltet werden können. Wer sich pragmatisch orientiert, fragt nach dem Möglichen und erhält immer nur als Antwort, was innerhalb der herrschenden Strukturen und im Bereich ihrer Variationsspielräume existieren kann.

    Der alltägliche Pragmatismus, der allein Stückwerkhandeln und Sich-Durchwursteln kennt, macht die grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen zur unthematisierbaren Voraussetzung jedes Handelns. Problem und Lösung, Ziel und Mittel sind die Seiten, die als Frage und Antwort immer gegenseitig nur kurzschlüssig aufeinander verweisen. Sie passen wie Deckel und Topf zusammen und verstellen pseudokonkret die Aufmerksamkeit für die übergreifenden Kontexte und zugrundeliegenden Strukturen.

    Das „pragmatisch Mögliche“ unterscheidet sich vom durch Gesellschaftstransformation Möglichen.

    Wer aber das Getriebe allzu gut kennt, verlernt darüber, es zu erkennen; ihm schwinden die Fähigkeiten der Differenz.
    Adorno 1976, 173

    Der Alltagspragmatismus entspricht einer Situation, in der die Individuen zurückgeworfen sind darauf, ihre Existenz sichern zu müssen. Infolgedessen bleiben sie auf die Mittel beschränkt (Lohnarbeit, Privateigentum u. a.), die zugleich Ursachen für ihre Probleme sind.

    Eine erweiterte Handlungsfähigkeit sieht sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, „dass man sich um der kurzfristigen, d.h. individuellen Absicherung der bestehenden Lebensmöglichkeiten willen gezwungen sieht, sich gegen die langfristigen Interessen, die systematische Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten gegenüber den beengenden Lebensbedingungen zu verhalten“ (Holzkamp-Osterkamp 1984, 50f.).

    Mehr noch: Widerständiges kollektives Handeln und Gegenmacht versuchen zwar, „ein höheres Handlungsfähigkeitsniveau durch Erweiterung der Möglichkeitsbedingungen der Handlungen zu erreichen.“ Mit diesem Unterfangen ist allerdings die Gefahr verbunden, dass „das gegenwärtige Niveau relativer Handlungsfähigkeit und Bedürfnisbefriedigung auch noch verloren gehen“ kann (Holzkamp 1983, 372). Die Orientierung am Machbaren reproduziert Handlungsbedingungen, in denen auf die Not immer (nur) die Nothilfe antwortet und die Nothilfe immer wieder die Bedingungen der Not erzeugt.

    Die Frage „was ist möglich?“ als Fangfrage

    Wer so fragt, schreibt häufig implizit alle maßgeblichen Variablen fest und tut gleichzeitig so, als sei sie, er oder es für alle Vorschläge offen. Die im Pragmatismus beliebte Frage: „Was schlägt Du vor? Wie soll es anders möglich sein ?“ ist eine Fangfrage, die implizit auf Fortsetzungsverhalten (inklusive leichter Variationen) festlegt. Diese Frage eröffnet scheinbar den Raum aller Möglichkeiten und schweigt zugleich über die Grenzen, die dem „pragmatisch Möglichen“ gesetzt sind.

    In der pragmatischen Vorgehensweise bildet „die kognitive Erfassung von ’Faktizitäten’ gegenüber der kognitiven Erfassung von ’Potenzialitäten’ das bestimmende Moment: Möglichkeiten, wo sie erkannt werden, erscheinen in einem solchen ’Faktizitäts’-Denken immer nur als Möglichkeiten unter ’faktischen’, unverfügbaren Bedingungen“ (Holzkamp 1983, 386).

    Wie die abhängige Variable sich vorstellt, alles sei zu ihrem Nutzen eingerichtet

    In der kapitalistischen Ökonomie sind die Menschen eingegliedert in eine Wirtschaft, in der die Arbeitskraft als Mittel fungiert für die Akkumulation des Kapitals. Die Lohnabhängigen meinen, dass ihre mehrwertschaffende Arbeit ihr Mittel ist. Dies stimmt auch, insofern die Arbeitenden durch die Vermietung der Nutzungsrechte an der Arbeitskraft ihr Arbeitseinkommen erzielen.

    Insofern dies Einkommen aber an einem sich den Arbeitenden entziehenden Zweck – der Akkumulation des Kapitals – hängt, ist das Mittel der Arbeitenden zugleich einer anderen Struktur und Dynamik untergeordnet. Arbeitslohn lohnt sich primär für die Seite, die ihn zahlt.
    Die Umsetzbarkeit als Maßstab der Erkenntnis – „Probleme sind zum Lösen da.“

    Der Alltagspragmatismus verstehe das als wahr, was Erfolg bringt, was sich also im Rahmen der bestehenden Strukturen durchsetzen lässt. Einerseits ist der Alltagspragmatismus insofern objektivistisch, als er die gesellschaftlichen Strukturen als der Gestaltung entzogen auffasst.

    Andererseits bewegt sich der Pragmatismus allein im Element desjenigen Handelns, das unter diesen Voraussetzungen möglich ist. Der alltägliche Pragmatismus setzt gesellschaftliche Strukturen mit natürlichen Gegebenheiten gleich. Beide gelten ihm als nicht veränderbare Randbedingungen des Handelns. Die Meinung breitet sich aus, mit allem lasse sich umgehen. „Zu heißes Klima, Wälder vertrocknen? Also züchten wir Bäume, die Hitze und Trockenheit vertragen!“
    Freude über das kleinere Übel

    Der Alltagspragmatismus freut sich an dem, was er „erreicht“ hat. Fast jedes Handeln lässt sich damit legitimieren, dass es als kleineres Übel aufgefasst wird. Das Lob dieses Handelns ist umgekehrt proportional zum Wissen um diejenigen massiven negativen Folgen grundlegender gesellschaftlicher Strukturen und Verhältnisse, die sich durch pragmatisches Handeln nicht verändern lassen. Umso geringer das Wissen über diese Folgen ist, desto größer die Genugtuung über das innerhalb dieser Strukturen Erreichbare. Bestenfalls gilt für den Erfolg des Alltagspragmatismus:

    Wir haben das Schlimmste vermieden, aber nicht das Schlimme.
    Romano Prodi

    Anhänger des Alltagspragmatismus verwenden ihre Energien nur auf Projekte, die – innerhalb der gegebenen Verhältnisse – nicht scheitern können. Sie realisieren damit paradoxerweise nicht ihren Anspruch, in der bestehenden Gesellschaft das Bestmögliche zu realisieren. Denn historische Erfahrungen zeigen: Substanzielle Verbesserungen in der bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie entstanden dadurch, dass die oppositionelle Seite (z. B. Arbeiterbewegung, APO 1967ff.) in Kämpfen mehr wollte, als im System unmittelbar erreichbar ist. Erst dadurch entstand der Druck, der die Gegenseite zu Zugeständnissen motivierte.

    PS: Wir haben in diesem Text vom Alltagspragmatismus gesprochen und nicht gefragt, ob pragmatistische Theorien dessen Fehler und Grenzen reproduzieren.
    Literatur

    Adorno, Theodor W. 1976: Minima Moralia. Frankfurt M.

    Förster, Anja; Kreuz, Peter 2013: Hört auf zu arbeiten! Eine Anstiftung, das zu tun, was wirklich zählt. München

    Herbart, Johann Friedrich 1883: Schriften zur Pädagogik. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. X. Hg. v. G. Hartensein. Hamburg und Leipzig

    Hofmann, Werner 1968: Universität, Ideologie, Gesellschaft. Frankfurt M.

    Holzkamp, Klaus 1976: Sinnliche Erkenntnis – Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung. Kronberg

    Holzkamp, Klaus 1983: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt M.

    Holzkamp-Osterkamp, Ute 1984: Marxismus – Feminismus – Arbeiterbewegung. In: Argument Sonderbd. 106 (Forum Kritische Psychologie, Bd. 13)

    Horkheimer, Max 1970: Traditionelle und kritische Theorie. Frankfurt M.

    Kahn, Alfred E. 1966: The Tyranny of Small Decisions: Market Failures, Imperfections, and the Limits of Economics. In: Kyklos, 19, S. 23-45

    MEW: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin (DDR) 1956 ff.

    Nagel, Thomas 1990: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie. Stuttgart

    Sennett, Richard 1998: Der flexible Mensch. Berlin

  • Hardliner, Neoliberale, Oligarchen : Der fragwürdige Erfolg der Ukraine
    https://www.heise.de/tp/features/Hardliner-Neoliberale-Oligarchen-Der-fragwuerdige-Erfolg-der-Ukraine-7445797.h

    Depuis la dissolution de l’Union Soviétique les peuples de l’Ukraine sont victimes des forces du néolibéralisme qui ont détruit son industrie et transformé l’ancienne république prospère dans le pays le plus pauvre d’Europe exportateur de matière primaires et produits agricoles. Le pays a perdu plus de dix millions d’habitants et ceux qui y sont restés acceptent des formes de survie de plus en plus inhumaines. En Ukraine se pratique le sytème de mères porteuses le plus important du monde avec celui de l’Inde.

    Vu sous cet angle l’émigration en temps de guerre n’est que la continuation accélérée d’un processus de dépeuplement qui ouvrira les portes à une modernisation high-tech du pays dans un temps record. Elle sera réalisée après la fin des hostilités armées par le capital occidental dont les prédateurs étatsuniens et allemands se disputeront la proie.

    Il s’agit d’une routine qui a fait ses preuves pour les impérialistes étatsuniens qui ont éjà accaparé quelques joyaux ukrainiens. Le pays remboursera pendant des décennies à ses amis les dépenses pour sa défense militaire. Grâce au levier de la dette ces groupes étrangers continueront à trancher préalablement toutes les questions à soumettre au parlement national. L’Ukraine verra alors une époque de pseudo- démocratie comme les deux Allemagnes après 1945.

    Nous verrons une interprétation néolibérale donc plus radicale â bien des égards du paradigme „Volk ohne Raum“. Sa version libérale s’appelle "capital en quête d’investissement" pour lequel on est en train de créer une issue heureuse.

    C’est une partie de poker avec des ossements en guise de jetons de casino. Participent à ce jeux les pays européens et l’Allemagne, la Russie, la Chine et les Etat Unis. Au premier tour commencent les #USA. D’abord on ruine les pays d’Europe par les conséquences économiques de la guerre. Ensuite pendant que les Euopéens peineront à récupérer on renforcera sa propre position en Ukraine à travers le remboursement des prêts de matériel de guerre.

    La stratégie des impérialistes allemands dans ce jeu de poker est différente mais aussi efficace. D’abord on continue à profiter de la main d’oeuvre ukrainienne bon marché et on investit dans les millions de réfugiées dont les hommes se font tuer par les russes. Le patronat d’Europe se rejouit de cette "immigration de qualité" alors que la nation allemande et surtout ses hommes profitent de l’arrivé massive d’ariennes dignes des meilleurs instituts "Lebensborn".

    Les capitalistes allemands étant plus discrets que leurs frères de classe étatsuniens on n’a pas entendu d’echo aussi fort de leurs activités ukrainiennes, mais ils n’ont certainement pas négligé d’investir dans le territoire dont ils préparent depuis 1945 à Munich la reconquête avec leurs camarades fascistes d’Ukraine.

    L’état allemand mise sur les futurs impôts suite aux profits faramineux que promet la reconstruction de l’Ukraine et s’octroie un premier crédit de guerre de 100 milliards appellé "patrimoine particulier" suivant les principes développés par le ministre de l’Économie du Troisième Reich Hjalmar Schacht : Pour préparer la guerre on emprunte une somme illimitée qu’on compte rembourser avec les profits issus de la conquête des territoires de l’Europe de l’Est

    En comparaison avec l’époque entre 1933 et 1939 cette fois on a mieux préparé le champ de bataille. Les autres pays de l’Est ont déjà été incorporé dans le bloc sous contrôle du capital allemand et on a conclu une alliance avec les élites des anciens états ennemis occidentaux. Là récupérer l’Ukraine est une affaire collective avec l’intention déclarée de ruiner la Russie et de la rendre inoffensive dans le conflit qui oppose l’alliance impérialiste sous domination étatsunienne au bloc sino-russe et au pays appartenant mouvement des non alignés.

    Personne ne nous explique comment on fera pour rembourser la dette contractée en notre nom pour financer la guerre en Ukraine. Pourtant le pari est simple : Ou l’affaire fonctionne comme prévue et tout le monde (qui fait partie des élites) se remplit les poches. Ou on ne rembourse pas. C’est une solution couramment employée par les gouvernements et celui des Etats Unis l’applique constamment. Nous, les gens simples et les vrais pauvres en pâtissent à chaque fois.

    Opposons-nous aux guerres et aux emprunts qui leurs sont destinés.

    21.2023 von David X. Noack - Mit der Annäherung an die EU verbanden sich in der Ukraine viele Erwartungen. Doch vom Maidan-Putsch 2014 bis zum völkerrechtswidrigen Angriff Russlands 2022 erlebte das Land einen wirtschaftlichen Niedergang. Die Perspektive ist düster.

    Laut der amtierenden deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) geht es im aktuellen Ukraine-Krieg um „Freiheit, Menschenwürde und Demokratie“ – Russland bedrohe dies und die Ukraine verteidige diese Werte.

    In unzähligen Talkshows durfte man in den vergangenen zehn Monaten vielfach hören und in Zeitungen durfte man seit dem Beginn des russischen völkerrechtswidrigen Angriffskrieges immer wieder lesen, dass die Ukraine eine „blühende Demokratie“ sei, die „an den Grenzen Russlands Erfolg“ hat. Schaut man sich die sozioökonomischen Daten der an die EU angegliederten Ukraine an, sucht man diese angebliche Erfolgsgeschichte jedoch vergeblich.

    Nach dem Staatsstreich des Februars 2014 übernahm unter dem radikalen Neoliberalen Arsenij Jazenjuk eine Regierung aus wirtschaftsliberalen Hardlinern und Neofaschisten der Vaterlands- und Swoboda-Partei die Regierung in Kiew.

    Im US-Magazin Forbes hieß es damals, Jazenjuk sei jemand „wie (der 2011 bis 2013 amtierende italienische Premier) Mario Monti: nicht gewählt und bereit zu tun, was der Internationale Währungsfonds wünscht“. Den nach dem Staatsstreich anberaumten Urnengang für das Staatsoberhaupt gewann der aus dem südukrainischen Budschak stammende Oligarch Petro Poroschenko.

    Auf die Putschregierung Jazenjuks folgte nach Wahlen im Oktober desselben Jahres eine Koalition des liberalkonservativen Blocks Petro Poroschenkos, der neoliberalen Volksfront Jazenjuks und der rechtsextremen Radikalen Partei das Ruder (letztere Partei trat jedoch nach einem Jahr aus dem Regierungsbündnis aus).

    Unter den verschiedenen von Poroschenko ernannten Regierungen trat zum 1. Januar 2016 das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der Europäischen Union vollständig in Kraft – in Teilen galt es schon vorher.

    Nachdem Poroschenko endgültig abgewirtschaftet hatte, gewann der bis dahin als Fernseh-Comedian bekannte Wolodymyr Selenskyj als damaliger Friedenskandidat die Präsidentschaftswahl 2019 und seine Partei die kurz darauf anberaumte Parlamentswahl.

    Obwohl er damals für eine Beendigung des Bürgerkriegs im Donbass und eine andere Außenpolitik – vor allem gegenüber Russland – stand, bekannte sich Selenskyj zu den Verpflichtungen gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der seit über drei Jahrzehnten neoliberale Schocktherapien in Ländern des Globalen Südens durchsetzt.

    Er wollte keinen vollständigen Bruch zu seinem Vorgänger, sondern setzte in ökonomischen Fragen auf Kontinuität. Keine einzige Regierungen vom Februar 2014 bis zum Februar 2022 setzte sich vom Weltwährungsfonds und seinen wirtschaftsliberalen Vorgaben ab – die unter Selenskyj leisteten sogar noch weniger Widerstand als die unter Poroschenko.

    Nach Vorgaben des IWF wurden etwa die ukrainischen Zölle gesenkt, das Rentenniveau eingefroren, Subventionen für den Gaspreis gekürzt und die Privatisierung des aufgrund seiner fruchtbaren Böden besonders wertvollen Landes erlaubt.

    Die über Jahre anhaltende neoliberale Rosskur der Ukraine wirkte verheerend auf das Land. Während einige internationale Großkonzerne profitierten und die lokalen Oligarchen versuchten, sich mit dem neuen System zu arrangieren, erlebte die breite Masse der Bevölkerung eine sozioökonomische Talfahrt sondergleichen.

    Aufgrund der niedrigen Zölle und der geografischen Nähe überschwemmten Produkte aus der EU die Ukraine und das Land erlebte eine dramatische Deindustrialisierung aufgrund der EU-Assoziierung. Von 2013 bis 2017 fielen die Ausfuhren um 31 Prozent. Besonders traf dies den industriellen Sektor: Der Wert der Exporte der stahlverarbeitenden Industrie stürzte beispielsweise von 21,2 Milliarden US-Dollar auf 12,7 Milliarden US-Dollar ab.
    Entlassungen in Rüstungsindustrie: Nordkorea profitierte

    Der über Jahre anhaltende Kollaps der ukrainischen Industrie und die sich damit ausbreitende Perspektivlosigkeit für einige Berufszweige hatte sogar Auswirkungen bis nach Ostasien. Der staatliche Rüstungsbetrieb Juschmasch im ostukrainischen Dnipro (früher: Dnjepropetrowsk) entließ nach Beginn der wirtschaftlichen Dauermalaise tausende Mitarbeiter – die Zahl der Angestellten sank insgesamt auf rund ein Sechstel.

    Einige entlassene Wissenschaftler verkauften daraufhin ihre Kenntnisse an nordkoreanische Stellen, was wiederum einen enormen Schub der Fähigkeiten des nordkoreanischen Raketenarsenals ermöglichte. In einer Art Kollateraleffekt trug der Einbruch der ukrainischen Wirtschaft infolge der EU-Assoziierung zur Nordkoreakrise der Jahre 2017/2018 bei.

    Im Maschinenbau – im zivilen Bereich hatte die Ukraine beispielsweise schon seit vielen Jahrzehnten eine eigene Produktion von Lokomotiven – halbierten sich die ukrainischen Ausfuhren von 2013 bis 2017 auf 4,9 Milliarden US-Dollar. Nicht nur bei Eisenbahnen, sondern auch bei den Flugzeugen brach die Produktion ein: So zum Beispiel bei Antonow – bis dahin ein Flaggschiff der ukrainischen Industrie. Ab dem Jahr 2015 produzierte der Kiewer Flugzeugbetrieb kein einziges Flugzeug mehr. Die Firma konnte nur durch den Flugbetrieb der Frachtfirma Antonow Airlines überleben.

    Im Jahr 2021 eröffnete sich erstmals seit Langem die Möglichkeit, dass Antonow in Zukunft wieder neue Flugzeuge baut – aber ausschließlich in einer Fabrik in China. Quasi als symbolischer Tiefpunkt des Flugzeugbetriebs ging die An-225 Mrija, das größte Flugzeug der Welt, bei der Schlacht um den Antonow-Flughafen in den ersten Tagen des russischen Angriffskrieges in Flammen auf.

    Zum ersten Mal in der Geschichte der unabhängigen Ukraine rückten im Jahr 2017 landwirtschaftliche Produkte zum Hauptexportgut des Landes auf. Damit stieg die Ukraine zu einem peripheren Staat – ähnlich vielen Ländern im Globalen Süden – ab. Mit der Deindustrialisierung gab es auch eine Neujustierung des Außenhandels. Bis zum Jahr 2013 teilte sich der ukrainische Export fast gleichmäßig zwischen der EU, den postsowjetischen Staaten und dem Globalen Süden auf.

    Nach dem Umsturz 2014 ging der Ost- und der Südhandel dramatisch zurück – die Europäische Union dominierte immer mehr im Außenhandel. Die ukrainischen Produkte, die dort einen Absatzmarkt fanden, unterschieden sich aber grundlegend von den Produkten, welche die Ukraine in den Osten und in den Süden exportierte.

    Hauptsächlich fanden damals wenig oder gar nicht verarbeitete Produkte ihren Weg aus dem osteuropäischen Land in die EU. Den größten Anstieg von 2013 bis 2017 verzeichneten etwa die ukrainischen Fett- und Ölexporte in die EU – sie stiegen um 195 Prozent an. Die EU-Assoziierung ließ die Ukraine immer mehr zu einem Agrarland werden.

    Neben der Wirtschaft kollabierte auch das Gesundheitswesen – schon vor der Coronapandemie. 2017 gaben in Umfragen 90 Prozent der Ukrainer:innen an, sich Behandlungen in dem eigentlich kostenlosen Gesundheitswesen nicht leisten zu können. Im Jahr 2018 traten in der Ukraine 65 Prozent aller gemeldeten Neuausbrüche von Masern auf dem europäischen Kontinent auf.

    Ferner litt das Land unter der zweitschwersten Aids-Epidemie Europas: Von 2010 bis 2016 verdoppelte sich die Zahl der mit dem HI-Virus infizierten Menschen. Die Coronapandemie verlief in dem Land ebenso katastrophal – Ende 2021 hatte das Land eine der niedrigsten Impfquoten in ganz Europa.

    Im Jahr 2020 hatte die Ukraine laut der Weltbank die niedrigste Lebenserwartung auf dem europäischen Kontinent – noch hinter Armenien und der Republik Moldau. Sie betrug etwa 71 Jahre – also genauso viele Jahre wie im zu diesem Zeitpunkt seit 17 Jahren durch Krieg und Besatzung geplagten Irak. Diese Entwicklung ist besonders tragisch, da noch Anfang der 1960er-Jahre die Menschen in der damaligen Ukrainische SSR eine höhere Lebenserwartung hatten als in weiten Teilen Westeuropas.
    Absturz auf Niveau von Sri Lanka und Iran

    Mit der Stagnation des realsozialistischen Systems in den 1970er- und 1980er-Jahren drehte sich das Verhältnis um, seit dem Übergang der Ukraine in den Kapitalismus entfernten sich die Abstände zwischen Ländern wie der Ukraine und beispielsweise Frankreich oder Deutschland und seit der EU-Assoziierung des osteuropäischen Landes verstärkte sich diese Entwicklung noch einmal.

    Beim Human Development Index (HDI) des Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP) sah es im Jahr 2021 ebenfalls nicht besser aus. Der Index fasst verschiedene Werte wie die Lebenserwartung, die durchschnittliche Schulzeit und das Pro-Kopf-Einkommen zusammen.

    Beim HDI landete das osteuropäische Land bei einem Wert von 0,773 und damit knapp hinter Sri Lanka (0,782) und dem Iran (0,774) sowie noch zwei Plätze vor der Volksrepublik China (0,768). Seitens des UNDP konnte auch keine ukrainische Erfolgsgeschichte festgestellt werden.

    In Reaktion auf die desaströse wirtschaftliche Lage, das politische Klima und die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Ukraine emigrierten immer mehr Menschen. Wie der damalige Außenminister Pawlo Klimkin 2018 einräumte, verließen jedes Jahr rund eine Million Menschen das Land. „Die Lage ist katastrophal“, erklärte der Politiker dem ukrainischen Fernsehsender Nastojaschaja Wremja (Unsere Zeit) und prophezeite: „Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen.“

    Für deutsche Konzerne hingegen sah die Situation ganz anders aus: Wie es Andreas Lier, der Präsident der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer, im Jahr 2018 formulierte, war die mit der EU assoziierte Ukraine die „beste Ukraine, die es jemals gab“.

    Während man seitens deutscher Großkonzerne über diese Ukraine frohlockte, sank die Größe der Bevölkerung immer weiter. Als Folge der sinkenden Lebenserwartung und ansteigenden Emigration schrumpfte die ukrainische Bevölkerung der Ukraine von 1990 bis 2021 von 51,8 Millionen auf 41,2 Millionen Einwohner:innen – ein Rückgang von über einem Fünftel. Nachdem die Bevölkerung der Ukraine in der realsozialistischen Zeit stetig gewachsen war, endete das Wachstum kurz nach dem Übergang in den Kapitalismus.

    Ein langsamer Niedergang setzte ein und verstärkte sich infolge der EU-Assoziierung. Allein im Jahr 2021 verlor die Ukraine über 440.000 Menschen durch niedrige Geburtenraten, hohe Sterbezahlen und eine anhaltende Emigration.

    Nach Erkenntnissen des IWF rutschte die Ukraine 2018 erstmals zum ärmsten Land Europas ab – noch hinter dem langjährigen Schlusslicht, der benachbarten Republik Moldau. Laut Angaben der neoliberal ausgerichteten Weltbank stieg die Zahl der Menschen, die unterhalb der offiziellen Armutsschwelle lebten, von 15 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2014 auf 25 Prozent im Jahr 2018.

    Das lag neben der allgemeinen Preisentwicklungen, den niedrigen Löhnen unter anderem an der Entwicklung der Energiepreise: Die Gaspreise für die einfache Bevölkerung stiegen von 2014 bis 2022 um sage und schreibe 650 Prozent. Bis in die Gegenwart erreichte die Ukraine nicht das BIP-pro-Kopf-Niveau von 1990 wieder. Ganz im Gegenteil: Laut Berechnungen der Weltbank liegt das BIP pro Kopf heute sogar 20 Prozent darunter.

    Die Geschichte der an die EU angelehnten und seit 2016 offiziell assoziierten Ukraine ist keine Erfolgsgeschichte, sondern eine Geschichte eines anhaltenden wirtschaftlichen Niedergangs, einer schrumpfenden Bevölkerung mit immer niedrigerer Lebenserwartung, einer immer größeren Emigration von Menschen aus dem Land und einem zerbröselnden Gesundheitssystems.

    Wenn Politiker in Westeuropa meinen, dass die Ukraine für „unsere Werte“ kämpfe, dann meinen sie nicht wirklich eine repräsentative Demokratie – sondern einen kaum gezügelten Neoliberalismus, der das Land de facto aber sozioökonomisch heruntergewirtschaftet hat.

    Gerhard von Mende
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Gerhard_von_Mende

    Generalplan Ost
    https://fr.wikipedia.org/wiki/Generalplan_Ost

    Le Grand Échiquier (1997) par Zbigniew Brzeziński (19282017)
    https://fr.wikipedia.org/wiki/Le_Grand_%C3%89chiquier_(livre)

    L’Ukraine est un des principaux pivots géopolitiques de l’échiquier eurasien, car « sans l’Ukraine [sous sa domination], la Russie cesse d’être un empire eurasien » ; la Russie pourrait chercher à obtenir un statut impérial sans contrôler l’Ukraine, mais serait alors réduite à un empire asiatique. Le contrôle de l’Ukraine est important, car il s’agit d’une région riche, qui permet d’utiliser la mer Noire librement, et notamment de commercer avec la mer Méditerranée sans partage. Si l’Ukraine venait à perdre son indépendance, la Pologne hériterait de son statut de pivot géopolitique et frontière de l’Europe à l’Est.
    La Russie est le principal pays qui occupe la zone centrale de l’Eurasie. Son endiguement est nécessaire à la préservation de la domination américaine dès lors que la Russie ne devient pas démocratique et continue de chercher à atteindre une domination internationale.

    #guerre #impérialisme#géopolitique #USA #Russie #Europe #Allemagne #Ukraine #nazis #fascistes

  • Ukraine-Konflikt und deutsche Leitmedien: Vielfalt und Ausgewogenheit in der Kriegsberichterstattung?
    https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Konflikt-und-deutsche-Leitmedien-Vielfalt-und-Ausgewogenheit-in-der-Kr

    3.1.2023 von Sebastian Köhler - Große Medien-Studie deutet auf eine gewisse leitmediale Einseitigkeit. ARD-Tagesschau erscheint eher als meinungsstarker „Flak-Kreuzer“, denn als „Nachrichten-Flaggschiff“.

    Die aktuelle Kriegs-Krise ist nach Flüchtlingskrise und Corona-Krise bereits das dritte große gesellschaftliche Thema innerhalb der vergangenen Jahre seit 2015, bei dem sich vor allem etablierte journalistische Medien auch in Deutschland massiver Kritik ausgesetzt sehen.

    Kürzlich wurde hierzulande, unterstützt von der IG-Metall-nahen Otto-Brenner-Stiftung, eine erste umfassendere empirische Studie als kommunikationswissenschaftlicher Forschungs-Zwischenbericht veröffentlicht zur Frage, welche Qualität die massenmediale Berichterstattung wichtiger etablierter deutscher Redaktionen über den Krieg in der Ukraine in der Zeit vom 24. Februar bis 31. Mai 2022 aufgewiesen habe.

    Das Studien-Team um Marcus Maurer ist zu verorten an den großen Medien-Instituten der Universitäten in Mainz und München. Im Zentrum der Analyse habe die Frage gestanden (S.3), „wie vielfältig und ausgewogen deutsche Nachrichtenmedien über den Krieg und unterschiedliche Positionen zum Krieg berichtet haben und ob sich dies im Verlauf der ersten drei Kriegsmonate verändert“ habe.

    Diese Forschungsfrage ist bemerkenswert formuliert, weil sie praktisch eine Vielfalt voraussetzt und dass es unter dieser Annahme nun darum gehe, das Ausmaß dieser Vielfalt und Ausgewogenheit zu messen. Dass dieses Ausmaß (zumindest theoretisch) auch „gegen Null“ gehen könnte, hatten die Autor:innen anscheinend eher nicht „auf dem Schirm“.

    Die Studie untersuchte nach eigenen Angaben mittels quantitativer Inhaltsanalyse bestimmte Bereiche der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg in jenen Wochen im angegebenen Zeitraum. Gegenstand seien knapp 4.300 Beiträge gewesen – und zwar informationsbetonte wie auch Kommentare, sofern sie sich in mindestens einem ganzen Absatz mit dem Thema „Krieg“ befassten.
    Die Auswahl der Medien

    Ausgewählt wurden acht klassische deutsche Leitmedien aus den Bereichen Print und TV. In der Studie werden sie bundesweite „Meinungsführermedien“ genannt: FAZ, Süddeutsche Zeitung, Bild, Spiegel, Zeit, ARD-Tagesschau (20 Uhr), ZDF-Heute (19 Uhr) und RTL-Aktuell (18:45). Es fällt auf, dass unter diesen Medien sicher einige sind, die als „rechts orientiert“ gelesen werden (können), aber kein Medium, dass sich ernsthaft „links“ labeln ließe.
    Die Perspektiven

    Im untersuchten Zeitraum hat laut Studie die Menge der Berichterstattung fast beständig abgenommen. Der Krieg sei dabei „überwiegend aus der Perspektive Deutschlands“ dargestellt worden – was auch immer dies sein mag: die Sichtweise und Interessenlage z.B. der Bundesregierung, der deutschen Großkonzerne, der deutschen Rüstungsindustrie oder aber der Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen? Jedenfalls (S.4) habe insgesamt „die Perspektive Deutschlands“ vorgeherrscht (42 Prozent).

    Relativ häufig sei auch die Perspektive der Ukraine eingenommen worden (28 Prozent). Die Perspektive Russlands habe dagegen sogar deutlich seltener gemessen werden können (10 Prozent) als die Perspektive weiterer Länder, z.B. anderer Nachbarstaaten Russlands (20 Prozent).

    Mit Blick auf die festgestellten Akteure wird deutlich, dass es Medien und Studie offenbar vor allem um Vertreterinnen und Vertreter der Regierungspolitik ging (80 Prozent aller in den Beiträgen Agierenden, S.5).

    Dabei sei die Bundesregierungs-Seite wiederum insgesamt etwa viermal präsenter gewesen als die gesamte (parlamentarische) Opposition. In Zahlen übersetzt: Rund 80 Auftritten von Regierungspersonen dürften ca. 20 Auftritte von Menschen des Nicht-Regierungslagers gegenübergestanden haben.
    Über-Repräsentanz der Regierungs-Parteien

    Das ist angesichts der Stimmenverhältnisse im Bundestag bemerkenswert, da dort die Ampel-Koalition von SPD, Grünen und FDP derzeit maximal auf etwa 56 Prozent der Stimmen kommt. Hier ist also eine im Vergleich zu Nicht-Kriegszeiten besonders deutliche Über-Repräsentanz der Regierungs-Parteien erkennbar, mit Blick auf die untersuchten Leitmedien (S.5).

    Die Studie hält fest: Die Union mit ihrem deutlichen Pro-Waffenlieferungen-Kurs erreichte immerhin 17 Prozent der Polit-Präsenz, Linkspartei und AfD hingegen hatten auch dieser Studie zufolge in der leitmedialen Kriegsberichterstattung praktisch keine Präsenz.

    Das erscheint bedenklich, mit Blick auf die Artikulationsaufgabe journalistischer Medien bezüglich aller gesellschaftlich wichtigen Strömungen gerade in Fragen von Krieg und Frieden.
    Bewertungen

    Wenig überraschend, dass die Ukraine und Präsident Selenskyj in der Berichterstattung weit überwiegend positiv dargestellt wurden (S.6f.), Russland und Präsident Putin hingegen fast ausschließlich negativ.

    Bemerkenswert an der Stelle wiederum: Noch positiver als die Ukraine wurde nur die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnisgrüne) dargestellt – einsame Spitze mit 68 Prozent positiver Bewertungen.

    Das erscheint auch deshalb interessant, weil den Forschenden zufolge die gesamte Bundesregierung und gerade Kanzler Olaf Scholz in jenen gut drei Monaten unterm Strich tendenziell negativ bewertet wurden in diesen acht Medien – zunächst eher noch positiv in Zeiten von des Kanzlers „Zeitenwende“-Rede, doch dann ziemlich deutlich negativ.

    Nicht zuletzt, weil Scholz angeblich zu „zögernd“ war, was z.B. die Lieferung von (schweren) Waffen an die ukrainische Kriegspartei betraf.
    Kritik

    Fragwürdig gerade hier wieder die Position und Perspektive der Forschenden: Es habe sich nicht gezeigt, „dass die von uns untersuchten Medien gegenüber der Bundesregierung insgesamt besonders kritiklos waren. Vielmehr bewerteten sie nur die grünen Minister Baerbock und Habeck (19 Prozent) deutlich positiv, während sie die übrigen Regierungsmitglieder überwiegend kritisierten“.

    Aber wer hätte ernsthaft behauptet, dass wichtige Medien beim Thema „Krieg in der Ukraine“ gegenüber der Bundesregierung „insgesamt besonders kritiklos“ gewesen wären?

    Dass leitmediale Kritik an den Regierenden außer Baerbock und Habeck sehr weitgehend auf „mehr (schwere) Waffen!“ abzielte und daher im Unterschied zur Kritik vieler Bürger:innen an der Regierungspolitik ziemlich einseitig war und ist, wird auch in dieser Studie leider kaum thematisiert.

    Als Kriegsverursacher stellten die untersuchten Medien laut Studie fast ausnahmslos und allein Russland/Putin dar (93 Prozent für die Ausprägung „alleinige Verantwortung“). Eine (Mit-)Verantwortung durch die Ukraine (2 Prozent) oder „den Westen“ (Nato, USA usw. – 4 Prozent) wurde relativ selten auch nur thematisiert, geschweige denn ernsthaft behauptet und diskutiert (S.10).

    Die Studie fasst zusammen, dass von verschiedenen möglichen Maßnahmen „zur Beendigung des Krieges“ (deutlich treffender wäre hier meines Erachtens: „Maßnahmen, um den Krieg zu beeinflussen“, nicht zuletzt im Lichte der Linie von Außenministerin Baerbock vom 25.2.2022, der zufolge es ja darum gehe, Russland zu „ruinieren“) in den acht untersuchten Medien lediglich „humanitäre Maßnahmen“ so gut wie ausnahmslos als sinnvoll dargestellt worden seien, was kaum überrascht.

    Als „weit überwiegend sinnvoll“ habe man durch die Redaktionen insbesondere ab April auch die militärische Unterstützung der Ukraine (74 Prozent Pro) und, etwas weniger eindeutig positiv, die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine (66 Prozent Pro) sowie die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland (64 Prozent Pro) bewertet.

    Diplomatische Bemühungen seien dagegen lediglich in 43 Prozent der Fälle auch nur als „sinnvoll“, zu schweigen von möglich oder gar nötig, dargestellt worden. Bemerkenswerte Ausnahme hierbei: Der Spiegel habe diplomatische Maßnahmen insgesamt knapp als sinnvoller bewertet denn die Lieferung schwerer Waffen, bei sämtlichen anderen untersuchten Medien sei es deutlich umgekehrt gewesen (S. 11f).
    Einheitliche Position der Medien?

    Eine zentrale Frage der öffentlichen Diskussion sei gewesen, inwiefern „die Medien“ in der Frage des Vorschlagens und Bewertens offizieller deutscher Maßnahmen „eine einheitliche Position“ vermittelten.

    Unter anderem dieser Aspekt mutmaßlicher Einheitlichkeit und Einseitigkeit vieler etablierter Medien in wichtigen sowie von Bürger:innen kontrovers diskutierten Bereichen der Gesellschaft (wie der jüngsten und aktuellen großen Krisenlagen) ist ja auch einer der Kritik von Richard David Precht und Harald Welzer in ihrem Buch Die vierte Gewalt.

    Moniert wurde an der Kritik der beiden u.a., diese sei nicht empirisch belegt sei und sie vor allem „Bauchgefühl“ ventiliere. Allerdings dürften auch manche dieser Precht und Welzer Kritisierenden kaum an einem zentralen Ergebnis der Studie vorbeikommen.

    Die Analyse, so deren Autoren, zeige, dass vor allem die – damals bei vielen Menschen hierzulande sehr umstrittene – Frage der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine (Ende April 2022 hatten sich laut ARD-Deutschlandtrend jeweils genau 45 Prozent der Befragten für bzw. gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausgesprochen) von allen untersuchten Medien – mit Ausnahme des Spiegel – deutlich überwiegend befürwortet wurde.

    Nicht zuletzt, weil dies, also die Lieferung schwerer Waffen, sicher kein unwesentlicher Aspekt möglicher oder auch realer Politik in Kriegs-Zeiten ist, kann die aktuelle Medien-Studie kaum als „Widerlegung“ (so u.a. Dorothée Krämer vom Volksverpetzer) von Precht und Welzer gelten.
    „Meinungs-Flakschiff“ ARD-Tagesschau

    Als ein außerordentlich bemerkenswerter empirischer Mosaikstein der Studie sei hingegen Folgendes erwähnt: Die ARD-Tagesschau als das reichweitenstärkste öffentlich-rechtliche Nachrichtenformat liegt laut der Studie in zwei Hinsichten vorne im Vergleich aller untersuchten Medien (noch vor einem Medium wie Bild).

    Diese beiden Aspekte können als zwei Seiten derselben Medaille verstanden werden: 1.) Beim Befürworten des Lieferns von schweren Waffen an die Ukraine und 2.) bei der Ablehnung diplomatischer Bemühungen.

    Das ist doppelt fragwürdig: Für ein öffentlich-rechtliches Medium überhaupt, gerade wegen des Gebotes des Binnenpluralismus per Programmauftrag, aber insbesondere für dessen strikt informationsbetont sein sollendes „Nachrichten-Flaggschiff“. Angesichts solcher Studien-Befunde ließe sich hier wohl leider eher ironisch von einem „Meinungs-Flakschiff“ reden.
    Fazit: Überraschende Deutlichkeit

    Das Fazit der empirischen Studie selbst ist laut den Autoren „durchaus differenziert“ und damit jedenfalls auch in deren Wahrnehmung kein Persilschein für Vielfalt und Ausgewogenheit der untersuchten Medien.

    In einigen Hinsichten hätten die ausgewählten Redaktionen „tatsächlich sehr einheitlich über den Krieg berichtet“. Das betreffe insbesondere die Zuschreibung der Kriegsverantwortung an Russland und die Bewertung der beiden Kriegsparteien.

    Dass die militärische Unterstützung der Ukraine im Allgemeinen und die Lieferung schwerer Waffen im Besonderen in den meisten der untersuchten Medien als deutlich überwiegend sinnvoll und auch als sinnvoller als diplomatische Maßnahmen dargestellt wurden, sei angesichts der schrecklichen Bilder aus der Ukraine „verständlich“, überrasche „in dieser Deutlichkeit aber dennoch und ist in früheren vergleichbaren Fällen vermutlich (hierzu liegen allerdings keine empirischen Daten vor) anders ausgefallen.“

    Umso bemerkenswerter finden es die Forschenden, dass der Spiegel als einziges der acht untersuchten Leitmedien „zumindest über die Lieferung schwerer Waffen sehr abwägend berichtete und eine diplomatische Lösung als sinnvoller darstellte“. Die untersuchten Medien hätten also nicht „vollkommen einheitlich“ berichtet – aber wiederum: Wer bitte hätte das ernstzunehmend behauptet?

    „Alles in allem“ deutet laut Studie „vieles darauf hin, dass die Medienberichterstattung – ähnlich wie in der Corona-Pandemie – nicht regierungsnah war, sondern die Regierung eher für ihre zögerliche Haltung kritisierte“.

    Ob das aber, selbst wenn es als wahr (an-)genommen wird, insgesamt als hinreichender empirischer Beleg für „Vielfalt und Ausgewogenheit“ gelten kann?

    Ich denke, diese abschließende Eigen-Bewertung der Analyse muss man nicht für den stärksten Teil jenes Zwischenberichtes aus der Medienforschung halten, um in dieser Studie etliche wichtige Anknüpfungspunkte zu finden, für Medienkritik und für bessere journalistische Praxis.

  • Vorsätze für 2023
    https://www.heise.de/tp/features/Die-vergiftete-Diskussion-um-eine-friedenspolitische-Perspektive-7441781.html?

    Man wird nur älter nicht klüger.

    Der verstorbene Satiriker Wiglaf Droste sang: „Ist das Hirn zu kurz gekommen, wird sehr gern Moral genommen“.

    Ein schöner Zeitgeist ist das, dem sich zu verschließen ausschließlich skeptischen Schnorrern schräger Schönheit schief erscheint.

    Ab Neujahr fahr ich mit dem Denkta’bus und schone die Blumento’pferde.

    Das ist der Rhytmus, wo jeder mit muß.
    Was solls.
    Schon Schule schien Schülerinnen schlimmer.
    Herr Ober, noch ein Bier, bitte, schön !

    #Prost_Neujahr #2023

  • Deutschland : Wenn Medikamente fehlen
    https://www.heise.de/tp/features/Deutschland-Wenn-Medikamente-fehlen-7392310.html?seite=all

    Tiens, tiens, le seul pays grand producteur de médicaments au monde qui a eu des problèmes de production sérieux pendant la crise covid c’est l’Italie.

    Lieferkettenprobleme können auch hausgemacht sein. Über Märkte, Verfügbarkeit und Preise. Das sagt der Leiter einer Klinikapotheke.

    Derzeit sind rund 300 Medikamente beim Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) als nicht lieferbar gemeldet. Tatsächlich fehlen aber noch viel mehr Wirkstoffe in der Versorgung. Telepolis hat beim Leiter der einer Klinikapotheke in Freiburg, Prof. Dr. Martin J. Hug, nachgefragt, wie Versorgung, Preise und Globalisierung zusammenhängen.

    Welche Länder haben auch während Corona alle Medikamente und Grundstoffe geliefert?

    Martin J. Hug: Die Pandemie, die damit verbundenen Schließungen von Fabrikanlagen und die Unterbrechung des internationalen Warenverkehrs haben sämtliche Wirtschaftsbranchen beeinträchtigt. Deshalb war natürlich auch der Arzneimittelsektor betroffen. Allerdings muss man anerkennen, dass nicht alle Länder gleichzeitig ihre Produktion oder Lieferung eingestellt hatten.

    Der Lockdown in China hat zwar in den ersten Monaten des Jahres 2020 zu überhöhten Panikkäufen vonseiten der Pharmaunternehmen und deren Kunden (Apotheken) geführt - es war aber die ungewöhnlich hohe Nachfrage, die das Problem der ersten Lieferabrisse eigentlich herbeigeführt hat. China war rasch wieder lieferfähig, wohingegen Indien einen Ausfuhrstopp für 26 Wirkstoffe verhängt hatte. Aber auch davon war in Deutschland glücklicherweise wenig zu spüren.

    Anders war die Situation, als in Italien sprichwörtlich die Lichter ausgingen. Italien ist nach China und Indien der drittgrößte Produzent von Antibiotika, weswegen die Zeit von April bis September 2020, als Italien besonders unter der Pandemie zu leiden hatte, deutlich spürbare Folgen für eine ganze Reihe von Medikamenten hatte.

    Konkret fällt mir gerade nur ein einziges Ursprungsland für Arzneimittel ein, das nicht durch Lieferengpässe aufgefallen ist. Das war Korea. Von dort beziehen wir einige relativ hochpreisige Medikamente, die in geringen Stückzahlen eingesetzt werden.

    Wie viele Fertigungsstätten pro Medikament wären sinnvoll, und wo sollten diese angesiedelt sein?

    Martin J. Hug: Auf diese Frage gibt es leider keine einfache Antwort. Je mehr, desto besser könnte man sagen, aber Arzneimittelherstellung beruht eben auch auf verschiedenen Verflechtungen, Rohstoffmarkt, Logistik, Absatzmärkte etc.

    Einer Untersuchung des Bundesinstituts für Arzneimittel (BfArM) kann man entnehmen, dass es für viele Präparate nur einen oder maximal drei Hersteller gibt. Diese Monopolisierung ist die Konsequenz eines immer mehr unter Druck geratenen Marktes.

    Dieser drängt die Hersteller gerade im Bereich niedriger Margen dazu, sich von unrentablen Produkten zu trennen. Ob eine Verlagerung von Herstellungsstätten nach Europa zwingend zu einer Verbesserung führt, kann man nicht mit Sicherheit sagen. Einer der für uns aktuell schmerzhaftesten Lieferengpässe besteht bei einem ausschließlich in Deutschland hergestellten Arzneimittel.

    Die Herstellungsanlagen müssen erneuert werden und es gibt derzeit noch keine alternativen Produktionsstandorte. Das gerade nicht verfügbare Präparat Penicillin V, ein uraltes Antibiotikum, wird nahezu ausschließlich in einer Fabrik in Österreich hergestellt.

    Für Medikamente gilt jetzt ein Preismoratorium bis 2026. Was passiert, wenn sich die Produktion nicht mehr lohnt?

    Martin J. Hug: Das Preismoratorium für verschreibungspflichtige Arzneimittel existiert bereits seit August 2010. Allerdings ist den Anbietern erlaubt, jeweils zum 1.Juli eines Jahres den Preis um die jährliche Veränderungsrate anzupassen.

    Damit wären im kommenden Jahr theoretisch Preisanstiege von zehn Prozent und mehr denkbar. Wenn sich die Produktion aufgrund der Regulierungsmaßnahmen nicht mehr lohnt, wird ein Pharmaunternehmen die Ware in dem jeweiligen Land nicht mehr in den Verkehr bringen.

    Gibt es eine staatliche Preisregulierung für Medikamente, vor allem für Nachahmerprodukte oder Generika?

    Martin J. Hug: Im Sozialgesetzbuch finden sich einige Werkzeuge zur Preisregulierung. Diese beschränken sich nicht auf Generika - sind dort aber am deutlichsten spürbar. Konkret handelt es sich um folgende Maßnahmen:

    – der von sieben auf zwölf Prozent angehobene Herstellerrabatt

    – mit den Pharmaunternehmen verhandelte Rabattverträge gemäß § 130a SGB V. Die fast 100 gesetzlichen Krankenkassen sind hier sehr erfolgreich und haben fast 30.000 solcher Verträge abgeschlossen.

    – Festbetragsgrenzen. Hier handelt es sich um Maximalpreise von Medikamenten mit gleichem Wirkstoff oder gleichem Wirkmechanismus und Anwendungsgebiet, die von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden.

    Liegt der Preis eines Arzneimittels über diesem Festbetrag, hat der Patient die Wahl, die Differenz aufzuzahlen oder, wenn eine Austauschbarkeit möglich ist, sich ein Medikament aushändigen zu lassen, dessen Preis auf Niveau des Festbetrags liegt.
    Vor- und Nachteile der Rabattverträge

    Könnten Hersteller zu einer für sie unrentablen Produktion verpflichtet werden?

    Martin J. Hug: Die Antwort ist einfach: nein. Es gelten hier klare Prinzipien der Marktwirtschaft. Sie können ja auch einen Hersteller von Luxusautos nicht dazu verpflichten, seine Fahrzeuge zum halben Preis abzugeben.

    Allerdings können die Krankenkassen bei der Ausschreibung von Rabattverträgen Konventionalstrafen verhängen, wenn ein Unternehmen die vereinbarten Mengen nicht liefern kann.

    Lassen sich Medikamente, die in Deutschland nicht verfügbar sind, auf deutsche Rezepte auch im EU-Ausland beschaffen oder muss man auf Re-Importe warten?

    Martin J. Hug: Wenn das BfArM einen Versorgungsmangel nach § 79 Absatz 5 AMG festgestellt hat, dann ist ein Import aus dem Ausland zulässig und eine Erstattungsfähigkeit durch die gesetzlichen Krankenkassen gegeben. Um einen entsprechenden Versorgungsmangel festzustellen, bedarf es aber Zeit und große Not.

    Die meisten Lieferengpässe, mit denen wir uns herumärgern müssen, schlagen gar nicht beim BfArM auf. Wir Krankenhäuser können hier eher zum Werkzeug des Imports greifen, weil die Arzneimittelkosten in der Regel nicht über ein Rezept, sondern über die Fallpauschale abgerechnet werden. In der öffentlichen Apotheke ist jedoch bei Importarzneimitteln kein Erstattungsanspruch durch die GKV gegeben.

    Welche Vorteile und Risiken haben Rabattverträge, deren Konditionen geheim sind?

    Martin J. Hug: Die Vorteile liegen bei den Kostenträgern – hier ist nicht unerhebliches Einsparpotential. Die Risiken liegen auf der Hand: durch die Rabattverträge werden die Margen für die Arzneimittelhersteller geringer. Dadurch wird bei Präparaten, die ohnehin nur eine geringe Marge besitzen, schnell die Luft dünn.

    Jetzt können Sie fragen: Warum macht die Industrie das mit, warum schließen die überhaupt derartige Verträge ab? Hier kann man sagen, dass es für manche Firmen opportun sein kann, ein defizitäres Produkt über Rabattverträge temporär in den Markt zu drücken. Denn bei global agierenden Unternehmen ist Marktanteil ein wesentliches Merkmal des „Shareholder value“.

    So kann man den Wert eines Unternehmens fiktiv für kurze Zeit anheben, bis die nächste Kapitalgesellschaft zugreift. Derartige Mechanismen sind in der Arzneimittelbranche nicht anders als in jedem anderen Geschäft.

    Hauptnachteil der Rabattverträge ist aber die von beiden Seiten (Kassen und Pharmaunternehmen) gewünschte Intransparenz. Dadurch werden die wahren Preise verschleiert und der Öffentlichkeit ein falsches Bild von den Arzneimittelpreisen vermittelt.

    #crise #médicaments #commerce #mondialisation #covid-19 #Chine #Corée #Inde #Italie

  • « Noch immer nicht in der deutschen Erinnerungskultur angekommen »
    https://www.heise.de/tp/features/Noch-immer-nicht-in-der-deutschen-Erinnerungskultur-angekommen-7364808.html?se

    Les pauvres et exclus continuent à servir de bouc émissaire et cible de discriminisation à la droite au pouvoir. En poursuivant la divulgation de préjugés nazies elle a réussi à bloquer le dédommagement des victimes enfermés dans les camps sous prétexte d’asocialité.

    4.12.2022 von Dirk Farke - In den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten wurden „Asoziale“ mit einem schwarzen und „Berufsverbrecher“ mit einem grünen Dreieck gekennzeichnet.

    Sozialrassistische Verfolgung in Nationalsozialismus. „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ sind bis heute fast vergessene Opfer. Vor welchen Herausforderungen die Aufarbeitung steht.

    Mal wieder richtig durchgreifen und aufräumen, das Verbrechen an seiner Wurzel packen, die Verbrecher ausmerzen und eine kriminalitätsfreie Deutsche Volksgemeinschaft gründen.

    Mit diesen und ähnlichen Parolen erhielten die Nationalsozialisten auch die Zustimmung von Personen, die ihnen anfangs vielleicht noch fernstanden. Und auch in Teilen der postnationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ haben sie bis heute Konjunktur.

    Unter dem Deckmantel der Verbrechensbekämpfung verfolgten die Nazis ab 1933 nicht allein politisch und „rassisch“ Unerwünschte – und wer kriminell ist, bestimmten sie selbst. Wer wegen eines Bagatelldeliktes, etwa Ladendiebstahl, Wäschediebstahl von einer Wäscheleine, oder auch Untreue, mehr als zweimal zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde und diese Strafe abgesessen hatte, den deportierte die Kriminalpolizei unmittelbar in ein Konzentrationslager.
    Grüne und schwarze Winkel

    Das gleiche Schicksal traf auch andere sozial Deklassierte, etwa Bettler, Landstreicher, Wohnungslose, Alkoholkranke und Wanderarbeiter. Erstere erhielten einen grünen Stoffwinkel auf ihrer Häftlingsuniform und wurde damit als „Berufsverbrecher“ gekennzeichnet, letztere erhielten einen schwarzen Winkel und waren damit als „asozial“ stigmatisiert.

    Es gehörte zur nationalsozialistischen Grundauffassung, dass jemand, auch ohne „Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher“ zu sein, allein durch sein „asoziales Verhalten“ die Allgemeinheit gefährdet. So formulierte zum Beispiel Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, in einem Erlass, dass, „das Verbrechertum im Asozialen seine Wurzeln hat und sich fortlaufend aus ihm ergänzt“. Die Polizei verhaftete Bettler direkt von der Straße weg und holte die Obdachlosen aus den Asyl-Unterküften.

    Als Rechtsgrundlage hierfür diente das am 24. November 1933 erlassene „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ (Gewohnheitsverbrechergesetz). Vorbestrafte Menschen erhielten nun ohne richterliches Urteil und zeitlicher Begrenzung eine unbefristete Sicherungsverwahrung (SV) in einem Konzentrationslager, „wenn die öffentliche Sicherheit dies erforderte“.

    Die in Deutschland bis heute angewendete SV basiert auf dem Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 und war in den letzten Jahren wiederholt Anlass für öffentliche Debatten.
    „Aktion Arbeitsscheu Reich“

    Im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ im Jahr 1938 kam es zur Verhaftung von mehr als 10.000 Menschen. Betroffen waren nicht allein Alkoholkranke, Bettler, Zuhälter und Dirnen, sondern auch, wie Heydrich in einem Schreiben auflistete:

    … Personen, wenn sie keinen Willen zur geregelten Arbeit gezeigt haben (darunter fielen zum Beispiel Menschen, die mehr als einmal „grundlos“ eine Arbeitsstelle abgelehnt oder unentschuldigt ihren Arbeitsplatz verlassen haben) oder straffällig geworden sind, … außerdem solche Personen, die zahlreiche Vorstrafen wegen Widerstands, Körperverletzung, Raufhandels, Hausfriedensbruch und dergleichen erhalten und dadurch gezeigt haben, daß sie sich in die Ordnung der Volksgemeinschaft nicht einfügen wollen.
    Reinhard Heydrich

    Damit fielen dieser Aktion auch Menschen zum Opfer, die in Arbeitsprozessen eingebunden waren, aber auf Grund von häufigem Arbeitsplatzwechsel oder Fehltagen als „arbeitsscheu“ stigmatisiert wurden. Engste Kooperation zwischen Arbeitsämtern, Fürsorgestellen, Kriminalpolizei und Gestapo war für den „Erfolg“ der durchgeführten Razzien unumgänglich.

    Wie die historische Forschung herausgearbeitet hat, erfüllte die „Aktion Arbeitsscheu Reich“ drei Hauptfunktionen: die Requirierung von neuen weiteren Arbeitssklaven für die Konzentrationslager, eine terroristische Erzwingung von Arbeitsdisziplin und kriminalpräventive „Ausjätung“.

    Mit Kriegsbeginn wurden die Verhaftungsaktionen immer willkürlicher und radikaler, die Vernichtung durch Arbeit in den Konzentrationslagern für immer mehr Menschen zur tragischen Realität. Die Kriminalitätsbekämpfung dieser Art war populär und Reichsjustizminister Otto Georg Thierack formulierte in einem seiner Richterbriefe:

    Wir wollen nach der siegreichen Beendigung des Kriegs ein gesundes und starkes Führungsvolk sein, das seine geschichtliche Mission erfüllen kann, ohne dabei durch asoziale Verbrecher gestört zu werden.
    Otto Georg Thierack

    „Grüne“ und „Schwarze“ standen in der Häftlingshierachie in den Lagern auf der untersten Stufe und es gibt zahlreiche Beispiele, aus denen sich ergibt: Die SS hat, sofern der Begriff hier überhaupt verwendet werden kann, „politische Gegner“ noch eher geachtet.

    Ein signifikantes Beispiel findet sich in den Aufzeichnungen von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz von Mai 1940 bis November 1943. Höß beschreibt hier unter anderem die Reaktion von Häftlingen im KZ Sachsenhausen auf gegen sie verhängte Exekutionsbefehle:

    Die Kriegsdienstverweigerer und Saboteure aus politischer Überzeugung, fest, gefasst und ruhig sich in das Unabänderliche, ihr Schicksal, fügend. Die Berufsverbrecher, die wirklich Asozialen entweder zynisch frech, forsch auftretend, aber innerlich doch zitternd vor dem großen Ungewissen, oder tobend, sich wehrend, oder auch jammernd nach geistlichem Beistand.
    Rudolf Höß

    70.000 bis 80.000 „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ in KZs

    Eine nicht gerade positive corporate identity blieb diesen Häftlingsgruppen, die historische Forschung geht von etwa 70.000 bis 80.000 Menschen, die zwischen 1933 und 1945 als „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ in die Konzentrationslager eingewiesen wurden, auch nach dem Krieg erhalten – und zwar sowohl im Nachfolgestaat des Dritten Reiches als auch in der DDR.

    Drei Aspekte sind hierfür verantwortlich: Ein außerordentlich restriktiver Opferbegriff in der deutschen Entschädigungsgesetzgebung, denn eine einmalige Entschädigung auf Basis einer Härtefallregelung konnte nur beantragen, „wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist“.

    Sowohl die historische KZ-Forschung als auch die Darstellungen in den Gedenkstätten waren lange Zeit überwiegend durch Erinnerungsberichte ehemaliger Häftlinge geprägt. Aber sowohl die „Grünen“ als auch die „Schwarzen“ organisierten sich nach der Befreiung weder in Verbänden noch publizierten sie ihre Erlebnisse und ihre Perspektiven blieben unbeachtet. Andere Opfergruppen beschrieben sie häufig negativ.

    Die oben geschilderten kriminalpolitischen und kriminalpolizeilichen Konzepte und Praktiken der Nationalsozialisten galten im Nachfolgestaat des Dritten Reiches bis weit in die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts nicht als nationalsozialistisches Unrecht, sondern lediglich als Fortsetzung einer regulären Kriminalpolitik.

    Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt kommt hinzu: Beide Opfergruppen sind 70 Jahre lang von den Medien nahezu vollständig ignoriert worden. Diese Tatsache unterstreicht auch der emeritierte Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften und der politischen Bildung an der Frankfurter Goethe-Universität, Frank Nonnenmacher, gegenüber Telepolis.

    Es ist im Wesentlichen sein Verdienst, diese beiden NS Opfergruppen dem völligen Vergessen entrissen zu haben.
    Neuer NS-Opferverband vor der Gründung

    Es ist im Wesentlichen Frank Nonnenmachers Verdienst, diese beiden NS Opfergruppen dem völligen Vergessen entrissen zu haben.

    Und ganz zu Recht kritisiert er vor allem auch deren bis heute übliche Bezeichnung als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ auch in Anführungszeichen:

    Es gibt keine Menschen, die kriminelle Anlagen in ihren Genen haben, wie die Nazis glauben, und deshalb vernichtet werden müssen, es gibt keine „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ – das ist Nazi-Jargon und spricht den Betroffenen ihre Würde ab.
    Frank Nonnenmacher

    Treffender sei es, von sozialrassistisch Verfolgten oder gleich von Verleugneten zu sprechen.

    Zu verdanken haben die Verleugneten Nonnenmachers umtriebiges Engagement eine eigene mittelbare Betroffenheit: die Deportation seines Onkels 1941 in ein Konzentrationslager. Ernst Nonnenmacher wuchs mit der alleinerziehenden Mutter in Stuttgart in ärmlichsten Verhältnissen auf:

    Es war klar, dass man, um zu überleben, ab und zu mal etwas organisieren musste, hier mal ein paar Lebensmittel aus der Markthalle und dort mal ein Stück Wäsche von der Leine", charakterisiert der Sozialwissenschaftler die Verhältnisse nach dem ersten Weltkrieg. Von 1939 bis 1941 verbüßte Nonnenmacher in Mannheim eine Haftstrafe und saß diese bis zum letzten Tag ab.

    Unmittelbar danach deportierte ihn die Kriminalpolizei in ein Konzentrationslager. "Die SS steckte ihn in einen Steinbruch zur Vernichtung durch Arbeit. Aber er hatte Glück, weil die SS auch noch jemand benötigte, der Körbe flechten konnte. Dank dieser leichteren Arbeit überlebte mein Onkel die sogenannte Vorbeugehaft im KZ.
    Frank Nonnenmacher

    Nach der Befreiung beantragte Ernst Nonnenmacher, genau wie andere Überlebende der Vernichtungshaft, als NS Opfer anerkannt zu werden und eine Entschädigung für die zu Unrecht und stets in Lebensgefahr verbrachte Zeit im KZ zu erhalten: beides vergeblich.

    Denn für die Behörden saß er, dank des außerordentlich restriktiv formulierten Opferentschädigungsgesetztes, nicht zu Unrecht im KZ: schließlich war er weder aus politischen noch aus „rassischen“ Gründen verhaftet worden.

    „Fast alle Opfergruppen haben nach 1945 Verbände gegründet und für ihre Anerkennung gekämpft und waren damit, wenn auch teilweise erst beschämend spät, erfolgreich. Auch die Verfolgung Homosexueller war bis 1994 nicht als Unrecht anerkannt“, so der Politikdidaktiker weiter.

    Zusammen mit ein paar jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern richtet Nonnenmacher 2018 einen öffentlichen Appell an den Bundestag, die Verleugneten endlich als NS-Opfer anzuerkennen.
    Einstimmig, nur AfD enthielt sich

    Dieser Appell führte zu einem von Regierung und Opposition einstimmig verabschiedeten Beschluss – nur die AfD enthielt sich – und seit dem 13. Februar 2020 sind nun endlich auch die Verleugneten als Verfolgte anerkannt (Bundesdrucksache 19/14342 vom 22. Oktober 2019)

    Desaströs aber ist, dass diese Anerkennung viel zu spät kam, so spät, dass niemand mehr eine Entschädigung erhielt und ganz zu Recht bewertet es Aktivist Nonnenmacher als: „zynisch, dass die Bundesrepublik sich durch das lange Zuwarten viel Geld gespart hat“.

    Nicht weniger verletzend sei, dass die im Bundestagsbeschluss geforderten Finanzmittel zur Erforschung von Biografien aus dieser Gruppe von Verfolgten bis heute nicht zur Verfügung gestellt würden.

    Des Weiteren existiere bis heute kein Budget für eine genauere Untersuchung der Rolle von Verfolgungsinstanzen, wie zum Beispiel der Kriminalpolizei, die, anders als die Gestapo, die für die Deportationen der politischen Gegnern des Regimes zuständig war, die Deportationen der sozialrassistisch Verfolgten übernahm.

    Diese erschreckende Bilanz legt es nahe, es nicht länger in die Hand von Einzelnen zu legen, ob die seit drei Jahren nun endlich als NS Opfergruppe Anerkannten auch zu einem integralen Teil unserer Erinnerungskultur werden.

    Deshalb gründen Nonnenmacher, die Grünen Politikerin Ines Eichmüller – die Häftlingsuniform ihres Großvaters hatte ein schwarzes Dreieck – und weitere Nachkommen von sozialrassistisch Verfolgten im Januar in Nürnberg den Verband der Nachkommen von Verleugneten.
    Verband der Nachkommen von Verleugneten

    Diese Interessengemeinschaft wird nicht allein bei der eigenen familiengeschichtlichen Aufarbeitung eine wichtige Rolle spielen, sondern, so unterstreicht Nonnenmacher zu Recht, „soll auch nach außen wirken und als Kritiker halbherzig ausgeführter Bundestagsbeschlüsse, als Stimme, die im nationalen Gedenken zwar keine Hauptrolle spielt, aber dennoch präsent seien sollte, zum Beispiel als ansprechbare Institution in der historisch-politischen Bildung und als Kooperationspartner für andere Verfolgtenverbände“.

    Eine Namensliste der Angehörigen und Nachkommen der Verleugneten existiert leider nicht.

    Deshalb sind die Verbandsgründer darauf angewiesen, dass Menschen, die an der Gründung eines solchen Verbandes interessiert sind, sich bei fnoma@gmx.de melden.

    Hier erhalten Sie auch weitere Informationen zur Gründung, die am 21./22. Januar 2023 in Nürnberg erfolgen wird, damit, wie es der Sozialwissenschaftler treffend formuliert, „dieses wichtige Thema endlich auch ankommt in der deutschen Erinnerungskultur“.

    Für einen ersten Überblick:

    Hörath, Julia: „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2017

    Köchl, Sylvia: „Das Bedürfnis nach gerechter Sühne“. Mandelbaum Verlag, Wien 2016

    Kranebitter, Andreas: Die Konstruktion von Kriminellen. Die Inhaftierung von „Berufsverbrechern“ im KZ Mauthausen. New Academic Press, Wien (in Vorbereitung)

    Lieske, Dagmar: Unbequeme Opfer? „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen. Metropol Verlag, Berlin 2016

    Nonnenmacher, Frank: DU hattest es besser als ICH: Zwei Brüder im 20. Jahrhundert. VAS, Bad Homburg 2014

    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Asoziale_(Nationalsozialismus)

    #nazis #défavorisés #pauvreté #antifascisme

  • Überwachen und Impfen: Corona, Kolonialismus und Biopolitik
    https://www.heise.de/tp/features/Ueberwachen-und-Impfen-Corona-Kolonialismus-und-Biopolitik-6315168.html?seite=

    31.12.2020 von Thomas Barth - Die Erfindung des Impfens wird gern als Meilenstein medizinischen Fortschritts und zugleich als Beweis der Überlegenheit westlicher Rationalität betrachtet. Eitler Eurozentrismus spielt auch mit

    Derzeit läuft die vermutlich umfangreichste Impfkampagne der Medizingeschichte. Die Erfindung des Impfens wird gern als Meilenstein medizinischen Fortschritts und zugleich als Beweis der Überlegenheit westlicher Rationalität betrachtet. Das macht sie zu einem Kernstück imperial-kolonialistischer Weltanschauungen, doch deren Blick auf die Geschichte ist getrübt von eitlem Eurozentrismus. Skepsis ist angebracht.

    Am Beginn des Impfens stand die Geißel der Pocken, die man seit 1796 durch Verimpfen von harmlosen Kuhpocken bekämpfte (daher „Vakzination“ von Vacca, lat. Kuh). 1871 brach die letzte schwere Pockenepidemie in Deutschland aus, 170.000 Menschen starben. Ein Reichsimpfgesetz sollte Rettung bringen. Fünf Sitzungen lang wurde im wilhelminischen Reichstag darüber gestritten, ob der Staat bestimmen darf, ob man geimpft wird, 1874 wurde die Pockenimpfung zur Pflicht.
    Staatliche Impfpflicht ist Biopolitik

    Jede Impfung ist ein Eingriff in den menschlichen Körper, den moderne Staaten seit Beginn der wissenschaftlichen Revolution auch zwangsweise anordnen. Ihre segensreiche Anwendung ist prototypisch für das, was Foucault Biopolitik nannte (Das Netz der Macht), und berührt das Verhältnis des Individuums zur Staatsmacht. Impfgegner, die dem Staat in die Quere kommen, gelten daher schnell als irrationale Querulanten. Denn wo, wenn nicht bei den durch Massenimpfungen besiegten Seuchen, hat der moderne Staat seine Rationalität je einleuchtender erwiesen?

    Im Feudalstaat legitimierte sich die adlige Machtelite durch „blaues Blut“ und Gottesgnade. Die Aufklärung stellte dies infrage und entmachtete Adel und Klerus seit 1789. Der bürgerliche Staat machte biologische Prozesse wie Fortpflanzung, Geburt, Sterben und Gesundheit zum Ziel regulierender Kontrolle.

    Laut Foucault legitimiert sich diese „Biopolitik“ moralisch: Die Verwaltung der Körper und Planung des Lebens behauptet, einer „Verantwortung für das Leben“ zu folgen, die Soziologie, Demografie und Medizin auf den Plan treten lässt. In einer wissenschaftlich begleiteten „Wertsteigerung des Körpers“ konstituiert sich eine Biopolitik der Bevölkerung, die ökonomisch auf Effizienz zielt (vgl. Heike Knops: Selbstbeherrschung als staatliches Machtinstrument).

    Damit einher geht wachsende soziale und staatliche Kontrolle: Vom Ultraschallfoto für die werdenden Eltern bis zum Totenschein für die trauernden Hinterbliebenen kontrolliert die Medizin das Leben. Seit der Gründung des Collegium Sanitare in Preußen 1685 und der Société Royale de Médecine 1776 in Frankreich gilt moderner Politik, so Ludger Schwarte, die Gesundheit der Population als staatliches Ziel.

    Foucault leitet die ’biologische Modernitätsschwelle’ einer Gesellschaft aus der Entstehung einer empirischen Politikwissenschaft ab, die sich auf die Ökonomie und Demografie stützt. Dazu kommt, so Heike Knops, das „Sicherheitsdispositiv“, welches Sozialhygiene, Medizin, den Diskurs der Sexualität und biologisches Wissen meint. Die Übertragung des Gefängnis-Dispositivs einer panoptischen Überwachung auf immer mehr Bereiche der Gesellschaft kann man hier anfügen.

    Eine Pandemie legitimiert weitere Ausdehnung überwachender Kontrolle, die man kritisch sehen muss. Machthaber, die sich mit ideologisierter Medizin legitimieren, sind nichts Neues. Aber schon die historische Basis ist zweifelhaft: Westliche Machtansprüche schmücken sich gerade in der medizinischen Technik des Impfens mit fremden Federn. Koloniale Verbrechen wurden mit dem Glorienschein der „Zivilisierung“ fremder Völker bemäntelt.
    Das Impfen kam aus Indien

    In Indien wurde schon Fünfzehnhundert vor Christus Bläscheninhalt von Pocken auf gesunde Menschen übertragen, um sie durch diese „Inokulation“ vor der Krankheit zu schützen. Bei diesem Lebendimpfstoff kam es zu Infektionen und Todesfällen, doch man konnte immerhin den Zeitpunkt der Erkrankung kontrollieren.

    In westlichen Darstellungen gebührt der Ruhm der Erfindung der Impfung jedoch nicht der Kulturnation Indien, sondern der damaligen kolonialen Besatzungsmacht Indiens, den Briten. Denn in der westenglischen Stadt Berkely hatte der Landarzt Edward Jenner einen Knaben erst mit harmlosen Kuhpocken, dann mit echten Pocken infiziert. „Das Ergebnis: Der Junge ist gegen Pocken immun. Ein moralisch fragwürdiger Menschenversuch, doch der 1.Juli 1796 wird zum Meilenstein der Geschichte des Impfens.“ (ARD-Doku „Immun! Geschichte des Impfens“)

    Weniger glorios stellt sich die Geschichte des britischen Impfens für den Zürcher Historiker Harald Fischer-Tiné dar, der die Zirkulation von Wissen zwischen Kolonien und britischer Kolonialmacht untersuchte. Am Beispiel der Pockenimpfung zeigt er, dass noch im 18. Jahrhundert die indische Medizin durchaus Beachtung in England fand, als etwa im Jahr 1767 John Z. Holwells Abhandlung „On the Manner of Inoculating for the Smallpox in the East Indies“ erschien.

    Mit Inoculation (auch Variolation) war zwar die nicht unbedingt die von der ARD berichtete Kuhpocken-Übertragung auf den Menschen gemeint, deren Erfolg dort als „mäßig“ abqualifiziert wurde. Es ging vermutlich um abgeschwächte Pockenerreger aus Pusteln von genesenen Pockenkranken, die durch Ritzung übertragen wurden. Etwa jeder 30. Inoculierte starb, an den Pocken oder auch an unabsichtlich mit übertragenen anderen Krankheiten. Aber bei einer der häufigen Pockeninfektionen war die Todesrate ca. fünfmal größer.

    Der Punkt ist dabei nach Fischer-Tiné, dass die imperiale Wissenschaft der Briten sich ein paar Jahrzehnte später selbstherrlich mit den fremden Federn der indischen Medizin schmückte. Dies entsprach einer rassistischen Haltung, die das kolonisierte Volk und seine Kultur abqualifizieren wollte - auch, um die Unterdrückung als huldvollen Gnadenakt der Zivilisierung verstehen zu können.

    Ein „diskursives Manöver“ war dabei, die notgedrungen zuzugestehenden Vorzüge der Ayurveda-Medizin einem weit zurückliegenden „goldenen Zeitalter“ der Inder zuzuschreiben. Der zitierte Holwell „...verlegt den historischen Ursprung aller Pockentherapie auch kurzerhand ins vedische Indien (ca.1500-600 v.Chr.)“ (Fischer-Tiné S.33, siehe „Literatur“ am Ende des Artikels).
    Viktorianische Überlegenheitsgefühle

    Hintergrund war die voranschreitende Kolonialisierung Indiens, spätestens seit 1764 unter Führung der Eastindia Company, die als Vorläuferin heutiger multinationaler Konzerne ab dem Sieg der Briten über die Moguldynastien selbst Territorien besetzen durfte.

    Nachdem das kleine Britannien mit seinen fünf Millionen Einwohnern die Herrschaft über 150 Millionen Inder erlangte, wobei man noch die Konkurrenz von Portugiesen, Holländern und Franzosen aus dem Feld geschlagen hatte, war ein gewisses Überlegenheitsgefühl verständlich.

    Das viktorianische England sah sich zweifellos als führende Nation einer modernen europäischen Zivilisation. Fischer-Tiné betont jedoch eine koloniale Aneignung von indischem Wissen, welches dann, mit europäischer Wissenschaft weiterentwickelt, als segensreiche Zivilisation den „Wilden“ (zurück-) gebracht wird.

    Die Inder hatten schon lange ihre Inoculation (deren Ursprünge neben Indien auch in China, Persien oder dem Sudan vermutet wurden), die Briten lernten von ihnen - ohne es wirklich zugeben zu wollen. Bis in heutige Zeit debattiert die Royal Society of Medicine verbissen, ob die Kuhpocken-Vakzination in Indien vor jener britischen 1796 in Berkely existiert haben kann (Boylston 2012, Wujastyk 1987).

    Als dann im 19. Jahrhundert von der kolonialen Regierung in Indien Zwangsimpfungen gegen die Pocken eingeführt wurden, gab es Misstrauen und Widerstand dagegen - der nicht unbedingt allein auf kultischem Aberglauben beruht haben muss. Etwas Misstrauen erscheint rückblickend nicht völlig unberechtigt, bedenkt man, dass dieselbe Kolonialmacht in ihren nordamerikanischen Kolonien pockenverseuchte Decken verteilen ließ, um indigene Völker auszurotten.

    1880 wurde die einheimische Inoculation durch den Indian Vaccination Act verboten, wobei es zu einfach wäre, dies allein als rationale Politik einer überlegenen Kultur zu sehen. Sicher war die Vaccination der Inoculation überlegen. Es war aber zugleich ein Akt kolonialer Machtausübung, bei dem das ökonomische Interesse an der Ausbeutung des besetzten Landes sich ins Gewand des zivilisatorischen Heilsbringers kleidet.

    Dazu kommentierte eine zeitgenössische Karikatur einer in Sanskrit erscheinenden Zeitschrift: „Der europäische Arzt ruiniert den indischen Patienten mit teuren Medikamenten“ (Fischer-Tiné, S. 50). Unter der aktuellen Not der Covid-Pandemie wurde, nebenbei bemerkt, auch bereits die Rückkehr zur Inokulation als Übergangslösung vorgeschlagen (Gandhi 2020).
    Covid, Biopolitik und Ausbeutung

    Jetzt haben wir unter hohen Subventionen von Pharmakonzernen produzierte Covid-Impfstoffe, hoffentlich auch bald gegen die Omikron-Variante.

    Doch wir sollten nicht vergessen, dass man sie uns serviert mit einer Ideologie der Überlegenheit westlicher Eliten (daher wohl die administrative Blockade von Impfstoffen aus Kuba, China oder Russland). Und dass diese Machteliten die Impfkampagnen im Rahmen einer Biopolitik durchführen, die laut Foucault auch ökonomischen Zielen dient.

    Offensichtlich sind die ökonomischen Ziele der Pharmaindustrie, die durch das Verhindern einer Patentfreigabe in der WTO gesichert wurden (maßgeblich von Merkels Bundesregierung). Die dadurch erzielte Impfstoff-Knappheit ist wohl die größte Tragödie der Covid-Pandemie, sie vergeudet Millionen Menschenleben. Sie verzögert auch die Eindämmung der Pandemie und ermöglicht dem Covid-Virus die Evolution vieler neuer Varianten, neuer Quellen für Pharmaprofite.

    Doch die ökonomischen Ziele aktueller Biopolitik könnten insgeheim viel weiter gesteckt sein: Das überwachende Seuchen-Regime erschwert den Widerstand gegen das stetige Anziehen der Ausbeutungsschraube, vor allem durch Korruption und Finanzkrisen (Barth 2009). Schon sehen wir steigende Preise für Mietraum, Nahrung, Energie, die den Lebensstandard der Bevölkerung großflächig absenken, während die Ein-Prozent-Geldelite ihren Reichtum ausbauen kann.

    Proteste und Volksbegehren gegen die Mietenexplosion werden gerade im Keim erstickt, zum Nutzen reicher Vermieter und Finanzkonzerne. Neoliberale „Gürtel-enger-schnallen“-Kampagnen für die Massen bei Steuersenkung für Wohlhabende bekommen einen grünen Anstrich. Vielleicht wäre es sinnvoller dagegen zu demonstrieren als gegen im Einzelnen vielleicht sinnvolle Maßnahmen der Biopolitik - wie Impf- oder Maskenpflicht.

    #pandémie #iatrocratie #colonialime #vaccination

    Literatur

    Barth, Thomas: Finanzkrise, Medien und dezentrale Korruption, in: Altvater, Elmar u.a.: Privatisierung und Korruption: Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Anders: Hamburg 2009, S.55-67.

    Boylston, Arthur (July 2012). “The origins of inoculation”. Journal of the Royal Society of Medicine. 105 (7): 309–313.
    Gandhi, Monica, M.D., M.P.H.; George W. Rutherford, M.D. (2020). "Facial Masking for Covid-19 — Potential for “Variolation” as We Await a Vaccine". New England Journal of Medicine. Massach. Medical Society. Oct 29, 2020

    Wujastyk D.: ’A Pious Fraud’. The Indian claims for pre-Jennerian smallpox vaccination.. In: Meulenbild GJ, Wajustyk D, eds. Studies in Indian Medical History. 2nd edition Groningen: [also Delhi 2001], 1987.

  • Amazon: Staat ohne Grenzen
    https://www.heise.de/tp/features/Amazon-Staat-ohne-Grenzen-7352077.html?seite=all

    Was für Amazon gilt, trifft weitgehend auch auf #Uber zu. Die Bedrohung trifft nicht nur #Taxi. Es geht ums Ganze.

    25.11.2022 von Orhan Akman - Herrn Jeff Bezos‘ Umwälzung der Wissenschaft – die Macht des Online-Handelsgiganten und warum die Vergesellschaftung solcher Konzerne nicht tabuisiert werden darf.

    Als Jeff Bezos, Gründer und bis vor kurzem oberster Chef des Online-Handelsgiganten Amazon, am 20. Juli 2021 von seinem Ausflug ins Weltall zurückgekehrt war, bedankte er sich bei allen Beschäftigten und Kunden seines Unternehmens – „denn ihr habt für das alles bezahlt“.

    Da kann man Bezos kaum widersprechen. Seine milliardenschweren Weltraum-Eskapaden werfen nur ein Schlaglicht darauf, wie weit die private Aneignung des von den Beschäftigten erarbeiteten Mehrwerts inzwischen gegangen ist.

    Zumal sein teurer Ausflug nur der erste Schritt gewesen sein soll. Bezos‘ Raumfahrtunternehmen „Blue Origin“ träumt von einer Zukunft, „in der Millionen Menschen im Weltraum leben und arbeiten, um die Erde zu schützen“.

    Im ersten Band des „Kapitals“ zitierte Karl Marx einst den britischen Gewerkschafter Thomas Joseph Dunning:

    Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.

    Marx/Engels: Werke, Band 23, S. 788

    Gegenüber Bezos nehmen sich die Kapitalisten des 19. Jahrhunderts, in dem ein Jules Verne seine phantastischen Romane schrieb, jedoch wie Waisenknaben aus.

    Schon 1877 wies Friedrich Engels im „Anti-Dühring“ – eigentlich: „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ – darauf hin, dass der moderne Staat „die Organisation (ist), welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten“. (Marx/Engels: Werke, Bd. 20 S. 260)

    Als eine Gefahr für die kapitalistische Produktionsweise bewertet Engels dabei „die gewaltsame Konzentration der Kapitale, die sich während der Krisen vollzieht vermittelst des Ruins vieler großen und noch mehr kleiner Kapitalisten“.

    Folgen wir Engels‘ Gedanken, wäre es – im Sinne des kapitalistischen Marktes (in Deutschland auch gerne als „soziale Marktwirtschaft“ schöngeredet) die Aufgabe des Staates beziehungsweise der Staaten, die Übermacht „einzelner Kapitalisten“ à la Bezos einzuschränken oder zu verhindern.

    Engels ging 1876 jedoch noch davon aus, dass manche Produktions- und Verkehrsmittel „von vornherein so kolossal“ seien, dass sie „jede andre Form kapitalistischer Ausbeutung ausschließen“. An einer bestimmten Entwicklungsstufe müsse deshalb „der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, (…) ihre Leitung übernehmen“.
    Auch Bürgerliche müssten in solchen Fällen für Vergesellschaftung sein

    Demnach müsste heute die Vergesellschaftung von Amazon, Google und Co. auf die politische Agenda gesetzt werden, und zwar auch von bürgerlichen Parteien. Tatsächlich jedoch sind in den vergangenen Jahrzehnten zentrale Elemente der öffentlichen Infrastruktur – etwa die ehemalige Deutsche Bundespost, die Telekom und die Deutsche Bundesbahn – privatisiert worden.

    Damit hat die Bundesregierung unter anderem die Lenkung der Digitalisierung weitgehend den Profitinteressen von Großkonzernen unterworfen – wo es sich nicht rentiert, wird nicht digitalisiert. Auch die meisten anderen der für die heutige Wirtschaft unverzichtbaren Instrumente sind in privater Hand. Und selbst die Privatisierung des Weltraums schreitet, wie wir gesehen haben, voran.

    Das folgt einer Logik, die Lenin bereits 1916 analysiert hat:

    Einerseits die gigantischen Ausmaße des in wenigen Händen konzentrierten Finanzkapitals, das sich ein außergewöhnlich weitverzweigtes und dichtes Netz von Beziehungen und Verbindungen schafft, durch das es sich die Masse nicht nur der mittleren und kleinen, sondern selbst der kleinsten Kapitalisten und Unternehmer unterwirft; anderseits der verschärfte Kampf mit den anderen nationalstaatlichen Finanzgruppen um die Aufteilung der Welt und um die Herrschaft über andere Länder – all dies führt zum geschlossenen Übergang aller besitzenden Klassen auf die Seite des Imperialismus.

    ‚Allgemeine‘ Begeisterung für seine Perspektiven, wütende Verteidigung des Imperialismus, seine Beschönigung in jeder nur möglichen Weise – das ist das Zeichen der Zeit. Die imperialistische Ideologie dringt auch in die Arbeiterklasse ein.

    W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus; in: ders. Werke, Bd. 22, S. 290

    Staat ohne Staatsgrenzen

    Gerade Amazon agiert inzwischen wie ein Staat ohne Staatsgrenzen. Aufgrund seiner wirtschaftlichen und Finanzmacht meint der Konzern, sich nationalem Recht und den Versuchen einer Regulierung durch Staaten oder internationale Organisationen entziehen zu können.

    Dabei nutzt Amazon einerseits für den Konzern vorteilhafte nationale Gesetze aus, andererseits umgeht es behindernde Regularien oder verletzt sie ganz offen – und kann daran aufgrund seiner Übermacht von den zuständigen Behörden kaum gehindert werden.

    Konzerne wie Amazon und Microsoft üben auch entscheidenden Einfluss auf Militär, Polizei und Geheimdienste aus, die auf ihre Technik angewiesen sind. So ist in den USA ein erbitterter Streit vor allem zwischen Amazon und Microsoft darum entbrannt, wessen „Cloud“ von den Behörden eingesetzt werden soll. Bisher hat Amazon mit seinem Dienst AWS klar die Nase vorn und hat bereits den US-Geheimdienst CIA ausgestattet.

    Über seine „Cloud“ hat sich Amazon auch in weiteren strategisch unverzichtbaren Wirtschaftsfeldern so etabliert, dass der Konzern eine kaum noch angreifbare Hegemonie ausübt. In der Plattformökonomie definiert Amazon, wer überhaupt und auf welche Weise am Markt teilnehmen kann – und stellt zunehmend die Infrastruktur der digitalen Daseinsvorsorge.

    Schon 2016 wies Parag Khanna in der Fachzeitschrift Foreign Policy darauf hin, dass die Frage nicht mehr nur sei, ob z.B. China die USA als Supermacht ablösen könnte, sondern auch, ob bestimmte Konzerne dazu in der Lage sind. In dem Artikel werden 25 „Corporate Nations“ aufgelistet, deren Macht die von Nationalstaaten übersteigt.

    Zwar gehörten demnach die „üblichen Verdächtigen“ – zum Beispiel Ölkonzerne wie Exxon Mobile und Royal Dutch Shell – weiter zu den mächtigsten Konzernen. Auf Platz 1 stand mit Walmart jedoch schon ein Handelsunternehmen, auf Platz 7 folgte Amazon – noch vor Microsoft und Alphabet (Google).

    2018 veröffentlichte das Internetportal „The Conversation“ eine Aufstellung, nach der von den 100 größten Umsatzgenerierern der Welt 71 Unternehmen und nur 29 Nationalstaaten waren. Diese Tendenz hat sich inzwischen weiter verstärkt.

    Für 2021 meldete Amazon einen Gesamtumsatz in Höhe von 469,8 Milliarden US-Dollar. Das übersteigt das Bruttoinlandsprodukt von Staaten wie Österreich, Südafrika oder Chile. Der Nettogewinn wird mit 33,4 Milliarden Dollar angegeben. Trotzdem musste der Konzern in der EU keine Körperschaftssteuer zahlen – weil man bei einem Umsatz von 44 Milliarden Euro in Luxemburg einen Verlust von 1,2 Milliarden Euro auswies.

    In den USA zahlte der Konzern in den vergangenen drei Jahren im Durchschnitt 4,3 Prozent Steuern – obwohl der Satz für solche Unternehmen bei 21 Prozent liegt. Selbst im Rekordjahr 2020 musste der Konzern nur 9,4 Prozent seines Profits an den Fiskus abführen.

    „Frei ist, wer reich ist“

    Für demokratische Verhältnisse ist es eine gefährliche Konstellation, wenn Besitzer der für die Kommunikation unverzichtbaren Technik auch direkt die verbreiteten Inhalte bestimmen können.

    Schon 1965 wies der Mitbegründer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Paul Sethe, in einem vom Spiegel veröffentlichten Leserbrief darauf hin, dass die Gefahr bestehe, „dass die Besitzer der Zeitungen den Redaktionen immer weniger Freiheit lassen, dass sie ihnen immer mehr ihren Willen aufzwingen. Da aber die Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften immer größeres Kapital erfordert, wird der Kreis der Personen, die Presseorgane herausgeben können, immer kleiner“.

    Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. Journalisten, die diese Meinung teilen, finden sie immer. (…) Aber wer nun anders denkt, hat der nicht auch das Recht, seine Meinung auszudrücken? Die Verfassung gibt ihm das Recht, die ökonomische Wirklichkeit zerstört es. Frei ist, wer reich ist.

    Paul Sethe, 1965

    Trotz aller Veränderungen in der Medienwelt ist Sethes Warnung heute aktueller denn je – nicht nur, weil Amazon-Chef Jeff Bezos mit der Washington Post seit 2013 eine der wichtigsten Zeitungen in den USA besitzt.

    Die „sozialen Netzwerke“ – vor allem Twitter und Facebook – oder Suchmaschinen wie Google haben inzwischen eine solche Hegemonie erreicht, dass sie durch die Sperrung von Konten oder ein Herabstufen von Treffern in der Anzeige von Suchergebnissen die Möglichkeit zur Meinungsäußerung drastisch einschränken können. Auch in Deutschland wurden schon unter anderem gewerkschaftliche Angebote von solchen Zensurmaßnahmen betroffen.

    Amazon stellt die Infrastruktur – Server, über die der Konzern zum Beispiel Video-Streamingdienste (Amazon Prime) anbietet. Diese bieten immer mehr Inhalte aus eigener oder übernommener Produktion an – der vom Konzern im März 2022 vollzogene Kauf des Hollywood-Studios MGM weist in diese Richtung.

    Das benötigte Equipment können die Kundinnen und Kunden praktischerweise direkt im Amazon-Onlineshop beziehen – zu bezahlen mit dem konzerneigenen Bezahldienst Amazon Pay. Gleichzeitig sind aber auch Konkurrenten wie Netflix gezwungen, die von Amazon/AWS bereitgestellte Infrastruktur zu nutzen, weil sie ihren Kund*innen sonst kein konkurrenzfähiges Angebot machen könnten.

    Damit aber begeben sie sich in direkte Abhängigkeit von Amazon, das ihnen ohne Weiteres die Luft abdrehen könnte. Das gleiche gilt noch mehr für Handelsunternehmen, die auf die Nutzung der Marktplattform von Amazon angewiesen sind, sich aber den Vorgaben und Regularien des Konzerns beugen müssen.

    Wir können deshalb ohne größere Übertreibung feststellen, dass Amazon mittlerweile nicht mehr nur den Markt beherrscht, sondern im Bereich des Online- und Versandhandels selbst der Markt ist.

    Schon für Lenin war die „Kombination“, die Vereinigung verschiedener Industriezweige in einem einzigen Unternehmen, eine „äußerst wichtige Besonderheit des Kapitalismus, der die höchste Entwicklungsstufe erreicht hat“.

    Zustimmend zitiert er Rudolf Hilferding mit der Aussage, dass die Kombination eine „Ausschaltung des Handels“ bewirke:

    Die Ausschaltung des Handelsprofits ist möglich durch die fortgeschrittene Konzentration. Die Funktion des Handels, die in den einzelnen kapitalistischen Betrieben zersplitterte Funktion zu konzentrieren und so den anderen industriellen Kapitalisten die Befriedigung ihres Bedarfes in dem ihnen entsprechenden Quantum zu ermöglichen, ist nicht mehr notwendig.

    Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital. Dritter Abschnitt: Das Finanzkapital und die Einschränkung der freien Konkurrenz

    Ding Gang, ein leitender Redakteur des Zentralorgans der Kommunistischen Partei Chinas, Renmin Ribao, warnte deshalb am 14. April 2021 im englischsprachigen Schwesterblatt Global Times:

    Die von Amazon repräsentierte Macht der Automatisierung und Digitaltechnologie verschärft gesellschaftliche Spaltungen und könnte eine Quelle für eine bevorstehende lange andauernde soziale Instabilität sein.

    Global Times, 14. April 2021

    Für uns als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter folgt daraus, dass wir uns in der Auseinandersetzung mit den Großkonzernen nicht im Klein-Klein verlieren und weder nationalen Grenzen noch den Fesseln unternehmensfreundlicher Gesetze beugen dürfen.

    Dabei darf die Vergesellschaftung bzw. Teilvergesellschaftung dieser Konzerne nicht tabuisiert werden. Als Gewerkschaften sind wir gut beraten, diese Debatte anzustoßen und in der Gesellschaft eine Vorreiterrolle zu übernehmen.

    Wir dürfen nicht zulassen, dass einzelne Konzerne mehr Macht haben als die ganze Bevölkerung. Der Kampf gegen die Übermacht von Amazon und Co. ist deshalb ein Kampf um die demokratischen Rechte und Freiheiten, ein Kampf um die Verteidigung der Menschenrechte.

    Orhan Akman ist Kandidat für Bundesvorstand der Gewerkschaft ver.di

    #Disruption #Privatisierung

  • „Für mich hat der Krieg in den Köpfen spätestens 2008 und erst recht 2014 begonnen“
    https://www.heise.de/tp/features/Fuer-mich-hat-der-Krieg-in-den-Koepfen-spaetestens-2008-und-erst-recht-2014-be

    Das in zwei Teilen erschienene Interview mit Antje Vollmer wurde von über 150 Print- und Onlinemedien zitiert, darunter die Tageszeitungen Die Welt und Berliner Zeitung.

    première partie

    15.11.2022 von Harald Neuber - Antje Vollmer über die Glaubwürdigkeit der Grünen als Friedenskraft, das letzte Konzept einer europäischen Friedensordnung und den Fauxpas des Westens angesichts des Todes von Michail Gorbatschow. (Teil 1)

    „Jetzt hilft nur noch die Weisheit des westfälischen Friedens“
    https://www.heise.de/tp/features/Jetzt-hilft-nur-noch-die-Weisheit-des-westfaelischen-Friedens-7341601.html

    16.11.2022 - Antje Vollmer über die Notwendigkeit von internationaler Kooperation, über hybride politische Thinktanks und die Bedeutung des Zweifels an der veröffentlichten Mehrheitsmeinung. (Teil 2 und Schluss)

    Antje Vollmer ist Pfarrerin und Pädagogin. Sie ist zudem als Publizistin tätig und wurde als Bundespolitikerin bekannt. 1983 gehörte sie der ersten Grünen-Bundestagsfraktion an und war von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.

    Im ersten Teil dieses Gesprächs ging sie darauf ein, wie aus ihrer Sicht der „Krieg in den Köpfen“ der einstigen Partei der Friedensbewegung begonnen hatte.

  • Ukraine’s high casualty rate could bring war to tipping point | Ukraine | The Guardian
    https://www.theguardian.com/world/2022/jun/10/ukraine-casualty-rate-russia-war-tipping-point

    Analysis: Kyiv’s fighting strength is stretched, yet Russia could now benefit from a pause in fighting

    Any way you count it, the figures are stark: Ukrainian casualties are running at a rate of somewhere between 6oo and 1,000 a day. One presidential adviser, Oleksiy Arestovych, told the Guardian this week it was 150 killed and 800 wounded daily; another, Mykhaylo Podolyak, told the BBC that 100 to 200 Ukrainian troops a day were being killed.

    It represents an extraordinary loss of human life and capacity for the defenders, embroiled in a defence of the eastern city of Sievierodonetsk that this week turned into a losing battle. Yet the city was also arguably a place that Ukraine could have retreated from to the more defensible Lysychansk, across the Siverski Donets River, the sort of defensive situation that Ukraine has fared far better in.

  • Ich erinnere mich, in jener Zeit in einer Unterrichtsstunde gesesse...
    https://diasp.eu/p/14540201

    Ich erinnere mich, in jener Zeit in einer Unterrichtsstunde gesessen zu haben und die Sirenen fingen an zu heulen, minutenlang. Es war eine Übung, aber das wusste ich nicht. Ein Klassenkamerad meinte später, er hätte in diesem Moment gedacht, jetzt ist es passiert, Krieg, Atomkrieg, Ende. Genau das hatte ich auch gedacht. Solche Erfahrungen sind kaum zu vermitteln. https://www.heise.de/tp/features/Der-einsame-Tod-des-Mannes-der-die-Welt-gerettet-hat-7096489.html

  • Woran wir uns erinnern, wenn wir uns erinnern
    https://www.heise.de/tp/features/Woran-wir-uns-erinnern-wenn-wir-uns-erinnern-7078673.html

    8.5.2022 von Ernst Piper - ... Für mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen sind Zeitzeugen sehr wertvoll. Wenn es aber um die Rekonstruktion des Faktografischen geht, sind ihre Aussagen eher zur Illustration des Befundes von Bedeutung.
    ...
    Der französische König Heinrich IV. ordnete 1598 im Edikt von Nantes an, dass die Erinnerung an das, was beide Seiten im vorausgehenden Religionskrieg einander angetan hatten, „ausgelöscht und eingeschläfert“ werden solle. Jede Erwähnung des Geschehenen war fortan verboten. Folgerichtig war auch die Strafverfolgung der Täter untersagt. Wer sich an diese Anordnung nicht hielt, wurde als Friedensbrecher und Feind der öffentlichen Ordnung bestraft.
    ...
    Jürgen Müller-Hohagen hat gezeigt, dass traumatische Belastungen oftmals in einem transgenerationellen Transfer an die nächste und auch die übernächste Generation weitergegeben werden.
    ...

    #Geschichre #Erinnerung

  • Gorillas-Lieferdienst : Klassenkampf im Gerichtssaal | Telepolis
    https://www.heise.de/tp/features/Gorillas-Lieferdienst-Klassenkampf-im-Gerichtssaal-6666242.html

    7.4.2022 von Peter Nowak - Für die Betroffenen war die gestrige Verhandlung nur eine Etappe auf dem Weg zum Europäischen Gerichtshof.

    Die Kündigungen von drei Beschäftigten des Essenslieferanten Gorillas wegen Beteiligung an einem „wilden Streik“ sind wirksam. Die Klage der Betroffenen dagegen vor dem Berliner Arbeitsgericht ist gescheitert.

    In einem Fall hat das Gericht allerdings die fristlose Kündigung zurückgewiesen, weil nicht hinreichend dargelegt worden sei, wie der Rider – so werden die Gorilla-Fahrer genannt – am Streik involviert war. Da er noch in der Probezeit war, konnte allerdings das Beschäftigungsverhältnis nach einer Zweiwochenfrist beendet werden, so das Gericht.

    So konnten alle drei Beschäftigten nicht wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Trotzdem sehen sie in der Entscheidung keine Niederlage. Sie war vielmehr erwartet worden. Wer am Mittwoch die 90-minütige Verhandlung verfolgte, war schnell davon überzeugt, dass die Beschäftigten dort keinen Erfolg haben werden.

    Im Gerichtssaal war vielmehr eine Atmosphäre von Klassenkampf zu spüren. Arbeitsrichter Kühn drohte sogar mit Räumung des Saals, weil ein Besucher einem nicht-deutschsprachigen Rider die Dialoge im Gerichtssaal übersetzte. Da konnte schon von einer Diskriminierung gesprochen werden, denn die Mehrzahl der Rider ist migrantisch und untereinander kommunizieren sie auf Englisch. Da ist es besonders fatal, dass Menschen, die dann versuchen, die Sprachdefizite durch Übersetzung in Eigeninitiative ausgleichen, sanktioniert werden.

    Auch gegenüber dem Anwalt der Beschäftigten, Benedikt Hopmann, waren die Töne des Richters sehr rau. Er beschuldigte ihn, auf Kosten der Beschäftigten Politik betreiben zu wollen. Das zeigte sich für Kühn schon daran, dass über 50 Menschen den Prozess verfolgten, der dafür extra in einen größeren Saal umziehen musste.

    Für Hopmann ist das Interesse deshalb so groß, weil es viele Menschen gibt, die ein Interesse an einem Ende des regressiven Streikrechts in Deutschland haben, so seine Ausführungen im Gerichtssaal.

    Hoffnung auf EU-Recht?

    Diese Hoffnung allerdings bleibt trotz des negativen Urteils beim Berliner Arbeitsgericht weiter bestehen. Es war schon eingepreist und ist die Voraussetzung, damit die Kläger durch alle Instanzen und bis zum Europäischen Gerichtshof ziehen können. Das aber, so die Hoffnung von Hopmann, könnte das regressive Streikrecht in Deutschland kippen, das in der Pressemitteilung des Berliner Arbeitsgerichts noch einmal ausdrücklich bestätigt wurde.

    Das Gericht erachtete zwei der außerordentlichen Kündigungen für wirksam. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass die Teilnahme an einem Streik nur dann rechtmäßig sei, wenn dieser von einer Gewerkschaft getragen werde.

    Aus der Pressemitteilung des Berliner Arbeitsgerichts

    Hopmann verweist auf die Europäische Sozialcharta, die im Widerspruch dazu stehe. Sie stärke ausdrücklich das Recht auf Streiks ohne Gewerkschaften sowie politische Streiks, was Hopmann in einem Online-Vortrag auch gut begründet.

    Dass deutsche Regierungen der unterschiedlichen Zusammensetzungen die Europäische Sozialcharta behindern, kritisiert auch der gewerkschaftsnahe Jurist Wolfgang Däubler.

    Trotzdem wäre ein zu großer Optimismus verfrüht, dass das regressive deutsche Streikrecht durch EU-Recht liberalisiert wird. Das zeigte sich schon daran, dass der Anwalt des Essenslieferanten die Sozialcharta ganz anders auslegt.

    Hier wurde eben deutlich, dass es sich um einen Klassenkampf im Recht handelt. Das EU-Recht hat in verschiedenen Minderheitenfragen tatsächlich liberalen Positionen zum Durchbruch verholfen, aber ist nicht als besonders gewerkschaftsfreundlich aufgefallen. Trotzdem ist die aktuelle Auseinandersetzung wichtig.

    Neue Gesicht der Arbeitskämpfe in Deutschland

    Die Grundlage ist eine neue Welle von Arbeitskämpfen, die durch die Rider verschiedener Essenslieferanten initiiert wurden, die lange als schwer organisierbar galten. Doch mit der Gründung der Deliverunion zeigte sich, dass auch dort Organisierungsprozesse möglich sind, wie der Soziologe Robin De Greef in dem Buch „Riders Unite!“ nachgewiesen hat.

    Nun ist bei Gorillas eine neue Welle der Beschäftigten in den Kampf getreten. Sie ist transnational. Ihr Kampf dreht sich um mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen, aber auch um überdachte Pausenräume. Sie haben mit ihren Arbeitskämpfen überhaupt erst wieder die Diskussion um das regressive deutsche Streikrecht auf die Agenda gesetzt.

    Das wurde in dem Redebeitrag von Gorilla-Riderin Duygu Kaya deutlich. Die Akademikerin aus der Türkei beschrieb gut, dass sie als Migrantin auch in Deutschland in prekäre Arbeitsverhältnisse wie bei Gorillas gezwungen ist. Sie erklärte, wieso die Beschäftigten dort in den Arbeitskampf traten und auch trotz Repression daran festhielten.

    Eigentlich wollte Kaya den Beitrag vor Gericht halten, um dort zu begründen, warum sie in den Arbeitskampf trat. Doch das ließ Richter Kühn mit der Begründung nicht zu, er könne keine Schmähkritik im Gerichtssaal dulden. Vielleicht, weil Kaya auch auf den NS-Hintergrund des regressiven deutschen Streikrechts erinnerte. Es wurde bereits 1934 von Hans-Carl Nipperday in seinem Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit formuliert und hat noch immer Gültigkeit.

    Solidarität mit Beschäftigten auch im Stadtteil

    So konnte Kaya ihre Rede vor dem Berliner Arbeitsgericht halten, wo die Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht zu einer Kundgebung aufrief. Dort haben sich verschiedene Gruppen, unter anderem die AG Taxi bei der Dienstleistungsgewerkschaft verdi, mit den Gorilla-Riders solidarisiert.

    Schon einige Tage zuvor haben Nachbarn ebenfalls ihre Solidarität gezeigt, als dort eine Gorilla- Filiale geschlossen wurde. Vorher hatten einige Anwohner gegen das „migrantische Unternehmen“ mobilisiert, das angeblich nicht in die bürgerliche Wohngegend passe. Auf der Kundgebung am 30. März setzte ein Mitarbeiter des Roten Antiquariats, das in der Straße seine Filiale hat, in einer Rede andere Akzente:

    Doch statt die Arbeitsbedingungen und die Kapitalstrategien zu kritisieren, werden die oftmals migrantischen Beschäftigten selber zu Sündenböcken erklärt. Es wird sich über die hohe Geschwindigkeit der Fahrradkuriere oder die blockierten Straßen mokiert aber nicht gesehen, dass die Beschäftigten im Zustellungsbereich einen gewaltigen Druck erleben und sie es sind, die die bestellten Waren transportieren aber nicht konsumieren. Die Logik ist klar, man will beliefert werden, aber der Lieferverkehr und die Arbeitskräfte sollen nicht stören. Die Kuriere sind jedoch die modernen Dienstboten unserer Zeit.

    aus einer Rede eines Mitarbeiters des Roten Antiquariats auf einer Solidaritätskundgebung für Gorillas-Beschäftigte

    Diese außerbetriebliche Solidarität ist der Erfolg der Arbeitskämpfe der Riders. Wenn es ihnen gelingt, über den Europäischen Gerichtshof ein regressives deutsches Streikrecht mit NS- Hintergrund zu kippen, wäre das ein besonderer Erfolg.

    #Berlin #Arbeit #Justiz #Gigworking #Kündigung #Arbeitskampf #Klassenkampf #Fahrradkurier #Transport

    • propre lien :

      https://www.heise.de/tp/features/Blaupausen-fuer-die-Ukraine-6527247.html

      [...]

      Genschers zentrale Rolle in der Zerschlagung Jugoslawiens wird anhand der Debatte aber schon deutlich. Und während ihn in Deutschland viele Jüngere gar nicht kennen, steht er in Kroatien auf vielen Sockeln als Denkmal. In Serbien stellt er eine Hassfigur dar.

      Die Frage, ob diese frühe Anerkennung ein essentieller Fehler war, taucht immer dann auf, wenn bei Krisen auf diesen ersten Schritt in Richtung Völkerrechtsbruch im damaligen Jugoslawien hingewiesen wird – so etwa im Nachgang zur Ukrainekrise von 2014/15, die die Regierung Janukowitsch durch eine andere ersetzte, mit viel Dollarunterstützung aus dem Ausland (fünf Mrd. laut Victoria Nuland), die die BBC dokumentiert, und einen weiteren Völkerrechtsbruch umschloss: die Annexion der Krim durch Russland.

      Während die Deutsche Welle 2016 nach Genschers „Anerkennung als Sünde“ fragt, lehnt die tageszeitung diese Deutung als „Zerstörer-Legende“ entschieden ab und stuft die Rolle Genschers in der Aufspaltung des Balkans als nicht so zentral herunter.

      Tatsächlich stellt dieser Schritt der Anerkennung 1992 den ersten Sargnagel Jugoslawiens dar und verstieß gegen die KSZE-Schussakte von Helsinki von 1975, die die Anerkennung der Grenzen in Europa festschrieb und die auch die beiden Deutschlands unterschrieben hatten. Mit Genschers Schritt verletzte die deutsche Regierung diese Vereinbarung.

      Einen Krieg und viele Tote später wurde schließlich das #Kosovo – aus „humanitären“ Gründen, um einen „Genozid“ zu verhindern – für unabhängig erklärt, was nicht nur einen klaren Völkerrechtsverstoß darstellte, sondern auch einen Hinweis auf die Perfidie der Kriegspropaganda wirft.

      Schließlich gab sogar Deutschland seinen Grundsatz „Nie wieder Krieg!“ auf, als der damalige Außenminister Joschka Fischer mit „Nie wieder Auschwitz!“ erfolgreich für den Kriegseinsatz der Bundeswehr warb. Bis heute hält sich die Mär vom serbischen Tyrannen Milosevic, wahrscheinlich auch darum, weil die wenigsten Journalisten den Text des Vertragswerks von Rambouillet lasen und somit nicht einschätzen können, warum der Krieg auf dem Balkan eskalierte.

      Heute sind die Zusammenhänge zwar gut aufgearbeitet (s.u.), aber auch diese Fakten muss man nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen. Dann gelingt es in der aktuellen Krise einige Parallelen zu übersehen und nicht das Doppelmaß der Doppelzüngigkeit derjenigen, die von „Völkerrecht“ und „Freiheit“ reden, um Verhandlungen abzusagen und Soldaten zu mobilisieren, zu erkennen.

      Die große #Manipulation der öffentlichen Meinung erklärt der langjährige UNO-Korrespondent der tageszeitung, Andreas Zumach, in einer Analyse über die Verhandlungen um das Abkommen von Rambouillet. An der Aufklärung der Schande von Rambouillet, nämlich dem Nichtzustandekommen des nach dem Tagungsort benannten Abkommens, was schließlich den Auftakt des Nato-Angriffs auf Jugoslawien bedeutete, wird die aktuelle deutsche Regierungskoalition kein Interesse haben, denn FDP, SPD und Grüne waren maßgeblich daran beteiligt, uns in diesen Krieg zu lügen, wie es u.a. der WDR aufdeckte.

      Die Sachlage im unannehmbaren Annex B des Vertragsentwurfs von #Rambouillet, der eine Art Besatzungsstatut für die Nato in ganz Jugoslawien darstellte (s.o.), ist zwar eine andere, als in den Abkommen von Minsk zur Befriedung des Ukraine-Konflikts. Dennoch enthält der aktuelle Konflikt neben dem Genscher-Moment der Anerkennung unabhängiger Staaten – zuletzt durch Putin die selbst proklamierten Volksrepubliken #Donezk und #Luhansk – auch ein Moment, das #Minsk_II hier einreiht: nämlich die Forderung nach „Rückkehr zu Minsk II“ an Putin allein, ohne die Verletzung der Vereinbarungen durch die Ukraine in den letzten Jahren zu erwähnen.

      Das könnte an die Dämonisierung des serbischen Präsidenten #Milosevic erinnern, wenn man es nicht verdrängt hat, denn der – und das ist wichtig für heute – wurde mit seinen Anliegen nicht vergleichbar in der hiesigen Öffentlichkeit gehört wie die andere Seite; auch durch die damals noch gänzlich andere Mediensituation. Wobei wir inzwischen wissen, dass auch vielen entscheidungstragenden Politikern wichtige Details von „Rambouillet“ nicht mitgeteilt worden waren (siehe dazu den historischen Abriss von Andreas Zumach). Offensichtlich gab es Interessen an dem Krieg.

      [...]

      #Ex-Yougoslavie #Ukraine #Russie