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  • Britische Regierung plant geheime Ausbürgerungen
    https://www.heise.de/tp/features/Britische-Regierung-plant-geheime-Ausbuergerungen-6277297.html?seite=all

    Sous Boris Johnson le Royaume Uni est en train d’adopter des mesures dignes des dictatures fascistes du siècle passé. Dans ce contexte une nouvelle lois définit la nationalité britannique comme privilège à attribuer ou révoquer par les autorités.

    Le gouvernement anglais ajoute une touche dystopique à l’affaire en autorisant la révocation de la nationalité à l’insu des personnes concernées les tranformant ainsi en objets sans droits. La loi prévoit également l’impunité totale des gardes frontières et autorise ainsi implicitement l’assassinat des nouveaux hors la loi.

    Dans les démocraties libérales de l’UE la nationalité fait partie des droits fondamentaux de chaque citoyen. Le développement dans l’UK nous oblige d’agir afin de prévenir des projet de droite similaires dans nos pays.

    26.11.2021 von Gerd Roettig - Bürger könnten in Geheimvorgang Staatsbürgerschaft aberkannt bekommen, Rechtsbehelf bliebe womöglich verwehrt. „Pushbacks“ gegen Flüchtlinge sollen faktisch straffrei bleiben

    Klammheimlich und von der internationalen Öffentlichkeit bislang kaum beachtet hat die britische Regierung einige wesentliche Änderungen des nationalen Staatsangehörigkeitsgesetzes auf den Weg gebracht. Die regierenden Tories möchten die Befugnisse weiter ausdehnen, Menschen ihre Staatsbürgerschaft zu entziehen.

    Zu einer solchen Maßnahme war das Innenministerium nach den Bombenanschlägen in London 2005 ermächtigt worden. Kritische Beobachter hatten damals schon vor einem rechtlichen Rückfall in Weltkriegszeiten gewarnt, als vor allem autoritäre und totalitäre Staaten Millionen Menschen ausbürgerten.

    Nun soll dieses Erbe des „Krieg gegen den Terror“ noch weiter verschärft werden. Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs könnten den Plänen zufolge ohne jegliche Vorankündigung oder Warnung ausgebürgert werden.

    Das Gesetz, das Anfang des Monats novelliert wurde, befreit die Regierung von der Pflicht, eine Benachrichtigung auszustellen, wenn dies nicht „praktikabel“ sei, wie die britische Zeitung The Guardian bereits am 17. November berichtete.

    Schon die sprachliche Formulierung, die eine willkürliche Auslegung ermöglicht, ist eher einer Diktatur und nicht eines Rechtsstaats würdig. Die Regierung erklärt mit dem Gesetz einen permanenten Ausnahmezustand, und zwar „im Interesse der nationalen Sicherheit, der diplomatischen Beziehungen oder in einem anderweitigen öffentlichen Interesse“, wie der Guardian zitiert.
    Staatsbürgerschaft als Privileg des Staates

    Auch darüber hinaus sollen die Tore für staatliche Willkür weit geöffnet werden: So soll die neue Regelung es den Behörden ermöglichen, sie rückwirkend anzuwenden. Dies würde die Möglichkeit Betroffener infrage stellen, Rechtsbehelf einzulegen.

    Das Innenministerium erklärte hierzu:

    Die britische Staatsbürgerschaft ist ein Privileg, kein Recht. Der Entzug der Staatsbürgerschaft aus förderlichen Gründen ist zu Recht auf diejenige anzuwenden, die eine Bedrohung für das Vereinigte Königreich darstellen oder deren Verhalten hohen Schaden verursacht.

    Die reaktionäre Umdeutung des völker- und menschenrechtlich verbürgten Rechts auf Staatsangehörigkeit in ein von der Obrigkeit verliehenes „Privileg“ geht ebenso auf den sogenannten „Krieg gegen den Terror“ zurück, den Georg W. Bush und Tony Blair 2001 angezettelt hatten. Neokonservative Interessengruppen werden nicht müde, das Recht auf Staatsbürgerschaft weiter zu schwächen. Auch darum geht von dem britischen Gesetzesentwurf eine substanzielle Gefahr weit über die Inseln hinaus aus.

    Frances Webber, die stellvertretende Vorsitzende des Institute of Race Relations, wird vom Guardian mit den Worten zitiert:

    Dieser Änderungsantrag vermittelt die Botschaft, dass bestimmte Bürger, obwohl sie im Vereinigten Königreich geboren und aufgewachsen sind und keine andere Heimat haben, Migranten in diesem Land bleiben. Ihre Staatsbürgerschaft und damit alle ihre Rechte werden dadurch präkarisiert.

    Damit würden internationale Menschenrechtsverpflichtungen und grundlegende Normen der Gerechtigkeit auf frappierende Weise missachtet.
    Warnungen von Hannah Arendt sind wieder aktuell

    Wie weit Großbritannien bezüglich des Staatsbürgerrechts in der Rechtsentwicklung Rückschritte macht, wird deutlich, wenn man es anderen Zeiten gegenüberstellt. In der McCarthy-Ära der 1950er-Jahre beschrieb die liberale Publizistin Hannah Arendt die Angriffe auf das in der UN-Menschenrechtskonvention verankerte „Recht darauf, Rechte zu haben“ noch mit folgenden Worten:

    Vor dem letzten Krieg griffen nur totalitäre oder halbtotalitäre Diktaturen zu der Waffe der Ausbürgerung. Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem selbst freie Demokratien, wie z.B. die Vereinigten Staaten, ernsthaft in Erwägung ziehen, gebürtigen Amerikanern, die Kommunisten sind, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Das Unheimliche an diesen Maßnahmen ist, dass sie in aller Unschuld erwogen werden.

    Die damalige von Arendt beschriebene Gefahr konnte damals durch die weltweiten Bürgerrechtsbewegungen der 1960er-Jahre gebannt werden.

    So ein Druck wird auch im Fall Großbritanniens notwendig sein, denn die britische Regierung plant einen noch weitergehenden Rechtsabbau. Der Gesetzentwurf ist Teil der sogenannten Nationality and Borders Bill - und dieses Gesetz hat es in sich.

    Mit diesem Gesetz wären Asylanträgen von Personen unzulässig, die auf „illegalem Weg ins Vereinigte Königreich“ gekommen sind, unabhängig von der Art der Bedrohung, der sie ausgesetzt waren. Zudem soll die Straffreiheit für Grenzschutzbeamte festgeschrieben werden.

    Wie mehrere Zeitungen berichteten, könnten diese bei sogenannten „Pushback“-Einsätzen im Ärmelkanal — also militarisierten Attacken auf Flüchtlingsboote — nicht mehr strafrechtlich belangt werden, sollte es dabei zur Tötung von Menschen kommen.

  • Griechenland: Was und wie darf Journalismus fragen?
    https://www.heise.de/tp/features/Griechenland-Was-und-wie-darf-Journalismus-fragen-6266178.html

    13.11.2021 von Wassilis Aswestopoulos - Ist die Presse nun „vierte Gewalt“, oder soll sie Politiker lieber nach ihrer Leibspeise fragen?

    Eklat bei Pressekonferenz: Wer über Pushbacks reden will, beleidigt angeblich das griechische Volk. Eine niederländische Journalistin bekommt dafür einen Shitstorm der Extraklasse

    In Griechenland wird aktuell über die Frage diskutiert, was Journalismus darf - und was nicht. Wichtigster Anlass dafür ist eine harsche Frage, welche die niederländische Journalistin Ingeborg Beugel am Dienstagabend bei einer gemeinsamen Pressekonferenz von Premierminister Kyriakos Mitsotakis und dessen niederländischen Amtskollegen Mark Rutte stellte. Mitsotakis antworte harsch und wütend. Der Vorfall war internationalen Agenturen und Medien eine Nachricht wert.

    In Griechenland selbst führte er zu einem sexistischen Shitstorm griechischer Kollegen gegen Beugel. Das International Press Institute verurteilt „Versuche, eine niederländische Journalistin zu beleidigen und deren Arbeit zu diskreditieren“. Beugel wurde in regierungsnahen Medien als „türkische Agentin“ gebrandmarkt.
    Der Premier und die direkte Frage

    Bei Staatsbesuchen im Amtssitz des Premierministers herrscht folgendes Procedere: Die beiden Staatschefs stellen sich nach einer kurzen Einlassung den Fragen ausgewählter Journalisten. Die meisten Fragemöglichkeiten erhalten einheimische Medien und internationale Agenturen. Unter den Journalisten, die für Medien des Gastlandes arbeiten, wird ebenfalls ein Vertreter ausgelost, wenn es mehr als einen für den Besuch akkreditierten Journalisten gibt. Beugel war nicht über die griechischen Institutionen, sondern vielmehr über die niederländische Botschaft akkreditiert worden.

    Die Pressekonferenz wurde live im Fernsehen übertragen und auf den Kanälen des Premierministers im Internet geteilt. Der aktuelle Vorfall ist auf dem offiziellen Youtube Kanal von Premier Mitsotakis abrufbar. Beugel, mit einem auffälligen großen Hut und farblich passender Maske gekleidet, stellt ihre Frage ab Minute 20.30.

    Sie vertritt ihr Anliegen forsch und durchaus aggressiv. Sie fordert beide Regierungschefs indirekt auf, nicht mehr über die Pushbacks an der griechisch-türkischen Grenze und die Zustände in den griechischen Lager zu lügen, „wann hören sie endlich auf zu lügen?“. Die mehrteilige Frage ist gespickt mit Vorwürfen, in denen das Lügen der Politiker als „narzisstischer Missbrauch“ gebrandmarkt wird.

    Beugel fragt auch, warum sich Griechenland den schwarzen Peter zuschieben lasse, und nicht selbst offensiv die EU zu mehr Solidarität für Geflüchtete dränge und auf Umverteilung der Menschen poche. An Rutte gerichtet fragte sie, warum dieser sich weigere, den niederländischen Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen wollen, die Erlaubnis dafür zu erteilen.

    Mitsotakis reagiert sofort gereizt. Er meint, dass er die in den Niederlanden geübte, in Griechenland jedoch unbekannte Praxis der „direkten Frage“ respektiere, aber er „akzeptiere nicht, dass Sie in diesem Amtssitz mich und das griechische Volk beleidigen, und Anschuldigungen und Ausdrücke benutzen, die nicht mit Fakten belegbar sind“.

    Mitsotakis ließ sich also provozieren und redete sich in Rage. In der Folge fuhr er die Journalistin heftig an: „Waren Sie auf Samos?“. Beugel antwortete: „Ja ich war auf Samos.“ Mitsotakis schrie, „Nein, Sie waren nicht auf Samos!“ Es entwickelte sich ein scharfer, kurzer Dialog, den Mitsotakis abbrach, indem er der Journalistin das Wort entzog.

    Tatsächlich war Beugel mit Erlaubnis der Regierung und von einem Regierungsvertreter geführt, eine der ersten Journalistinnen, welche Einblick in das neue, gefängnisartige Lager bekam. Sie veröffentlichte dazu im Mai einen kritischen Artikel. Mitsotakis‘ Aussagen während der Pressekonferenz widersprachen in mehreren Fällen den Fakten.

    So bestritt er, dass die griechische Wasserschutzpolizei jemals an Pushbacks beteiligt gewesen sei. Tatsächlich aber hat die Europaabgeordnete der Nea Dimokratia, Maria Spyraki, bereits im Juni 2017 eine derartige Praxis in einer parlamentarischen Anfrage im Europaparlament zur Sprache gebracht. Damals war Mitsotakis Oppositionsführer. 2018 wiederholte Miltiadis Varvitsiotis, seinerzeit Schattenminister von Mitsotakis für Migration, heute stellvertretender Minister im Außenministerium, die Anschuldigung, dass Griechenlands Küstenwache Pushbacks praktiziere, im Parlament.

    Heute sieht Mitsotakis allein in der Frage nach Pushbacks, die jedoch sein amtierender Migrationsminister Notis Mitarachi laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur untersuchen lassen will, eine Beleidigung des griechischen Volkes. Allerdings verlangt auch die EU-Kommission Aufklärung und hält für Athen vorgesehene Geldmittel zur Finanzierung des Etats des griechischen Migrationsministeriums vorerst zurück.
    Das Privatleben der Journalistin wird durchleuchtet

    All dies hindert griechische Medien nicht daran, der seit mehr als drei Jahrzehnten in Griechenland lebenden Beugel allein wegen der Frage nach Pushbacks vorzuwerfen, sie betreibe „türkische Propaganda“. Über Twitter wiederholte der Anchorman des Senders ANT1, Herausgeber der Zeitung Real News und Leiter der Radiostation Real News, Nikos Chatzinikolaou, diese Anschuldigung.

    Chatzinikolaou, bis zum Januar 2021 Vorsitzender des griechischen Verlegerverbands, lieferte sich auf sozialen Medien mit Usern, die ihm widersprachen, mit Schimpfwörtern und Fäkalsprache gespickte Duelle. In der Hauptnachrichtensendung von SKAI TV ließ sich Sia Kossioni, zufällig mit dem Neffen des Premiers, Kostas Bakoyiannis verheiratet, mit einem Kommentator darüber aus, dass Mitsotakis zu sanft auf die Äußerungen von Beugel reagiert habe.

    Bakoyiannis ist ebenso zufällig Bürgermeister von Athen. Die griechische Medienwelt sieht hier keine mögliche Befangenheit oder Interessenkonflikte bei Kossioni. Giannis Pretenderis sprach als Kommentator in den Nachrichten des Senders MegaTV Beugel die Berechtigung, sich Journalistin zu nennen, ab. Chatzinikolaou empfahl Beugel, doch mal Journalismus zu studieren. Die Kommentatoren konstatierten, dass Beugel befangen sei, weil sie im vergangenen Sommer festgenommen wurde, weil ihr vorgeworfen wurde, einem „illegalen Migranten“ Obdach geboten zu haben.

    Dementsprechend läuft aktuell noch ein Strafverfahren gegen die Journalistin. Beim „illegalen Migranten“ handelte es sich um einen zunächst abgelehnten Asylbewerber, der sich zum Zeitpunkt der Festnahme im Widerspruchsverfahren befand. Dieses soll nach Angaben von Beugel vor zwei Wochen mit einem positiven Asylbescheid abgeschlossen worden sein.

    Die Boulevardpresse in Griechenland dichtet der Journalistin eine Beziehung mit dem erheblich jüngeren Asylbewerber an. Nachbarn werden zitiert, die behaupten, dass Beugel ihre Hunde von Asylbewerbern ausführen lasse. Der Bürgermeister der Insel Hydra, wo Beugel eine Zweitwohnung besitzt, zeigte die Journalistin an. Denn er sah sich beleidigt, weil Beugel in einem Interview nach der Pressekonferenz von die Hälfte der Inselbewohner als Anhänger der ultrarechten „Goldenen Morgenröte“ bezeichnet habe.

    Die Syriza-Opposition und die ihr nahestehende Presse erhebt dagegen die niederländische Journalistin zur Ikone. Dabei wird verschwiegen, dass es auch unter der Syriza-Regierung vielfach Anschuldigungen wegen Pushbacks an der Grenze gegeben hatte. Beugels auffälliger Hut wird von Anhängern von Syriza als Symbol gefeiert.

    Erst mit einigen Tagen Abstand rückt eine weitere Frage in den Vordergrund: Was meinte Mitsotakis mit den „direkten Fragen“, die er von griechischen Journalisten nicht gewohnt sei? Diese Frage brachte unter anderen der sozialdemokratische Politiker Kostas Skandalidis anlässlich eines Antrags der Opposition auf einen Untersuchungsausschuss ins griechische Parlament ein.

    Wenn Spitzenpolitiker lieber nach ihrer Lieblingsspeise gefragt werden

    Der Antrag wurde, wie in der reformierten Verfassung vorgesehen, mit den Stimmen von mehr als zwei Fünfteln der Abgeordneten angenommen. Der Untersuchungsausschuss soll dem Vorwurf nachgehen, dass die Regierung von Mitsotakis mit staatlichen Geldern die Meinung und Berichterstattung der Medien beeinflusse. Ein Umstand, der ebenso wie die am Donnerstag im Parlament verabschiedeten Gesetze zur Strafverfolgung von Nachrichten, die von der Regierung als „Fake News“ eingestuft werden, auch die Kommission in Brüssel beschäftigt.

    Eigentlich müssten sich die einheimischen Journalisten ihrerseits beleidigt fühlen. Räumt doch der Premier ein, dass er von ihnen eher mit Samthandschuhen angefasst wird. Nikos Chatzinikolaou hatte jedenfalls in einem politischen Interview Mitsotakis ungerührt nach eher belanglosen Themen wie dessen Lieblingsspeise gefragt. Es sind gefüllte Weinblätter, in Griechenland Dolmadakia genannt. Dem früheren Ppräsidenten des Verlegerverbands verpassten die Griechen daher den Spitznamen „Dolmadakias“.

    #Grèce #journalisme #réfugiés #liberté_de_la_presse

  • Die Wirecard-Connection deutscher Behörden | Telepolis
    https://www.heise.de/tp/features/Die-Wirecard-Connection-deutscher-Behoerden-6261779.html?seite=all

    Suite à la lecture de cet aricle l’envie me prend de déménager à Palerme ou Naples. Là bas on est sans doute davantage à l’abri de la mafia qu’à Berlin. En plus il fait meilleur temps dans le Mezzogiorno qu’à Berlin où on n’est même plus récompensé par de vrais hivers pour les longues périodes pluvieuses de l’automne.

    09.11.2021 von Rainer Winters „Failed State Germany“ - Kommentar und Hintergrund

    Cambridge Analytica, Wirecard, Glencore, Bosch, Credit Suisse, Kolping, UBS, M.M. Warburg, Facebook, HSBC, Deutsche Bank - ohne Whistleblower wie Christopher Wylie oder Karsten vom Bruch wären die epochalen Skandale rund um diese Unternehmen nicht ans Tageslicht gekommen.

    Die eindrucksvolle Liste wäre beliebig erweiterbar, doch erweckt sie den Anschein, dass nur Firmen auf der Anklagebank sitzen. Dabei dürfte die Liste mit Trägern staatlicher Aufgaben ebenso lang ausfallen. Kraftfahrtbundesamt, US-Army, Südwestrundfunk (SWR), Kreisverwaltung Bad Segeberg, FBI, Andrej Babis, Behörden, Minister, Beamte aller Art sind kaum besser als die von ihnen verfolgten Unternehmen. Auch das zeigen regelmäßige Hinweise mutiger Whistleblower wie Daniel Hale, Ole Skambraks, John Kiriakou oder Margit Herbst.

    In der Reihe großer Skandale nimmt der Fall des Dax-Unternehmens Wirecard eine besondere Stellung ein. Kaum ein anderer deutscher Skandal hat je so viele Verfehlungen von staatlich Verpflichteten offengelegt.

    Wie schon der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zum NSA-Skandal muss der Untersuchungsausschuss zu Wirecard im Großen und Ganzen als gescheitert bezeichnet werden. Nicht zuletzt, weil Bundeskanzleramt, Geheimdienste und Ministerien Wissen und Beteiligung bis heute effektiv vertuschen.

    In moderater Manier attestiert die Financial Times dem designierten Bundeskanzler Olf Scholz, er habe „während des Wirecard-Skandals bei der Arbeit geschlafen“, an Scholz scheine „nichts Negatives hängen zu bleiben“.

    Ein paar hierarchische Ebenen unter dem Bundeskanzleramt scheinen auch diverse Staatsanwaltschaften auf der ganzen Linie zu versagen. Das Online-Magazin The Pioneer mutmaßt, die Staatsanwaltschaft München habe sich „in ihre Vision von der Wirklichkeit verrannt“.
    Hochproblematischer Schulterschluss

    Nun mag ja der Fisch immer vom Kopfe her stinken, im Falle Wirecards aber müffelt die halbe Republik. Am Drama rund um den Finanzkonzern Wirecard zeigt sich, welch unerträgliche Gesinnungsgemeinschaft deutsche Behörden zusammen mit Deutschlands Finanz- und Wirtschaftselite verfestigt haben.

    Der hochproblematische Schulterschluss ist ein demokratiegefährdender Cocktail mit bislang unbekannter Ausprägung von Demokratieverachtung. Auch ein Untersuchungsausschuss im Bundestag konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gebildeten Strukturen an mafiöse Spektren erinnern: Hochorganisiert und strukturell schädlich.

    Jährlich erwirtschaften Deutschlands Top-Konzerne Milliardenumsätze mit fragwürdigen Methoden. Steht das große Geld generell nicht selten im Verruf, kriminell zu sein, erwartet man zumindest von Politik und Staat Rechtschaffenheit. Die Wahrheit ist flächendeckend eine andere. Das Beispiel: Fast alle staatlichen Stellen, die mit der Kontrolle des Finanzgebarens von Wirecard beauftragt waren, sind auf miserable Art involviert.

    Bundesregierung, Bundesfinanzministerium (BMF), Bundesjustizministerium (BMJV), Geheimdienste, Bundeskriminalamt (BKA), oberste Bundesbehörden, Wirtschaftsprüfer, DAX-Konzerne, sie alle sitzen in einem Boot, in der Krähen den anderen zwar kein Auge aushacken, die kleinen von ihnen aber - so wie die DPR - gefressen werden.

    Der Bundestagsabgeordnete Hans Michelbach sagt: „Die Tatsache, dass sich ehemalige Minister, Staatssekretäre, ein ehemaliger Polizeichef und ein aktiver Berliner Politiker von Wirecard einspannen ließen, macht mich sprachlos.“ Der Herausgeber der Berliner Zeitung, Michael Maier, sagt im Kontext Wirecard, so etwas erwarte man vielleicht in Sizilien, aber nicht in Bayern. Mafiöses Gebaren?

    In geradezu konzertierter Aktion wird die Presse bekämpft, beschattet, denunziert, angeklagt, wenn sie über die Machenschaften berichtet.

    Nur dank der Robustheit einer ausländischen Medieninstitution, der britischen Financial Times (FT), wird Deutschland bewusst, wie korrupt ihre obersten Behördenvertreter sind. Die Zeitung hat wunderbar beschrieben, wie sich hierzulande die Politik- und Finanzelite entlarvt.

    Die Hartnäckigkeit ihres Investigativ-Reporters Dan McCrum spielte eine zentrale Rolle bei der Aufklärung. Er wurde deswegen in Deutschland massiv angegriffen. Das ist ein Lehrstück für sich.
    Die Hintergründe

    Beginnen wir im Bundestag. Es gab einen Untersuchungsausschuss, der am 22. Juni seinen Abschlussbericht an Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble übergab.

    Die Oppositionsparteien beantragten ihn, die Vertreter der Großen Koalition (KoGroKo) enthielten sich, wollten ihn tendenziell verhindern. Die FT zitiert das Ausschussmitglied Danyal Bayaz, den Moment festhaltend, als Deutschlands Behörden sich auf die Seite von Kriminellen stellten und gegen Journalisten und Marktteilnehmer ermittelten, die kritische Fragen stellten.
    Output deutscher Medien = Fehlanzeige

    Natürlich wäre es die Aufgabe deutscher Journalisten gewesen, allen voran der öffentlich-rechtlichen ARD und ZDF, über die Verfehlungen Wirecards und aller beteiligten Behörden zeitnah zu berichten. Dass sie jahrelang zu offensichtlichem Unrecht schwiegen, ist eine Kapitulation des deutschen Pressewesens.

    Dagegen erklärte der für Wirecard-Berichte federführende Journalist der FT seine journalistische Hartnäckigkeit im Mai damit, dass es „so himmelschreiend war, dass wir es mit einem kriminellen Unternehmen zu tun hatten“. Sechs Jahre lang hatte Dan McCrum mit seiner Zeitung investigativ recherchiert.

    Der organisierten Behörden- und Finanzlandschaft fiel nichts Besseres ein, als den Botschafter der Nachricht von der Justiz verfolgen zu lassen. McCrum berichtet, dass [Wirecard] die Klage persönlich an seine Privatadresse lieferte. Es war, als würden sie sagen: „Übrigens, wir wissen, wo Sie wohnen“, so McCrum.

    Bereits 2015 hatte er zusammen mit seinen Kollegen John Reed, Stefania Palma und dem heute noch aus Frankfurt berichtenden Olaf Storbeck über Unstimmigkeiten in der Wirecard-Bilanz hingewiesen.

    Deutschlands Politiker verfolgen die nationale und internationale Medienberichterstattung sehr genau. Selbst in Landtagen gibt es einen Dienst, der allen Mitarbeitern täglich eine Presseschau zusammenstellt.

    Deutschen Behörden scheint es egal zu sein, was ausländische Medien über ein deutsches Top-Unternehmen schreiben. Sie verlassen sich lieber auf deutsche Medien, in Momenten, wenn selbst Kai Diekmann, ehemaliger Chefredakteur der Bildzeitung, über eine Agentur für Wirecard tätig wird. Informationsinsel Deutschland.
    Input aus Großbritannien: Der Zatarra Report

    2016 fassen britische Shortseller in Sherlock Holmes Manier zusammen, was alles bei Wirecard faul ist. In ihrem 101 Seiten starken Zatarra Report (vgl dazu Bundesfinanzministerium 2020, PDF, S.4) steht zum Beispiel, dass der Geschäftsführer von Wirecard Technologies, M. B. zusammen mit J. P. S. zwei Schweizer Firmen inkorporierte. S., der im Mittelpunkt einer laufenden Untersuchung stehe, die Beihilfe und Anstiftung in mehreren Fällen von Geldwäsche, illegalen grenzüberschreitenden Transaktionen, Veruntreuung und gewerbsmäßigem Betrug beinhalte.

    Obwohl die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) den Report liest, lässt sie die Kritik an Wirecard im Sande verlaufen. Einer der Shortseller, Fraser Perring, wird selber angeklagt, und erst vier Jahre später wird die Anklage fallen gelassen. Zu oft werden in Deutschland die Botschafter geköpft, und die Feldherren geschont.

    Seit 2003 machte Wirecard Geld mit E-Payment-Funktionen für internetbasierte Glückspiel- und Pornoseiten. Kaum verwunderlich im Puffland Deutschland, in dem Massenpuffs wie das Pascha in Köln durch wohlwollende Gesetzgebung florieren und gedeihen, ermöglicht durch die „christlichen“ Parteien CDU und CSU und ihren willfährigen Partner SPD.

    Der Sachverständige Kilian Kleinschmidt nannte Wirecard ein Finanzierungsdarknet für (Einf. d. A. libysche) Milizen und Dienste. Solche Unternehmen befinden sich in Deutschlands Top 30 Aktienunternehmen, mit solchen Unternehmen arbeitet das BKA zusammen, mit solchen Unternehmen machen Banken wie die Commerzbank oder die Deutsche Bank Geschäfte?
    Input von Deutschlands kriminellen Banken Commerzbank und Deutsche Bank

    Nachdem Medien 2019 von ihren Recherchen berichten, schreibt eine Aktienanalystin der Commerzbank an ihre Kunden: „Gestern hat der Serientäter Dan McCrum, Journalist bei der ansonsten renommierten FT, einen weiteren negativen Artikel über Wirecard veröffentlicht.“ Und weiter: „Wir sind eigentlich mehr besorgt über [die] offensichtliche aktive Beteiligung der FT an der Marktmanipulation als über die Vorwürfe an das Unternehmen. Wir glauben, dass die Aufsichtsbehörden dies ernsthaft untersuchen müssen.“

    So macht die Commerzbank Geld? Journalisten werden als Serientäter dargestellt. Wie die Großfinanz wünscht, so springt das Hündchen Staatsanwaltschaft auf den Zug und ermittelt gegen die Medien, nein, einen Journalisten.

    Und so weiter und so fort. Ein damaliges Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Bank schreibt an den inzwischen inhaftierten Wirecard-Chef Markus Braun: „habe übrigens 3x wirecard aktien gekauft letzte woche, macht diese zeitung fertig!!“, gefolgt von einem Smiley.

    Das Handelsblatt zitiert das entlarvende Sprachbild, auch andere Zeitungen berichten, was der frühere Deutsche-Bank-Aufsichtsrat Braun als Maßnahme gegen die Financial Times vorschlägt.

    Als großer Aktionär der Deutschen Bank sieht die Fondsgesellschaft Deka in dem Aufsichtsratsmitglied ein „Reputationsrisiko“. Der Mann verlässt die Bank und seitdem müssen sich Journalisten fürchten.

    Ganz als ob kein öffentliches Interesse an dem Berichteten besteht, geht ein Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Bank gegen veröffentlichende Medien vor, so gegen das Handelsblatt, die Financial Times oder das Internetportal Zackzack. Kolumbianische Zustände, in denen Journalisten nicht auf Demonstrationen angegriffen werden, sondern dezent und kostenintensiv von Vertretern der White Collar-Branche. So kann man Medien zum Schweigen bringen, und dazu, dass sie erst gar nicht mehr berichten.

    Commerzbank, Staatsanwaltschaft, systemimmanenter Terror Deutschlands. McCrum ist fassungslos. Das Fraud Magazin berichtet über seine Angst, die der deutsche Staat im Zusammenspiel mit Deutschlands Finanzelite bei ihm auslösen:

    Ich dachte nicht, dass ich jemals nach Deutschland reisen könnte, sonst würde ich verhaftet werden.
    McCrum

    Das Magazin schreibt weiter: Twitter-Spam-Accounts behaupteten, er habe die Artikel geschrieben, die Wirecard belasten, weil seine Frau für einen Konkurrenten arbeite. Wirecard schien entschlossen zu sein, seinen und den Ruf seiner Frau zu zerstören.
    Vom britischen Input bis zum Bonner Bafin-Knall

    Dass der Ruf der deutschen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) kaputt ist, ist nur eine der Lehren des Wirecard-Dramas. Als der Nachfolger für Bafin-Boss Felix Hufeld feststeht, lästert die FT, Deutschlands Finanzaufsichtsbehörde wirke eher wie ein gealterter Zwergspitz (sic Pomeranian) als ein dynamischer Rottweiler. Eine Anspielung auf den Zweck eines Zwergspitzhundes, der in England als Spielzeughund gilt, aus Pommern bzw. Deutschland kommt und zudem das Lieblingstier der deutsch-englischen Königin Victoria war. Victoria war zu 50 Prozent deutsch.

    Felix Hufeld muss die Bafin verlassen, als die Nachrichten in der Welt sind, dass sich eine nicht geringe Anzahl Mitarbeiter an Wirecard-Aktien bereicherte, dass mindestens ein Mitarbeiter sein Insiderwissen versilberte, während die Behörde ihre Aufsichtsfunktion gegen Wirecard gen Null runterfuhr. Dass die Bafin Fraser Perring anklagen und verfolgen ließ, obwohl seine Hinweise von Nutzen waren.

    Und vor allem dass der Vorwurf des Bilanzbetrugs bekannt war, man aber nur ein Leerverkaufsverbot verhängte. Das Magazin Finance schreibt, Berliner Rechtsanwälte würden im Auftrag von Wirecard-Investoren eine Sammelklage gegen die Bafin und die DPR wegen Staatshaftung vorbereiten.

    In einem Moment, wo sich die Verantwortlichen in Deutschlands Finanzaufsicht mit Vorwürfen von Strafvereitelung (§ 258 StGB) und anderen Amtsdelikten konfrontiert sehen, wo die EU-Kommission die Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA beauftragt, die Rolle der deutschen Finanzaufsicht zu überprüfen, wo die FT den Spielzeugcharakter deutscher Behörden herausstellt, propagandiert Hufeld, seine frühere Behörde gehöre zu den besten Aufsichtsbehörden der Welt. Globales Gelächter und ein Knall.

    Der Abgang Hufelds wird als Bonner Knall in Erinnerung bleiben, als sich in den Hallen der Bafin die geballte Blockadeenergie entlud, die sich unter Hufeld angestaut hatte.
    Bundeskriminalamt schleust Wirecard ein

    Von Bonn nach Wiesbaden sind es knappe 90 Minuten. Hier sitzt die nächste Behörde, die keine gute Figur macht. Die Beschreibung dieser Behörde gelingt einfach, denn sie trägt den Namen Kriminalamt als Amtsbezeichnung. Das Bundeskriminalamt (BKA) arbeitet mit der Bafin zusammen, vor allem wenn es um die Zuständigkeiten des BKA wie bei Geldwäsche geht.

    Man sollte erwarten, dass das BKA vor drei Jahren von der Bafin informiert worden war, nachdem die Bonner von der Finanzakteurin Fahmi Quadir informiert wurden, dass Wirecard eine gigantische Geldwaschmaschine ist. Angeblich verfolgte die Bafin den Hinweis nicht weiter. Da Hufelds Paradebehörde aber detaillierte Informationen zur Verfügung standen, dürften ihre Mitarbeiter mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit auch das BKA informiert haben.

    Sofern das BKA die Informationen vorliegen hatte, stellt sich die Frage, warum auch diese Behörde nicht reagierte. Eine mögliche Antwort findet sich bei den von Wirecard ausgegebenen Kreditkarten. Das BKA ließ sich von Wirecard bestechen? Verdeckte Ermittler des BKA wurden mit kostenlosen Wirecard-Kreditkarten versorgt.

    Kaum vorzustellen, dass BKA-Mitarbeiter dieses anvertraute Dax-Unternehmen auf Geldwäsche hin überprüfen. Anstatt dem Verdacht auf Geldwäsche nachzugehen, vertraute die Machtelite lieber dem neuen Aushängeschild Deutschlands, und klagte stattdessen Journalisten und den Überbringer der schlechten Nachricht an.

    Der Sonderermittler des Bundestagsuntersuchungsausschusses, Wolfgang Wieland, beziffert die Quote aller für Strafrechtssachen eingesetzten Kreditkarten auf ein Drittel. Wirecard konnte so die Umsätze der verdeckten Ermittler einsehen. Die Tagesschau berichtet über einen erfreuten Wirecard-Vorstand: „dann sehe ich wenigstens, was über das Konto läuft“.

    Laut Medienberichten wählte das BKA die Wirecard-Bank aus, um mit Hilfe von Kreditkarten Verdächtige zu überwachen. 2014 habe sich ein BKA-Beamter mit folgendem Anliegen an Wirecard gewandt: "Wir würden einer Zielperson gerne eine originalverschweißte mywirecard-VISA als „Geschenk“ geben, damit diese die Karte fleißig nutzt. […]"

    Sobald die auf Überwachung gesetzte Karte eingesetzt werde, werde ein entsprechender Datensatz mit den Informationen unmittelbar an die Strafverfolgungsbehörde gesandt. Da die Zielperson sehr misstrauisch sei, müsse ihr diese Karte originalverpackt übergeben werden.

    Das BKA kooperierte seit 2013 mit derjenigen Firma, die sie überwachen sollte. Dass das BKA auf FT-Anfrage keine Stellung nahm, obwohl es dazu gemäß Pressegesetz verpflichtet ist, spricht Bände. Auch dieses Amt ist nicht sauber.
    Kaum richtig drin, schon draußen - die DPR

    Nicht sauber zu sein, dagegen wehrt sich unterdessen die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR). Im englischen Sprachraum heißt die DPR auch FREP. Ihr Chef Edgar Ernst schimpft über die Politik. Die Bafin habe die Bilanzbetrugsvorwürfe „niedrig gehängt“, und dann seiner Stelle mit gerade mal 15 Mitarbeitern die große Aufgabe übertragen, komplexe forensische Prüfungen durchzuführen.

    Diese Beauftragung erfolgte erst 2019, obwohl da längst zahlreiche Hinweise vorgelegen hatten. Eine Rekapitulation. 1999 wird Wirecard gegründet, 2003 verdient die Firma Geld an Glücksspiel und Pornos. 2008 gibt es Hinweise auf Unregelmäßigkeiten. 2016 zirkuliert der Zatarra-Report. 2017 berichtet das Manager-Magazin über intransparente Bilanzierungen. 2019 legt die FT nach.

    BMF, Bafin und BMJV wissen sehr wohl von Wirecard und deren vermuteten Bilanzfälschungen, beide kennen die „Personalstärke“ der DPR. Laut Bericht der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) konnte die DPR einen von 15 Mitarbeitern für die Prüfung abstellen. Eine Prüfung, die 16 Monate dauern sollte.

    Ernst sagt der FAZ, mit der DPR habe niemand gesprochen. Es scheint, BMF und BMJV nehmen die DPR als Trumpfkarte, um Medien und Öffentlichkeit einen Happen hinzuschmeißen, damit sie Ruhe geben. Als das BMJV der DPR den Vertrag kündig, sieht sich Ernst als „Bauernopfer“.

    Die FT berichtet, Ernst habe gesagt, das Budget der DPR sei bewusst klein gehalten worden, um die finanzielle Belastung der deutschen Unternehmen, die die Stelle finanzieren, zu begrenzen.
    Wieviel Input in Bundesministerien?

    Überhaupt BMJV - und BMF . Die beiden Bundesministerien werden von Ministern der SPD geleitet. Nun sagt der Bundesrechnungshof, beide hätten das Verfahren der Bilanzkontrolle „zu keiner Zeit“ kritisch überprüft, obwohl „Zuständigkeitsprobleme“ bekannt gewesen seien.

    Das Ministerium von Bundesfinanzminister und Kanzlerkandidat Olaf Scholz habe außerdem nicht nachgehalten, ob die Bafin ihre Instrumente ausschöpfe. Die Bafin sei dem Anspruch des Gesetzgebers nicht gerecht geworden, als integrierte Allianzaufsicht zu wirken. Eine fast zurückhaltend diplomatische Insinuierung.

    Bundestagsmitglied Jens Zimmermann beklagt die geringe Kooperationsbereitschaft der Regierung. Jetzt gehts um die Geheimdienste. Der Bundesnachrichtendienst sitzt in Berlin, untersteht direkt Kanzlerin Merkel. Sonderermittler Wieland stellt fest, dass auch der BND Kreditkarten von Wirecard nutzte. Und noch mehr.

    Der ehemalige Staatssekretär im Bundeskanzleramt für Geheimdienste, Klaus-Dieter Fritsche, CSU, ist Sicherheitsberater von Wirecard. Im Untersuchungsaussschuss bestätigt er, seine guten Kontakte in Regierungs- und Geheimdienstkreise seien doch nützlich gewesen. Er habe gemeinsam mit Mitgliedern des Wirecard-Vorstands Termine im Kanzleramt wahrnehmen können, worauf sich Kanzlerin Merkel „höchstpersönlich“ bei einer China-Reise für den Konzern einsetzte. Ja mei.

    Welche Mitglieder der Bundesregierung zu welchem Zeitpunkt involviert waren, wird noch vor der kommenden Bundestagswahl thematisiert, so lautete die Hoffnung…
    Viel Input durch Bundesnachrichtendienst

    Die Zeitung Junge Welt berichtete, Fritsche habe zu Protokoll gegeben, er selbst habe auf die Arbeit der Finanzaufsicht Bafin vertraut und keinen Grund gesehen, sich nicht für Wirecard zu engagieren. Oben verlässt sich auf unten, unten auf oben, und keiner schaut ins Eingemachte - außer vielleicht Whistleblower, aber die werden kaltgestellt.

    Der Vertraute von Korruptions-Kanzler Helmut Kohl (CDU), Geheimdienstkoordinator Bernd Schmidbauer, sagt im Ausschuss, im Zusammenhang von Wirecard verschweige er lieber Informationen, die die nationalen Sicherheitsinteressen Deutschlands gefährden können. Er sei als Teil eines Rings von Senior-Experten aus der Geheimdienstwelt gegenüber Wirecard Chef Jan Marsalek aktiv geworden.

    Schmidbauer berichtet, Wirecard habe ein besonderes Interesse am Bundestagsmitglied Fabio De Masi gehabt. In Finanzkreisen gilt de Masi als kritisch. Anlässlich der Luxemburg Leaks bezeichnete er die Verbindung von Regierungen der Europäischen Union (EU) und internationalen Konzernen wie Apple und Google als Komplizenschaft. Die Bundesländer würden versuchen, Unternehmen und Vermögende mit schlechter Personalausstattung bei Betriebsprüfungen anzulocken.

    Schmidbauer sagte der Zeitung Die Welt, er habe De Masi „nicht ausspioniert“. Schmidbauer gibt zum Besten, es gäbe noch weit mehr Zeugen als ihn, „dann müssten ganze Armeen mit ihren Generälen in Berlin vor dem Ausschuss erscheinen.“ Die Bundesregierung legt Unterlagen vor, schwärzt aber wesentliche Passagen.

    Laut Medienberichten sagt ein ex-Vorstandsmitglied von Wirecard aus, Wirecard-Chef Marsalek habe von ihr „einen kompletten Jahresdatensatz der Wirecard-Geschäftspartner zur Weiterleitung an den BND angefordert und erhalten“. Wirecard, BND, Kanzlerin Merkel, eine Wirecard-Connection.
    Nebulöses Interesse des österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT)

    Etwas unklarer dagegen das Interesse des österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT). Warum hat der BVT im Zusammenhang mit Wirecard ein Interesse an De Masi? Laut Bericht der Berliner Zeitung legen vorliegende Akten nahe, dass das BVT hinter De Masi her war.

    Die Zeitung schreibt: „Im Original-Chat der Ex-BVT Agenten Martin W. und Egisto O. hatte W. von O. gefordert, den Lebenslauf De Masis an Schmidbauer zu schicken, worauf dieser entgegnet haben soll: ’Ist schon passiert.’ De Masi sagte dieser Zeitung: ’Ich habe bis heute keine Antwort auf meine Aufforderung an den österreichischen Innenminister bekommen, die Vorgänge umfassend aufzuklären.’ Die Bundesregierung behauptet, über keine Erkenntnisse zu den Vorgängen um Martin W. und Egisto O. zu verfügen und sich auch nicht um solche Erkenntnisse zu bemühen! Das ist an sich schon ein Skandal!“

    Die Rolle Österreichs ist ein eigenes Kapitel, die den Umfang dieses Artikels übersteigt. Geheimdienste unterstützen die Spiele der Machteliten und sie erschweren jegliche Aufklärungsversuche enorm. Die Korruptionsjägerin Eva Joly schreibt in ihrem Buch „Im Auge des Zyklons“, ihre Ermittlungen als zuständige Untersuchungsrichterin im Fall Elf-Aquitaine-Leuna hätten ergeben, dass Elf mehr als 50 Millionen Deutsche Mark an einen Mittelsmann zahlte, der Kontakte zum BND pflegte.

    Doch obwohl die deutsche Justiz alle Trümpfe in der Hand hatte, sei nichts geschehen. Bis heute nicht. In der laut Guardian größten Betrugsuntersuchung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ging es um 200 Millionen Britische Pfund für politische Gefälligkeiten, Mätressen, Schmuck, Kunstwerke, Villen und Wohnungen. Auch die deutsche Justiz hat ihren Anteil an der staatsversagenden Wirecard-Connection.
    Nachrichtendienstliche Außenstelle Wirecard?

    Die Verstrickungen von Wirecard, den Geheimdiensten und explizit dem Bundeskanzleramt lässt die Hypothese zu, dass Wirecard zu einer Art nachrichtendienstlicher Außenstelle aufgebaut werden sollte. Parallel wird man von Seattle bis Berlin nicht müde, den chinesischen Tech-Konzern Huawei zu verteufeln, weil dieser in der chinesischen nachrichtendienstlichen Infrastruktur eine wesentliche Rolle spielt.

    Dass umgekehrt Wirecard möglicherweise ein Baustein in der nachrichtendienstlichen Infrastruktur Deutschlands war, hängt man natürlich tief. Erst als zu viele Skandale ans Licht kamen, wurde dieser Teil der Infrastruktur wieder fallen gelassen.
    Die Rolle der Ermittler 1: Die Staatsanwaltschaften

    Bis die für Wirecard zuständige Staatsanwaltschaft München ihre diversen Anklagen fallen ließ, dauerte es mitunter vier Jahre. 18 Monate lang verfolgte der Staat Deutschland den britischen Shortseller Fraser Perring. Erst Mitte 2020 wurde die Anklage fallen gelassen.

    Der Kollege von Perring, der Shortseller Matthew Earl, präsentierte der Staatsanwaltschaft München 2019 konkrete Hinweise auf Geldwäschegeschäfte. Im Untersuchungsausschuss sagt Earl: „Es war ein seltsames Treffen, die Atmosphäre frostig“. Das Manager-Magazin berichtet, man habe ihn behandelt „wie den Staatsfeind Nummer eins“.

    Irgendwann sei der Staatsanwältin ein Licht aufgegangen. Sie habe gesagt: „Du lieber Himmel, das ist ein Dax-30-Unternehmen“. Und Earl: „Ganz genau, und das ist Ihr Problem“, so die Zeitung. Natürlich hätte dieselbe Staatsanwaltschaft längst gegen Wirecard, gegen die Bafin oder das BKA ermitteln können. Aber nein, man kennt sich, man schätzt sich, man hackt sich gegenseitig kein Auge aus? Es könnte den eigenen Job kosten, zumal die Staatsanwaltschaften dem Justizministerium unterstehen.

    Stattdessen erwirkt die Behörde lieber einen Strafantrag wegen Marktmanipulation gegen Hinweisgeber. Die FT schildert, wie nach der Veröffentlichung des Zatarra-Reports auch ihr Reporter Dan McCrum überwacht wurde, eben weil er über den Report berichtete.

    Die Süddeutsche Zeitung berichtet über die Aussage einer Wirecard-Sprecherin, der Konzern habe „niemals die Überwachung einzelner Personen durch Detektive beauftragt - auch nicht von Herrn McCrum noch anderer Journalisten“. In Konzernkreisen hieß es, eine von Wirecard beauftragte Forensik-Beratung hätte damals einmalig von sich aus und ohne Absprache Personen beschattet, so die Zeitung.

    Wer es am Ende war, ist ja egal. Festzuhalten gilt, wie die Behörden (hier im Zusammenspiel mit Wirecard) die Presse einschüchtern. Zwar ließ die Staatsanwaltschaft auch die Geschäftsräume von Wirecard durchsuchen, aber erst im Juni 2020, als schon 12 Jahre lang Nachrichten über Fehlverhalten im Umlauf waren.

    Ob nun, da die Würfel gefallen sind, die Staatsanwaltschaften anfangen, ihre Arbeit zu machen, darf bezweifelt werden. Den Beteiligten bei der Staatsanwaltschaft droht selber eine Anklage wegen Strafvereitelung im Amt. Selbiges gilt womöglich für die Staatsanwaltschaft Frankfurt, die erst jetzt, im Jahre 2021, ein Ermittlungsverfahren gegen die Bafin eröffnete. Jeder ermittelt gegen jeden, Deutschland kaputt.
    Die Rolle der Ermittler 2: Wirtschaftsabschlussprüferaufsichtsstelle APAS

    Die Aufgabe von Staatsanwaltschaften ist die Prüfung für den Staat, ob der Staat wegen Rechtsbruch Anklage erheben will. Eine andere Bundesbehörde prüft, ob Wirtschaftsprüfer wie die der TOP 4 aus EY, PricewaterhouseCoopers (PwC), Deloitte oder KPMG ihre Aufgaben rechtskonform ausführen. Die Abschlussprüferaufsichtsstelle APAS ist die Wirtschaftsprüferaufsicht in Deutschland, und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier untergeordnet. Laut dpa wurde APAS-Chef Ralf Bose fristlos gekündigt.

    Denn Bose wird vorgeworfen, dass er illegal mit Wirecard-Aktien just in dem Moment handelte, als seine Behörde die Wirtschaftsprüfergesellschaft EY in Hinblick auf Wirecard überprüften. Da EY vorgeworfen wird, ebenfalls nicht rechtskonform gearbeitet zu haben, ermittelt die APAS gegen EY. Staatsanwaltschaften ermittelten gegen die Bafin, APAS gegen EY, der Untersuchungsausschuss gegen Geheimdienste und das Bundeskanzleramt: Das Wirecard-Drama legt in der Tat systemisch-staatliche Strukturen offen, in dem der Staat selber zum Angeklagten wird.

    Auch die Weigerung der APAS, dem Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé die benötigten Dokumente zur Verfügung zu stellen, gehört da hinein. APAS und Bundeswirtschaftsminister Altmeier verweigern die Herausgabe mit der Begründung, die Öffentlichkeit würde sonst erfahren, wie die APAS arbeitet. Mafia-Prinzipien?

    In diesem Zusammenhang muss auch die Frage gestellt werden, warum die Staatsanwaltschaften nicht bereits 2008 oder 2016 gegen Wirecard ermittelten? Oder warum sie nicht gegen den neuen APAS-Chef und Bundeswirtschaftsminister Altmeier ermitteln. Streng genommen müsste auch gegen die Staatsanwaltschaft München wegen Verdacht auf Amtsvereitelung ermittelt werden.
    Die Rolle der Ermittler 3: Financial Intelligence Unit (FIU)

    Der nächste Kandidat ist die Financial Intelligence Unit (FIU) in Köln. Ermittelt das BKA noch bis 2017 in Sachen Geldwäsche, fällt diese Aufgabe nun der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen oder auch Financial Intelligence Unit (FIU) zu. Das Bundesinnenministerium unter Karl Ernst Thomas de Maizière (CDU) gibt die Aufgabe an Wolfgang Schäubles (CDU) Bundesfinanzministerium. ZDF zoom berichtet, dass es hier keine kriminelle Expertise gibt.

    Ein Hauptgrund, warum Deutschland selbst für Italiens Mafia zum Geldwäscheparadies geworden ist. Geschätzt werden in Deutschland jährlich 100 Milliarden Euro dreckiges Geld gewaschen.

    Markus Herbrand von der FDP-Bundestagsfraktion und Mitglied im Bundestagsfinanzausschuss stellt mit seiner Fraktion diverse Anfragen zur Arbeit der FIU, und merkt: „Da stimmt etwas nicht.“ Merkels Bundesregierung blockierte - mal wieder. Mit Täuschungen schafft man 16 Jahre Bundeskanzlerschaft am Stück.

    Die Kanzlerin steht nicht nur für die Förderung von Prostitution auf deutschem Boden, sondern insbesondere auch für weltweit geschätzte Geldwäsche. So wendet sich die FDP an die Strafverfolgungsbehörden der Länder, weil die Bundesregierung blockiert. Die Strafverfolgungsbehörden geben zur Antwort, dass sie von der FIU zu spät und zu schlecht informiert werden, um die Geldwäsche zu unterbinden.

    Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hat es so arrangiert, dass die Mitarbeiter der FIU nicht den erforderlichen Zugriff auf Daten erhalten, um Geldwäsche überhaupt nachgehen zu können. Der ZDF-zoom-Report erzeugt den Eindruck, dass die FIU eine Schattenbehörde ist. Im Juli 2020 durchsucht die Staatsanwaltschaft Osnabrück die FIU. Der Vorwurf auch hier: Strafvereitelung im Amt.

    Staatsanwaltschaften ermitteln gegen die Bafin, APAS gegen EY, der Untersuchungsausschuss gegen Geheimdienste, Bundesminister und Bundeskanzlerin und dann die Staatsanwaltschaft gegen die FIU. Und Staatsanwaltschaften ermitteln gegen Journalisten, die den Fall erst ins Rollen bringen.
    Die Rolle der Wirtschaftsprüfergesellschaften EY und KPMG

    Bei so viel Sand im Getriebe lastet die größte Kritik, neben Wirecard natürlich, an der Bundesregierung. Diese gab sich unberührbar und kündigte an, die Regeln für Wirtschaftsprüfer zu verschärfen. Unter den TOP 4 hatte vor allem EY schlecht ausgesehen.

    Die APAS leitet 2019 ein Vorermittlungsverfahren gegen EY ein, welches 2020 in ein förmliches Berufsaufsichtsverfahren überführt wird, nachdem ein anderer TOP 4 Wirtschaftsprüfer, KPMG seinen Prüfbericht vorlegt. KPMG bestätigt, dass ein EY Mitarbeiter bereits 2016 innerbetrieblich vor einem Betrug warnte. Finance berichtet, der Hinweis sei versandet.

    Zehn Jahre bestätigt EY mehr oder weniger die Bilanzen von Wirecard. 2007 fertigte (bitte das e streichen) EY ein Sondergutachten an, und selbst 2017, also nach dem Zatarra-Report attestiert EY Wirecard ein „clean audit“. Erst 2020, als Staatsanwaltschaften längst ermittelten, verweigert EY das Testat für die Bilanz des Vorjahres. Im Februar 2021 wird EY-Chef Hubert Barth ausgetauscht.

    Der Whistleblower, der sich an die Financial Times wandte, um das Betrugssystem Wirecard offenzulegen, Pav Gill aus Singapur, sagt der FT, dass EY der externe Ermöglicher für Wirecard war, zusammen mit den fuchtelnden Behörden in Deutschland ("flailing regulatory agencies"). In Deutschland zumindest ist der Ruf von EY stark beschädigt.
    Ein Hoch auf Dan McCrum und Pav Gill

    Pav Gill hatte anfangs nicht gedacht, dass der gesamte Wirecard-Konzern „verseucht“ ist ("deseased"), sondern nur der asiatische Firmenteil, für den er als Anwalt eingestellt wurde.

    Ebenso verhält es sich mit dem Staat Deutschland? Hier geht es nicht um Einzelfälle, einzelne Ämter oder gar Mitarbeiter. Der Staat zeigt sich bis in höchste Ämter korrupt, vertuschend, ein wahrhafter failed state - mit weißem Kragen und Jackett. Am Ende ist es fast egal, ob innerhalb der Finanzsäule APAS, Bafin oder BMF die Hauptschuld tragen. Zu viele Beteiligte spielen regelmäßig schmutzige Spiele. Ebenso innerhalb der Innenpolitiksäule mit BMI, BKA oder auf Länderebene. Selbst die Justizvorinstanzen „Staatsanwaltschaften“ müssen sich viel Kritik gefallen lassen.

    Fassungslos über die Reaktionen der deutschen Behörden, war für den erfahrenen Journalisten McCrum das Überraschendste, „wie gewillt Leute in Deutschland waren, die Fragen zu ignorieren, obwohl sie mit Beweisen konfrontiert wurden“ ("how willing people were to ignore these questions").

    Die Behörden hatten eindeutige Fingerabdrücke vorliegen, und sie behandelten sie mit Misstrauen. In der Beschwerde gegen mich sagten sie, dass es so aussah, als ob das Teil der Verschwörung zur Manipulation des Aktienkurses war. Kein guter Versuch, die Aufsichtsbehörden darauf aufmerksam zu machen, was vor sich ging.
    Dan McCrum

    Das Fraud Magazin zitiert McCrum, er sei erleichtert, dass die Wirecard-Geschichte ihr offensichtliches Ende gefunden habe, aber er sei immer noch frustriert, dass es sechs Jahre investigativer Berichterstattung brauchte, um an diesen Punkt zu gelangen.

    Bei jeder Geschichte dachten wir [bei der Financial Times], das ist es. Diese Geschichte wird die Leute endlich zur Einsicht bringen. Aber das tat sie nicht, weil die deutschen Behörden uns effektiv dämonisiert hatten.
    Dan McCrum

    Für die Financial Times mag die Geschichte zu Ende sein, für Deutschland ist sie noch immer ein Prüfstein für eine resiliente Demokratie. Ein Hoch auf Dan McCrum und Pav Gill, denn sie haben viel für Deutschland getan.

    #Allemagne #capitalisme #criminalité #banques #politique #Wirecard

  • EU möchte totale Chat-Kontrolle | Telepolis
    https://www.heise.de/tp/features/EU-moechte-totale-Chat-Kontrolle-6259649.html

    Dans un proche avenir les fournisseurs de stockage seront censés informer automatiquement la police lorsqu’un certain nombre de fichiers contenant de la pédopornographie sera atteint parmi les ficiers d’un utilisateur. Apple a retiré ces plans pour l’instant après les critiques. Or, la Commission européenne envisage de créer une base juridique qui non seulement autorisera les opérateurs de services de messagerie à fouiller dans la correspondance privée de leurs utilisateurs, mais les obligera même à le faire.

    08.11.2021 von Gerd Roettig - Nächsten Schritt in Überwachungsstaat? Die EU-Kommission will Privatkonzerne in Strafverfolgung im Netz einbinden

    Bereits im Sommer hatte die EU-Kommission – mit folgender Zustimmung des Parlaments – privaten Betreibern das automatisierte Durchsuchen der Nachrichten privater Messengerdienste gesetzlich erlaubt. Die Architekten des Präventionsstaates geben vor, Kindesmissbrauch verhindern zu wollen.

    Die Konzerne preschten von sich aus schon vor: Die Firma Apple beispielsweise hatte angekündigt, die Erkennung von „Child Sexual Abuse Material“ (CSAM) auf seinen Geräten durchführen zu wollen. Diese ausdrücklich für verschlüsselte Kommunikation und Cloud-Daten entwickelte Methode wird als „Client-Side Scanning“ (CSS) bezeichnet.

    Ab einer vorgegebenen Anzahl an gefundenen Dateien wird dann automatisch die Polizei informiert. Apple zog nach Kritik das Vorhaben vorerst zurück, nun plant die EU-Kommission jedoch eine Gesetzesgrundlage zu schaffen, welche die Betreiber von Messengerdiensten nicht nur dazu ermächtigt, in der Privatkorrespondenz ihrer Nutzer zu wühlen, sondern sie sogar dazu verpflichten soll.

    Das wäre ohne Frage ein Eingriff, der noch weit über die Vorratsdatenspeicherung hinausginge, eine Verpflichtung zur Inhaltskontrolle käme potenziell der Abschaffung der grundrechtlich und menschenrechtlich konstituierten Vertraulichkeit der Kommunikation und der Garantie der Privatsphäre gleich.

    Bei den Plänen handelt es sich um eine Massenüberwachung, die wie die Vorratsdatenspeicherung alle Menschen unter Generalverdacht stellen würde. Ferner aber würde die Überprüfung womöglich strafwürdiger Inhalte auch noch an private Konzerne ausgelagert werden, die dann quasi-judikative wie -exekutive Aufgaben ausführen würden.

    Das wie üblich vorgeschobene Argument, Kindesmissbrauch und Kinderpornografie einen Riegel vorschieben zu wollen, dürfte erneut der Türöffner für weitere Maßnahmen sein. Bereits im Sommer hieß es aus der Kommission, dass die totale Chat-Kontrolle auch der „öffentlichen Sicherheit“ und der Bekämpfung des „Terrorismus“ dienen solle.
    EU-Treffen in Slowenien: Ergebnis steht schon fest

    In einigen Tagen nun treffen sich die EU-Innenminister unter slowenischer Ratspräsidentschaft zu der „Konferenz über die Prävention und Untersuchung von sexuellem Kindesmissbrauch“. Eingeladen sind auch die assoziierten Schengen-Staaten, die westlichen Balkanstaaten sowie USA.

    Das Ergebnis steht allerdings wenig überraschend schon fest, beschlossen werden soll „die notwendigen Instrumente, Mechanismen und gesetzlichen Instrumente zur Verfolgung von Straftaten des sexuellen Kindesmissbrauchs zu entwickeln und auf nationaler Ebene umzusetzen“.

    Der Schritt der Kommission war voraussehbar. Menschenrechtsanwälte, NGOs und Internetaktivisten hatten schon seit Anfang 2021 davor gewarnt, dass dem „freiwilligen“ der gesetzlich verordnete Generalangriff auf die Privatsphäre drohen würde.

    Überraschender ist eher, auf wie wenig demokratischen Widerstand das Schleifen noch verbürgter Grundrechte mittlerweile stößt. Dass vieles nun Gesetz wird, was in der Praxis ohnehin schon längst angewendet wird, dürfte einen Teil der Resignation erklären.

    Spätestens der umfassende staatliche Durchgriff auf das gesellschaftliche wie private Leben der Menschen — inklusive der „freiwilligen“ Verwendung von Tracking-Software bis zur Erhebung privater Daten als Voraussetzung für die Ausübung von Grundrechten — im Rahmen der offenbar fast alle Mittel heiligenden Pandemiebekämpfung droht akut die letzten politischen Dämme brechen lassen. (Gerd Roettig)

    #Union_Européenne #surveillance #flicage

  • Linke Kritik(un)fähigkeit und patriarchaler Rollback
    https://www.heise.de/tp/features/Linke-Kritik-un-faehigkeit-und-patriarchaler-Rollback-6225642.html?seite=all

    22.10.2021 von Elisabeth Voß - Über die Parole „Wir impfen euch alle!“ und andere Ausdrücke des politischen Versagens

    Ausgerechnet in der Corona-Krise, in der autoritäre Herrschaft und Profitwirtschaft deutlich sichtbar werden, scheint die gesellschaftliche Linke nichts Besseres zu tun zu haben, als sich in Grabenkämpfen genüsslich selbst zu zerlegen und die Kritik an Staat und Kapital der gesellschaftlichen Rechten zu überlassen. Die Parole „Wir impfen euch alle!“, voller Hass gegen demonstrierende Corona-Maßnahmekritiker:innen gebrüllt, ist für mich zum Symbol dieses Versagens geworden.

    Im Folgenden versuche ich, zu verstehen und aus feministischer Perspektive einzuordnen, was in dieser Corona-Krise passiert ist und immer noch passiert. Nicht als umfassende Analyse, sondern mit einem subjektiven Blick, vor allem auf Aspekte der Kommunikation. Dabei spreche ich nur für mich und beanspruche keine allgemeingültige Definitionsmacht.

    Wenn ich Begriffe wie „patriarchal“ oder „feministisch“ verwende, dann beziehe ich mich damit auf das Patriarchat als hierarchische Form sozialer Organisation. Es ist älter als der Kapitalismus, aber die Strukturen der historischen Männerherrschaft bestehen bis heute.

    Sie sind nicht unbedingt vom biologischen Geschlecht abhängig, Frauenbewegungen haben viele Rechte erkämpft, aber auch heute bekleiden überdurchschnittlich oft Männer machtvolle Positionen, und es sind meist Männer, die Gewalt- und Gräueltaten begehen, unter denen Frauen und Transpersonen leiden und gleichzeitig die Verantwortung aufgeladen bekommen, die Folgen auszuputzen.

    Eine Kanzlerin Merkel macht noch keinen Feminismus, relevanter finde ich den Ansatz der Stadtregierung in Barcelona, wo die Basisbewegung „Barcelona en Comú“ mit der Bürgermeisterin Ada Colau für eine Feminisierung von Politik angetreten ist.
    Gewalt ist patriarchal

    Die Gesellschaft ist nicht freundlicher geworden in diesen pandemischen Zeiten. Eine Mischung aus Angst und Empörung ist das Grundgefühl, Härte und Rücksichtslosigkeit lassen sich von allen Seiten beobachten. Zu Recht fragten im Oktober 2020 Vertreterinnen des Kollektivs „Feministischer Lookdown“ im Züricher Radio LoRa1:

    Warum waren wir - Frauen aus der feministischen Bewegung und andere Menschen, die sich links oder kritisch oder feministisch verstehen - so rasch bereit, die Definition darüber, was uns heute geschieht, an männliche Expertengremien - und damit auch an den Staat - abzugeben?

    Das Schüren von Angst – der Angst vor dem Ersticken und der Angst davor, diesen qualvollen Tod Angehöriger verschuldet zu haben – war bereits im Frühjahr 2020 vom Innenministerium im Strategiepapier „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ erwogen worden, das in Auftrag gegeben wurde, um „‚weitere Maßnahmen präventiver und repressiver Natur‘ planen zu können“, wie die Welt im Februar 2021 berichtete.2 Eine Strategie des Ministeriums, dessen Minister Horst Seehofer sich an seinem 69. Geburtstag freute, dass 69 Menschen abgeschoben wurden.

    Das Online-Spiel „Corona-World“ – öffentlich-rechtlich betrieben von ARD und ZDF – lädt ein: „Werde zum Helden der Corona-Krise“. Zu „Helden“ assoziiere ich: männlich, kriegerisch und selbstgewiss, weil von höheren (eben heldenhaften) Motiven angetrieben. Einzelkämpfer (selten Kämpferinnen), die wissen, wo es lang geht. Die nicht fragen, sondern anpacken.

    Das Spiel hetzt zu Gewalt (wenngleich nur am Computer) auf3:

    Schlüpfe in die Rolle einer Krankenschwester, die nach einem harten Arbeitstag einfach nur im Supermarkt einkaufen will. Aber Vorsicht! Überall lauern Infektionsgefahren. Nimm dich in Acht vor Joggern, Party People, Preppern und hochansteckenden Kindern. Schlage zurück, indem du deine Gegner desinfizierst. Hast du das Zeug, um Corona ein für alle Mal zu besiegen?

    Während die Bundesregierung das Virus schnell zum Feind erklärt hatte, gegen den Krieg geführt werden müsse – was von links mit der Ausrottungsfantasie von Zero Covid aufgegriffen wurde – wird die Seuchenabwehr hier individualisiert.

    Aber auch von maßnahmenkritischer Seite gibt es Übergriffiges, wenn etwa Captain Future und seine Leute von der Freedom Parade ohne Masken durch einen Supermarkt oder einen Zug tanzen.

    Unabhängig von der Einschätzung der Sinnhaftigkeit von Masken ist es rücksichtslos und gewalttätig, in der Corona-Situation andere in Angst und Schrecken zu versetzen und ihnen grenzüberschreitend die eigene Körperlichkeit und den eigenen Atem aufzudrängen.

    All dies verstehe ich als Ausdruck patriarchaler Haltungen von Dominanz und Rechthaberei. Auch die vorgeblichen Schutzmaßnahmen verströmen nur zu oft den kalten Hauch von Autoritarismus und Ausgrenzung. Am meisten haben mich jedoch die verbalen Gewalttätigkeiten von Linken erschrocken.
    Rechthaben genügt?

    Hätte ich diesen Satz „Wir impfen euch alle!“ als Demobeobachterin nicht selbst mehrmals gehört, hätte ich nicht glauben wollen, dass Antifas eine solche Parole rufen. Sind das die gleichen Leute, die sonst so viel Wert auf Achtsamkeit legen, sich den Kopf zergrübeln über ihre Privilegien und sich akribisch um eine gewaltfreie und inklusive Sprache bemühen?

    Kann diese Konstruktion des „wir“ und „ihr“ nicht ebenso als Othering, als Konstruktion vom „Anderen“, verstanden werden, wie es oft zurecht menschenfeindlichen Ideologien vorgeworfen wird?

    Mit dieser verbalen Attacke wird anderen abgesprochen, überhaupt Gesprächspartner:innen, geschweige denn potenziell Verbündete zu sein. Da gelten auch keine minimalen Regeln höflicher Distanz mehr, wie sie zwischen politischen Gegnern üblich sein sollten, sondern die anderen werden zu Feinden gemacht, denen gegenüber keinerlei Respekt mehr erforderlich ist.

    Dabei ist der Inhalt dieses Satzes keine Banalität. Egal, wie mensch zum Impfen steht, stellt es doch in jedem Fall einen Eingriff dar, eine Überschreitung der körperlichen Grenze und das Einbringen einer körperfremden Substanz, deren Wirkungsweise zumindest langfristig noch nicht bekannt ist, nicht bekannt sein kann.

    Auch wenn es nur eine Parole ohne unmittelbare Wirkmächtigkeit ist (mittelbar kann sie auf Debatten um eine Impfpflicht einwirken), wirft sie doch alles, was in der Linken an Gewaltfreiheit und Respekt vor der Integrität einer jeden Person entwickelt wurde, über den Haufen

    Es waren vorwiegend Impulse aus der Frauenbewegung, die linke Bewegungen für Grenzüberschreitungen verbaler und körperlicher Art sensibilisiert haben.

    Die Parole „Wir impfen euch alle!“ scheint einen patriarchalen Rollback zu markieren, der sich in den Umgangsformen auf der linken reflect-Mailingliste4 spiegelt, wo beispielsweise am 20. Januar 2021 ein:e User:in in autoritärem Befehlston schrieb: „Laber mich und andere nicht voll. Lockdown. Maske. Alle Impfen. Abwarten. Punkt.“

    Solche Antworten fängt sich leicht ein, wer auf Widersprüche in den offiziellen Verlautbarungen zu Corona hinweist, gar abweichende wissenschaftliche Meinungen zitiert oder auch nur kritische Fragen stellt.

    Plötzlich kommt dann auch der Vorwurf „Schwurbler“. Argumente scheinen nicht mehr nötig zu sein, es genügt zu behaupten, Recht zu haben, auch innerhalb linker Bewegungen, nicht nur im Umgang mit denen, die aus unterschiedlichsten Motiven auf Demos von Querdenken oder anderen Maßnahmekritiker:innen mitlaufen.

    Wobei unter den Demonstrierenden auch Linke sind, aber auch Leute, die bisher nicht auf Demos gegangen sind. Da sind nicht alle so gut informiert, recherchieren nicht permanent, und ihnen vorzuwerfen, dass sie rechte Aussagen oder Nazis nicht gleich erkennen können, hat auch einen Beigeschmack von bildungsbürgerlicher Überheblichkeit, abgesehen davon, dass es nicht nur eindeutig rechts oder links einzusortierende Auffassungen gibt, sondern viele Zwischentöne.
    Corona als das absolut Böse

    Verbale Übergriffigkeiten sind nicht neu, haben aber mit Corona zugenommen. Beispielsweise versuchte jemand im April 2021 auf der öffentlichen, mittlerweile streng moderierten Attac-Diskussionsmailingliste inmitten erbitterter Streitigkeiten auch Gemeinsamkeiten zu formulieren und schlug vor:

    Übereinstimmung: Leben schützen und anerkennen, dass Corona deutlich gefährlicher ist als eine normale Grippe.

    Sogleich bekam er die Antwort:

    Es ist ist keine Übereinstimmung von uns, dass Corona deutlich gefährlicher ist als eine normale Grippe. Das rhetorische Mittel Corona in einem Satz mit normaler Grippe zu setzen, kennst Du und es verharmlost die Situation und zieht indirekt einen Vergleich.

    Diese Unterstellung einer Intention kann schon für sich als verbale Gewalt verstanden werden. Dass Corona nicht mit der Grippe verglichen werden dürfe, erinnert an das Argumentationsmuster, der Holocaust würde verharmlost, wenn er mit anderen Völkermorden verglichen würde. Schon der Begriff „Coronaleugner“ kann Assoziationen zu „Holocaustleugner“ wecken.

    Wer Corona zum absolut Furchtbaren, Unvergleichlichen stilisiert, beansprucht eine nicht kritisierbare Position, schon Nachfragen gelten als Sakrileg. Insofern spiegelt sich in diesem kleinen Beispiel die kommunikative Verhärtung, die nicht nur innerhalb linker Diskurse, sondern in der ganzen Gesellschaft prägend geworden ist.

    Hinzu kommt, dass der Vorschlagende ein einfaches Listenmitglied war, während der Antwortende kurz darauf in den Kokreis, das geschäftsführende Gremium von Attac, also in eine nicht ganz machtlose Position gewählt wurde.

    Während Linke sich streiten, wissen die Rechten ihre Chance zu nutzen, geben sich mal wieder „nicht rechts, nicht links“ und bauen an ihren Netzwerken.

    Insofern sind akribische Antifa-Recherchen und aufklärende Öffentlichkeitsarbeit wichtig und notwendig, wenn sie überprüfbare Fakten zusammentragen. Mitunter ähneln jedoch die Vorwürfe, die von linker Seite gegenüber Maßnahmen-Skeptiker:innen geäußert werden, eher Verschwörungserzählungen als rationaler Kritik.

    Verschwörungserzählungen und linke Kritik

    Ingar Solty und Velten Schäfer haben Ende 2020 vier Eckpunkte zur Definition von Verschwörungserzählungen benannt5, die ich im Folgenden kurz (ggf. verkürzend) benennen und an ihnen Vorwürfe von links gegen Maßnahmekritiker:innen spiegeln werde:

    Erstens seien „Verschwörungstheorien radikal simplifiziert und personalisiert“. Das lässt sich über linke Kritik ebenso sagen, wenn auf Fragen oder Argumente nicht mehr eingegangen wird, sondern diese pauschal als „Geschwurbel“ abgetan werden, und wenn es ausreicht zu behaupten, jemand stünde etwa den Querdenkern nahe oder sei bei denen aufgetreten, um sich mit so jemandem nicht mehr inhaltlich auseinanderzusetzen, egal was diese Person äußert, sei sie auch fachlich noch so kompetent.

    Zweitens „denken (sie) in Schwarz und Weiß und kennen keine Schattierungen.“ Auch dies findet sich in Kritiken von links. Es deutete sich bereits früher bei anderen heiklen politischen Themen an, aber nun, wo die Corona-Diskussionen hoch aufgeladen um existenzielle Fragen von Tod oder Leben geführt werden, scheint die Kultur des vorsichtig fragenden Abwägens von Ambivalenzen und Widersprüchen gänzlich verloren gegangen zu sein.

    Simplifizierende Parolen suggerieren stattdessen, es gäbe nur noch gut oder böse, falsch oder richtig – vielleicht ein Reflex auf das zunehmende Leben in digitalen Welten, deren Null-Eins-Null-Eins-Struktur sich unbewusst auch ins Denken und Fühlen einschreibt?

    Drittens steht in ihnen „das Ergebnis jedweder gesellschaftlichen Debatte a priori fest.“ Das ist die klassische Haltung patriarchaler Rechthaberei, die im Grunde aus dem oben bereits Ausgeführten folgt.

    „Und viertens gelangen sie stets zu einem apodiktischen Fazit. Sie wehren die Annahme ab, der Missstand sei veränderbar, erst recht innerhalb des gegebenen politischen Systems.“

    Hier ist die Parallele nicht ganz so einfach zu ziehen. Jedoch sehe ich eine ähnlich fatalistische Haltung in der Stilisierung von Corona als das absolut Böse, in der aggressiven Abwehr von Vorschlägen zur selbsttätigen Stärkung des Immunsystems und der hilflosen Hoffnung auf die Rettung durch die Impfstoffe der Pharmaindustrie.

    Für Solty und Schäfer ist solches Verschwörungsdenken Ausdruck eines politischen Vakuums, „das durch die Schwäche einer antikapitalistischen Linken entsteht.“ Sie warnen: „Ganze soziale Felder schon bei Spuren ’unreinen’ Denkens abzuschreiben, ist aber nicht nur unpolitisch, sondern zeugt auch von geringem Selbstbewusstsein.“

    Genau dies tun die Teile der Linken, die mit ihren feindlichen Attacken gegen Andersdenkende, denen ähnlich werde, die sie kritisieren wollen. Wo jedoch Kritik notwendig wäre, gegenüber den Mächtigen in Wirtschaft und Politik, zeigen sie oft eine erstaunliche Unfähigkeit oder ein Unwille. So wird Antifaschismus zur leeren Selbstdarstellung in der neoliberalen Konkurrenz um Aufmerksamkeit, bleibt ideologisch, ohne real etwas zu bewirken. Mit Erich Fried lässt sich feststellen:

    Ein Faschist, der nichts ist als ein Faschist, ist ein Faschist. Aber ein Antifaschist, der nichts ist als ein Antifaschist, ist kein Antifaschist!

    Sicher gibt es viele, die sich eher zurückziehen, das Corona-Thema meiden, um sich nicht zu zerlegen, wie es in Familien, Freundeskreisen und selbstorganisierten politischen Initiativen und Projekten viel zu oft geschehen ist. So sind vorwiegend die Lauten zu hören, und vielleicht ist es gar keine Mehrheit der Linken, die sich so aggressiv aufführt.

    Bedachtere Stimmen, die abwägen und nach wie vor ein breites Meinungsspektrum respektieren, gibt es auch. Sie sind allerdings viel weniger wahrzunehmen und haben sich vorrangig nicht organisiert, um der zunehmenden Feindseligkeit, die letztlich nur den Mächtigen und den Rechten nützt, etwas entgegenzusetzen.
    Respektvoll und gewaltfrei kommunizieren?

    Wo sind die kulturellen Errungenschaften respektvoller und gewaltfreier Kommunikation geblieben, die seit vielen Jahren alternative Bewegungen geprägt haben?

    Ist nicht einer der wichtigsten Grundsätze eines gedeihlichen Miteinander, nicht über andere, sondern über sich selbst zu sprechen – aus der Erkenntnis heraus, dass es gar nicht möglich ist, in andere hineinzuschauen und Aussagen über deren Beweggründe zu machen?

    Beobachtungen des Verhaltens oder der Äußerungen anderer können aus Sicht der Betrachter:in formuliert werden und ermöglichen ein Gespräch zwischen Subjektivitäten.

    Wer sich jedoch verobjektiviert und Aussagen über die Intention einer anderen Person macht, begeht eine Form verbaler Gewalt und Grenzüberschreitung, denn über das eigene Innenleben kann nur jede:r selbst Auskunft geben. Warum nicht einfach nachfragen?

    Selbstverständlich können solche Selbstauskünfte angezweifelt werden, aber das wäre dann eine Aussage über den eigenen Zweifel, und keinesfalls eine Tatsachenfeststellung über eine andere Person.

    Behauptungen über andere oder Vorwürfe, die Gesprächspartner:innen in eine Verteidigungsrolle drängen, haben in solidarischen Zusammenhängen nichts zu suchen.

    Konstruktive Kritik stellt die eigene Auffassung neben die Auffassungen anderer, ohne sich über diese zu erheben und die eigene Meinung als die einzig Richtige darzustellen.

    Eine kooperative, feministische Haltung äußert sich meines Erachtens im Sowohl-als-Auch, das die Möglichkeit des eigenen Irrtums mitdenkt, während das Entweder-oder aus der Gefühls- und Gedankenwelt patriarchal geprägter Konkurrenz entspringt.
    Die heilige Inquisition – Wissenschaft oder Religion?

    Im Umgang mit Corona zeigt sich auch, wie wenig geblieben ist vom Aufbruch der alternativmedizinischen Bewegung der 1970/80er Jahre, als ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Rolle von Ärzt:innen im Nationalsozialismus auch die einseitige Orientierung auf Pharmaindustrie und Medizintechnik kritisiert wurde.

    Ganzheitliche Erfahrungs- und Naturheilkunde ergänzte die Schulmedizin, und in Selbsthilfegruppen fanden viele zu einem neuen, weniger entfremdeten Umgang mit sich selbst. Solche Erfahrungen von Selbstwirksamkeit waren etwas vollkommen anderes als das, was von neoliberaler Seite als Eigenverantwortung gefordert wird und nur die Kehrseite von entwürdigenden Sparprogrammen darstellt.

    Heute scheint der Begriff „alternativ“ fast zum Schimpfwort geworden zu sein. Alternative Medien gelten als Organe zur Verbreitung von Fake News, und wenn bei Berichten über Querdenken-Demos Esoterikerinnen, Homöopathen, Anthroposophinnen und Impfskeptiker als Teilnehmende aufgezählt werden, dann schwingt zumindest unausgesprochen mit, es sei doch klar, dass die alle irgendwie verschwörungstheoretisch oder rechts seien, mindestens rechtsoffen.

    Die Art und Weise, wie manche Linke heute auf Wissenschaftlichkeit beharren, die vermeintlich Eindeutiges festgestellt hätte, hat fast schon einen religiösen Charakter, denn wissenschaftliche Erkenntnisse sind vielfältig und widersprüchlich, ebenso deren Interpretationen durch Expert:innen aus medizinischen und anderen Fachgebieten.

    Widersprüche und kontroverse Diskussionen sind ein Nährboden zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse, das unterscheidet Wissenschaft von Religion. Wissenschaft ist oft hilfreich, aber sie ist nicht die Wahrheit, sondern interpretierbar und auch manipulierbar, und ihre Erkenntnisse sind nicht unabhängig davon, wer sie finanziert.

    Wenn diejenigen, die Unbotmäßiges äußern, harsch zurechtgewiesen und belehrt werden, dann ist ein Hauch von heiliger Inquisition zu spüren. Dafür reicht es mitunter schon, auf die Bedeutung des Immunsystems für den Verlauf von Infektionskrankheiten hinzuweisen. Früher wurden naturheilkundige Hexen verbrannt.
    Das Verbindende betonen

    Einen Impuls zur Aussöhnung veröffentlichte im Juli 2021 eine Gruppe von 16 Expert:innen aus Deutschland und Österreich, darunter die Politikprofessorin Ulrike Guérot, der Begründer der Gemeinwohl-Ökonomie Christian Felber und der frühere Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber, der in den 1970er-Jahren den ersten Gesundheitsladen mitgegründet hatte und heute Vorstandsvorsitzender des Berufsverbandes der Präventologen ist.

    Sie möchten die Spaltung der Gesellschaft überwinden, indem sie die Corona-Krise analysieren und dazu beitragen, „die Ziele umfassende Gesundheit aller, Grundrechte und Demokratie, sozialer Zusammenhalt und nachhaltiges Wirtschaften besser in Einklang“ zu bringen.6

    Während ich schreibe, sind die Zapatistas aus dem mexikanischen Chiapas in Europa unterwegs auf einer „Reise für das Leben“, mit der sie Bewegungen „von links und unten“ vernetzen wollen, indem sie das Verbindende betonen und nicht das Trennende.7

    In der Selbstverwaltung und den Kämpfen der Zapatistas spielen Frauen und Transpersonen eine wichtige Rolle. Ihre Praxis ist eingebettet in eine Kosmologie des Lebens in der und mit der Natur. In ihrer Haltung des „fragend voran“ drückt sich das Bemühen um Resonanzbeziehungen aus, das sozialen Kämpfen einen gänzlich anderen Charakter verleiht als das hier beschriebene patriarchale Dominanzverhalten.

    Dieser Artikel erschien im Herbst 2021 in:

    Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Anne Seeck (Hg): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit. Kritisch-solidarische Perspektiven „von unten“ gegen die Alternativlosigkeit „von oben“.

    AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2021, 240 Seiten, 19 Euro.

  • Verschwörungstheorien als Krankheit
    https://www.heise.de/tp/features/Verschwoerungstheorien-als-Krankheit-6221798.html?seite=all

    20.10.2021 von Andreas Anto und, Alan Schink - Sars-CoV-2, Biosicherheit und Paranoia (Teil 2)

    Die metaphorische Gleichsetzung von Krankheitserregern und Verschwörungstheorien ist nicht neu. Schon vor Covid-19 galten Verschwörungstheorien als „toxisch“.1 Sie konnten als Internet-Phänomene viral gehen und man konnte, wie für Krankheiten, "anfällig"2 für Verschwörungstheorien sein. Auch im politischen Bildungsdiskurs ist etwa die Rede von sozialen Medien als „Nährboden“ für Verschwörungstheorien oder von Verschwörungstheorien als „toxischen Narrativen“.3 Seit Covid-19 ist es gängiger denn je, vom „Virus Verschwörungstheorie“ zu sprechen.

    In der Corona-Krise hat aber nicht nur die Sprache über Verschwörungstheorien einen zunehmend medizinisch-pathologischen Charakter angenommen. Nach dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben ist die Medizin in der Corona-Krise zu einer Art Religion aufgestiegen. Gesundheit ist in der „neuen Normalität“, welche die Pandemie mit sich gebracht hat, nicht mehr nur ein Recht, sondern sie wird "zu einer Pflicht […], die alle um jeden Preis zu erfüllen haben."4

    Im Paradigma der Biosicherheit werde das Worst-Case-Szenario, also „die Logik des schlimmsten anzunehmenden Falls“, zum „Leitprinzip der politischen Rationalität“.5 Wer in dieser Logik denkt und handelt, tut dies notwendig im Modus von Angst und Sorge. Die Virusangst bestimmt die sozialen Beziehungen, wobei die gegenseitige Verdächtigung aus Angst, der andere könnte ein Infizierter sein, omnipräsent ist.

    Der sogenannte „Masken“- oder „Quarantäneverweigerer“ ist im Paradigma der Biosicherheit daher doppelt gefährlich. Zum einen medizinisch, zum anderen symbolisch – als potenzieller Verbreiter von Viren oder von Verschwörungstheorien, die diese Viren verharmlosen. Die normative Kraft des Infektionsschutzes macht dabei jeden Unmaskierten zum potenziellen „Ausscheider“, was bedeutet, dass er „eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein“.

    Er könnte zum sogenannten „Superspreader“ werden und viele andere anstecken. Diese Angst wird immer auch symbolisch vermittelt. Die Mund-Nasen-Bedeckung gilt einerseits als Symbol der Solidarität und Fürsorge in der Krise. Zugleich symbolisiert die Maske aber auch die Angst vor dem Virus. Sie hält die drohende Gefahr der Ausbreitung eines unsichtbaren, gefährlichen Feindes ständig in der Öffentlichkeit präsent – sei es in Form eines Virus oder einer Verschwörungstheorie. Durch die Maske, meint der Anthropologe Matthias Burchardt, verändert sich das öffentliche Verhalten so, dass „Maskenverweigerung als potenzielle Körperverletzung“ wahrgenommen wird.6

    Die „moralische Aufladung der Maske“, vor der die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot warnt, ist im Paradigma der Biosicherheit eine kalkulierte Realität. In der Konsequenz dieser Logik geben etwa Apotheken-Portale Tipps, wie mit „Masken-Verweigerern“ und „Verschwörungsanhängern“ umzugehen sei; der SWR greift in der Fernsehserie mit dem Titel „Vorsicht Verbrechen“ das Thema auf und stellt Maskenverweigerer in der Einkaufspassage oder am Busbahnhof zur Rede.

    Der Maskenverweigerer ist im vorherrschenden Covid-19-Diskurs eine Manifestation des „Corona-Leugners“. Dieser ist – wie der „Verschwörungstheoretiker“ – in erster Linie eine diskursive Figur und wird mit jenen Personen assoziiert, die die Gefahr des Virus relativieren oder die Maßnahmen kritisieren.

    Rein zeitlich gesehen geht die Angstkommunikation und die Antizipation des Worst Case dem Pandemiemanagement der WHO und einiger Regierungen voraus. Das sogenannte „Panikpapier“ des Bundesinnenministeriums, das zwischen Anfang und Mitte März 2020 konzipiert wurde, setzt auf die Strategie, in der Bevölkerung eine Schockwirkung zu erzeugen, indem man Urängste adressiert. Wörtlich heißt es in dem Papier:

    Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden: […] Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.

    Das Papier sorgte im Internet für viel Wirbel, Irritation und Unverständnis. Verstärkt wurde dies noch durch den Umstand, dass im Februar 2021 bekannt wurde, dass Otto Kölbl, Germanist, Prüfer für Deutschtests und Doktorand an der Universität Lausanne in der Schweiz, einer der Autoren des Papiers war. Kölbl hatte zuvor gemeinsam mit einem Politikwissenschaftler einen Text mit dem Titel „Von Wuhan lernen – es gibt keine Alternative zur Eindämmung von Covid-19“ im Internet veröffentlicht.7

    Die Autoren loben darin die chinesische Strategie im Umgang mit der Pandemie und werfen westlichen Politikern, Experten und Medien vor, aus „gewohnheitsmäßiger Arroganz gegenüber China“ nicht rechtzeitig die richtigen Maßnahmen ergriffen zu haben.8 Zuvor hatte Kölbl auf seinem Blog und in sozialen Medien Mao Zedong und die chinesische Tibet-Politik verteidigt.

    Nach Recherchen der Welt am Sonntag verfasste Kölbl u. a. den oben zitierten Abschnitt über die „gewünschte Schockwirkung“.9 Die Aargauer Zeitung aus der Schweiz hält dazu fest10:

    Was genau Otto Kölbl, Teilzeit-Verantwortlicher für Deutschprüfungen an der Universität Lausanne, als Corona-Berater für das deutsche Innenministerium qualifiziert, bleibt ein Rätsel. Trotz mehrerer Anfragen der Welt am Sonntag gab die Regierung dazu keine Auskunft.

    Es ist nicht klar, wie viel Beachtung das Dokument in Regierungskreisen fand. In der Krisenkommunikation von Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn fanden sich die Argumente aus dem „Panikpapier“ jedenfalls nicht.11 Der Faktor Angst spielt in der politischen und medialen Krisenkommunikation zum Corona-Virus allerdings unbestreitbar eine zentrale Rolle.
    Protest als „Widerstand“ und „Querdenken“

    Es ist unter anderem diese Virusangst, gegen die sich im Netz und auf der Straße Protest breit macht. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift Demokratischer Widerstand vom 17. April 2020 heißt es auf der Titelseite: „Gegen die Angst!“. Die Verfasser stellen klar:

    Zum Virus gibt es mindestens zwei stark voneinander abweichende Meinungen" und behaupten, die „Parlamente und Parteien“ hätten „sich dem Regierungskurs unterworfen“, die „großen Medienhäuser (…) gleichgeschaltet“ und „sämtliche Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt“. Die Regierung versetze die Menschen „in Todesangst“ und nutze die Corona-Krise, um vom „Zusammensturz des Finanzmarktkapitalismus“ abzulenken. Im Hintergrund, so die verschwörungstheoretische Behauptung, dränge ein "dystopisches Digital- und Pharmakonzern-Kartell zur Macht.

    Herausgeber der Zeitung ist das politische Künstler-Kollektiv Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand rund um die Journalisten und Verleger Anselm Lenz und Hendrik Sodenkamp. Diese hatten am 28. März 2020 auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin eine sogenannte „Hygiene-Demonstration“ gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung initiiert, die in den Folgewochen fortgesetzt wurde und jeweils mehrere hundert Teilnehmer zählte.

    Bekannt gemacht wurden die auch als „Hygiene-Spaziergang“ betitelten Proteste unter anderem über die alternativen Medienkanäle und die Webseiten von KenFM und Rubikon. Im Laufe der Sommermonate 2020 etablierte sich im Rahmen von Medien der Gegenöffentlichkeit und den Demonstrierenden auf der Straße eine Protestbewegung, die in vielen deutschen Städten jeweils hunderte bis tausende Menschen auf die Straßen brachte.

    In den Leitmedien wurde über diese zumeist dezentral organisierte und heterogene Protestbewegung in der Regel abschätzig und verallgemeinernd unter Verwendung der Bezeichnung „Querdenker“ berichtet.

    Die Selbstbezeichnung „Querdenken“ geht auf eine Initiative des Unternehmers Michael Ballweg zurück, der, in Anlehnung an die Berliner Demonstrationen im Frühjahr 2020, von Stuttgart ausgehend weitere Proteste für das Grundgesetz und gegen die Anti-Corona-Maßnahmen organisierte. Ballweg gilt als Kopf von „Querdenken“ und spricht vom „Freiheitsvirus“, das bei den Menschen ausgebrochen sei, die auf die Straße gehen, um das Grundgesetz zu verteidigen.

    Während die Berliner Proteste und Forderungen um den Demokratischen Widerstand von vornherein eine links- bis sozialliberale politische Schlagseite hatten, mobilisierten die „Querdenken“-Proteste vor allem unpolitische bis politisch-enttäuschte Bürger.

    Für den Soziologen Oliver Nachtwey, der eine Untersuchung zu den Anti-Maßnahmen-Protesten geleitet hat, stellen die „Querdenken“-Proteste die vielleicht „erste wirklich postmoderne Bewegung“ dar. Laut Nachtwey bedeutet das, dass im Vordergrund der Kritik dieser Bewegung nicht bestimmte Argumente oder klare politische Forderungen stünden, sondern der Widerstand „gegen die Herrschaft, die Regierung, das System“.

    Diese dissidente Haltung vereint die Protestbewegung, für die ansonsten ihre politische und weltanschauliche Heterogenität kennzeichnend ist. Während ein großer Teil der Protestierenden politisch grün-links und antiautoritär eingestellt ist, finden in der „Querdenken“-Bewegung gleichzeitig rechte Positionen zunehmend Anklang und mobilisieren rechte bis rechtsextreme Gruppierungen und Parteien, wie etwa Teile der AfD oder der sogenannten Reichsbürger-Szene.

    Ein zentraler Faktor in der Bewegung ist der Verlust des Vertrauens in etablierte gesellschaftliche Institutionen wie Medien, politische Parteien oder Verbände. Das Themenspektrum auf den Protest-Bühnen, in Vor-Ort-Gesprächen oder in dissidenten Chatgruppen reicht von der Bill-Gates-Verschwörung über 5G bis hin zu alternativen Heilmethoden oder marginalisierten wissenschaftlichen Expertisen hinsichtlich Covid-19. In den Gegendiskursen der Maßnahmen-Proteste erfüllen Verschwörungstheorien die Funktion der Gemeinschaftsstiftung.

    Die Virusangst wird gleichsam durch die Angst vor Verschwörungen oder vor einer angeblich drohenden Gesundheitsdiktatur ersetzt. Bestimmte (mächtige) Akteure oder Gruppierungen gelten als Drahtzieher, Profiteure oder Erfüllungsgehilfen der Krise, über die es nicht nur aufzuklären gelte, sondern gegen die auch Widerstand zu leisten sei. So bildet sich eine Gruppenidentität der „Widerständigen“ gegenüber den vermeintlichen mächtigen Verschwörern einerseits und der noch nicht aufgeklärten Bevölkerung andererseits.12

    Auch hierbei spielt unter anderem die Maske als Symbol eine zentrale Rolle: Die Maske gilt bei den Protesten als Zeichen der Herrschaft und der Unterdrückung. Die Maskenverweigerung ist zugleich Ausdruck von Widerstand und Quer-Denken gegenüber einer als autoritär und einseitig wahrgenommenen Corona-Politik.

    Die Dialektik des Verschwörungsdenkens äußert sich in der Pandemie einerseits darin, dass Protagonisten von Corona-Verschwörungstheorien als „Covidioten“ oder „Maskenverweigerer“ geächtet werden. Andererseits ergeben sich durch genau diese Art von sozialer und politischer Exklusion neue Allianzen, Koalitionen und Netzwerke, die sich durch den Ausschluss definieren und damit neuartige dissidente Gemeinschaften bilden.

    Verschwörungstheorien können diese Gemeinschaftsbildung verstärken, während sie die Vertrauens- und damit auch die Gemeinschaftsbildung in anderen Kontexten gleichzeitig verhindern.
    Ein Virus aus dem Labor?

    Am 19. Februar 2020 veröffentlichte eine Gruppe von 27 international tätigen Wissenschaftlern, unter ihnen auch der deutsche Virologe Christian Drosten, in der renommierten Medizinzeitschrift The Lancet eine Erklärung. Es geht den Unterzeichnern darum, klarzustellen, dass das neuartige Corona-Virus natürlichen Ursprungs ist. Mehrere Studien, die dies gezeigt hätten, werden in dem kurzen Text angeführt. Die Autoren schreiben:

    Wir stehen zusammen, um Verschwörungstheorien, die nahelegen, dass COVID-19 keinen natürlichen Ursprung hat, scharf zu verurteilen.

    Verschwörungstheorien würden nichts als Angst, Gerüchte und Vorurteile erzeugen, heißt es weiter, und die „die globale Zusammenarbeit im Kampf gegen das Virus“ gefährden.

    Der Inhalt des Lancet-Statements wurde am 9. Juni 2020 nochmals in der Zeitschrift The Guardian unter dem Titel „Ignorieren Sie die Verschwörungstheorien: Wissenschaftler wissen, dass Covid-19 nicht im Labor erzeugt wurde“ von Peter Daszak, dem Initiator der Erklärung, veröffentlicht.

    Daszak ist Virologe und Vorsitzender der EcoHealth Alliance. Er arbeitet seit 2003 eng mit dem virologischen Institut in Wuhan an der Erforschung neuartiger Coronaviren, die von Fledermäusen stammen und auf Menschen übertragen werden könnten.

    Die Virusübertragung von Tieren auf Menschen wird Zoonose genannt. Am virologischen Institut in Wuhan, in dessen Nähe der Huanan-Fischmarkt liegt, wird auch die sogenannte Gain-of-Function-Forschung betrieben.

    Dabei werden Viren und Bakterien künstlich modifiziert und dadurch entstehende neue Eigenschaften untersucht, etwa, um auf künftige Pandemien vorbereitet zu sein oder im Hinblick auf die Entwicklung neuer Impfstoffe. Gain-of-Function-Experimente wurden in der Vergangenheit auch im Rahmen der Erforschung und Entwicklung biologischer Kampfstoffe eingesetzt.

    Bei der Modifizierung von Erregern besteht immer die Gefahr, dass Varianten des Erregers erzeugt und absichtlich freigesetzt werden oder versehentlich entweichen, die hochgradig ansteckend und gefährlich sind und auf natürliche Weise niemals entstanden wären.

    Daszak war Mitglied der offiziellen Untersuchungs-Gruppe der WHO, die in China dem Ursprung von Sars-CoV-2 auf die Spur kommen sollte. Die These, dass das Virus unbeabsichtigt aus dem virologischen Labor in Wuhan entwichen sein könnte, wurde von dem WHO-Team von Anfang an praktisch ausgeschlossen. Es wurde vor allem der Zoonose-These, also der Übertragung des Virus von einem Tier auf den Menschen, nachgegangen.

    Einige Beobachter unterstellen Daszak einen Interessenkonflikt, da er über Jahre eng mit dem virologischen Labor in Wuhan kooperiert hat. Mit der chinesischen Virologin Shi Zhengli, der Leiterin des Zentrums für neu auftretende Infektionskrankheiten am Institut für Virologie in Wuhan, hat Daszak 18 gemeinsame wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Shi Zhengli gilt als Expertin auf dem Gebiet Sars-CoV-ähnlicher Corona-Viren aus Fledermäusen und wird in der Presse gelegentlich als „Bat Woman“ bezeichnet.

    Sie forscht an Fledermaus-Coronaviren und berichtete u. a. in einem 2018 gemeinsam mit Peter Daszak und anderen Wissenschaftlern in der Zeitschrift Nature veröffentlichten Aufsatz von auf Schweinen übergegangene Coronaviren.

    Die Autoren der Studie schreiben: "Diese Studie unterstreicht die Bedeutung der Identifizierung der Coronavirus-Diversität und -Verbreitung in Fledermäusen, um zukünftige Ausbrüche, die den Viehbestand, die öffentliche Gesundheit und das Wirtschaftswachstum bedrohen könnten, einzudämmen."13

    Shi Zhengli wurde laut chinesischen Medien nach dem Ausbruch von Sars-CoV-2 zum Ziel von Angriffen in chinesischen sozialen Medien, in denen behauptet wurde, sie sei die Schöpferin des neuen Virus, das durch einen Unfall aus dem virologischen Labor in Wuhan entwichen oder gar absichtlich freigesetzt worden sei. Die Angriffe veranlassten die Wissenschaftlerin dazu, sich öffentlich zu äußern. Sie wird mit folgenden Worten zitiert14:

    Das neuartige Coronavirus 2019 ist die Natur, die die Menschheit dafür bestraft, unzivilisierte Lebensgewohnheiten beizubehalten. Ich, Shi Zhengli, schwöre bei meinem Leben, dass es nichts mit unserem Labor zu tun hat.

    Die Angriffe auf seine chinesische Kollegin waren wohl der Hauptgrund dafür, warum Peter Daszak die öffentliche Erklärung in The Lancet veranlasste. Seine Mitarbeit in dem WHO-Team zur Untersuchung des Ursprungs der Pandemie wurde aufgrund seiner Nähe zum virologischen Labor in Wuhan und zu Shi Zhengli in mehreren internationalen Medien kritisiert.

    So fordert das Wall Street Journal am 15. Januar 2021 unter Berufung auf skeptische Stimmen aus der Fachwelt: „Die Welt braucht eine richtige Untersuchung zu den Ursprüngen von Covid-19.“ Weder das WHO-Team noch die chinesische Regierung hätten ein Interesse daran, die These von der Zoonose infrage zu stellen, vermuten die Autoren des Artikels.

    Ende März 2021 erschien der Bericht der WHO-Experten zum Ursprung der Pandemie. Sars-CoV-2 sei „wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich“ von Fledermäusen auf ein anderes Tier und schließlich auf den Menschen übergegangen, heißt es in dem Bericht

    Dass das Virus aus einem Labor entwichen sein könnte, wurde dagegen als „extrem unwahrscheinlich“ eingeschätzt. WHO-Chef Adhanom schien allerdings mit den Schlussfolgerungen der Untersuchung nicht ganz einverstanden zu sein.

    Kurze Zeit nach Erscheinen des Berichts forderte er, die These eines Laborunfalls in Wuhan weiter zu untersuchen.

    Am 18. Februar 2021 war einer Pressemitteilung der Universität Hamburg zu entnehmen, dass der deutsche Physiker Roland Wiesendanger einen Laborunfall als Ursache für die Corona-Pandemie für wahrscheinlich hält.

    Wiesendanger hatte in einem über 100 Seiten langen Dokument Indizien und Belege aus verschiedenen Quellen ausgewertet und war zu dem Schluss gekommen, „dass sowohl die Zahl als auch die Qualität der Indizien für einen Laborunfall am virologischen Institut der Stadt Wuhan als Ursache der gegenwärtigen Pandemie sprechen.“

    Als Motivation für die Veröffentlichung der „Studie“ wird angeführt, dass "eine breit angelegte Diskussion angeregt werden [soll], insbesondere im Hinblick auf die ethischen Aspekte der „Gain-of-function“-Forschung, welche Krankheitserreger für Menschen ansteckender, gefährlicher und tödlicher macht."

    Die Veröffentlichung Wiesendangers sorgte in öffentlich-rechtlichen und sozialen Medien für teils heftige Kritik. Teile der Universität distanzierten sich von Wiesendangers Publikation. Dem Nanowissenschaftler wird vorgeworfen, ein „Fachfremder“ zu sein, vor allem aber, dass seine „Studie“ nicht den üblichen wissenschaftlichen Standards entspreche.

    Es handle sich, so ein im ZDF-Faktencheck zitierter Sachverständiger, vielmehr um „eine Kompilation altbekannter Dokumente und Theorien zu einem möglichen Laborunfall“.

    Der Faktencheck rückt Wiesendanger in die Nähe von Verschwörungstheorien. Wiesendanger dagegen wirft dem ZDF-Faktenchecker vor, ihm falsche Zitate in den Mund gelegt zu haben und erläutert gegenüber dem Blog Achse des Guten:

    Es ist frustrierend, dass sich die Medien darauf eingeschossen haben, die These eines Laborunfalls zu verunglimpfen und mit Verschwörungstheorien in Verbindung zu bringen, und dass bei diesem extrem wichtigen Thema, das die Bevölkerung wirklich bewegt - wie mir tausende von Zuschriften zeigen, von journalistischer Seite keine kritischen Fragen gestellt werden. Das wäre die Aufgabe von Journalisten gewesen, das aufzugreifen. Doch scheinbar scheuen sich viele Journalisten, dieses heikle Thema anzufassen und begnügen sich damit, diejenigen zu diffamieren, die das diskutieren wollen. Aber immer mehr Wissenschaftler wagen sich an die Öffentlichkeit. Auch an den Leserbriefspalten der Zeitungen erkennt man, dass die Bevölkerung Aufklärung will.

    Es ist verständlich, dass sich Wiesendanger dagegen verwehrt, mit Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht zu werden, die im allgemeinen Sprachgebrauch für abwegige, unsinnige Behauptungen stehen.

    Hier wird wieder einmal deutlich, dass der Begriff inzwischen vor allem ein Kampfbegriff ist, der immer dann Anwendung findet, wenn jemand ein bestimmtes Feld verlassen hat, innerhalb dessen ein Diskurs erlaubt ist.

    Allerdings ist die These von einem Laborunfall in der Tat eine Verschwörungstheorie. Die Verschwörung bestünde in der Vertuschung des Unfalls. Anfang März 2021 verteidigte Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, Wiesendanger. Es sei besser, "eine unsichere Hypothese zur Diskussion zu bringen, als eine am Ende richtige verschwiegen zu haben."15

    Im Mai 2021 bekam die These von einem Laborunfall Unterstützung von höchster Stelle: US-Präsident Joe Biden ordnete eine Untersuchung des Ursprungs der Pandemie durch US-Geheimdienste an.

    Er bezog sich dabei auch auf Geheimdienst-Informationen, nach denen drei Forscher des virologischen Labors in Wuhan vor dem offiziellen Ausbruch der Pandemie möglicherweise mit Covid-19 infiziert worden seien – was wiederum von chinesischen Behörden bestritten wird. In der Zwischenzeit forderten auch immer mehr Wissenschaftler eine unabhängige Untersuchung der These von einem Laborunfall.

    Einer davon ist der Virologe Charles Calisher, einer der Unterzeichner des Lancet-Statements, in dem derartige Überlegungen rund ein Jahr zuvor als „Verschwörungstheorien“ bezeichnet wurden. Es gebe, sagte Calisher gegenüber ABC News, „zu viele Zufälle“, um die These vom Laborunfall zu ignorieren.

    Man darf gespannt darauf sein, wie sich die Faktenlage in dieser Sache entwickeln wird, an die sich die Faktenchecks dann gegebenenfalls anzupassen haben.

  • Der chauvinistische Éric Zemmour hat Chancen, nächster französischer Präsident zu werden.
    https://www.heise.de/tp/features/Rache-gegen-Muslime-und-Revanche-gegen-Deutschland-6222906.html?seite=all

    L’amitié franco-allemande en danger. Le néo-libéralisme crée les forces qui le poussent vers l’abîme fasciste.

    In Deutschland hat sich gerade ein weit abgeschlagener Kandidat mit Namen Olaf Scholz an die Spitze der politischen Pyramide katapultiert. Geschieht jetzt dasselbe in Frankreich? Dort erobert aktuell der Neuling Éric Zemmour die politische Bühne im Sturmlauf. Seine Umfragewerte im französischen Präsidentschaftswahlkampf explodieren förmlich.

    Er liegt bereits an zweiter Position hinter Präsident Macron, hat die rechtsradikale Marine Le Pen überholt und ist stärker als die prominenten Kandidaten der gemäßigten Rechten und der Linken zusammengenommen. Für die Option, Präsident zu werden, heißt das konkret: In der Stichwahl zwischen den beiden finalen Kontrahenten könnten Le Pen oder er ihr eigenes Lager auffordern, das des jeweils anderen zu wählen. Damit würden sie gemeinsam Macron aus dem Amt hebeln.

    Der Haken daran: Dann bekäme Frankreich einen chauvinistischen Präsidenten oder eine ebensolche Präsidentin mit großen Vollmachten. Das würde wahrscheinlich auch das Schicksal Deutschlands und Europas zum Schlechteren wenden.

    Darum stellt sich die dringende Frage: Wie erklärt sich das Phänomen Éric Zemmour, das stark an den kometenhaften Aufstieg eines Donald Trump nach seiner ersten chauvinistischen und rassistischen Bewerbungsrede im Jahr 2016 erinnert?
    ...

    L’auteur

    Hans-Christian Lange, Jahrgang 1957, lebte in den 1980er-Jahren in Frankreich und wurde zu einem der letzten deutschen Gesprächspartner des französischen Intellektuellen Raymond Aron, bevor er als Kanzleramtsberater nach Deutschland zurückkehrte. Danach wechselte er in die Industrie und gehörte dort in den 1990-er Jahren zu dem Managerkreis, der die Zwangsarbeiterinitiative und -entschädigung der deutschen Wirtschaft durchsetzte.

    Er hat 2016 die erste deutsche Band- und Leiharbeitergewerkschaft „Social Peace“ gegründet und sich zum Politaktivisten gewandelt. 2018 organisierte er die Initialzündung für demokratische Gelbwestenproteste in Deutschland gemeinsam mit französischen Gelbwesten. Seine Abrechnung mit den deutschen und französischen Eliten hat er in seinem aktuellen Buch zusammengefasst: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Ein Insider entlarvt die neue Geld- und Politikkaste.

  • Tod eines opportunistischen Killers
    https://www.heise.de/tp/features/Tod-eines-opportunistischen-Killers-6222916.html?seite=all

    20.10.2021 von Gerd Roettig - Colin Powell zeigt vor den UN am 5. Februar 2003 eine Ampulle, vermeintlich mit Milzbranderregern. Der Irak, sagte er, verfüge wahrscheinlich über solche Massenvernichtungswaffen. Bild: U.S. Government

    Colin Powell war nicht der größte Lügner der Regierung Bush Juniors. Bei der Durchsetzung des Angriffskriegs auf den Irak vor knapp zwei Jahrzehnten spielte er aber eine Schlüsselrolle.

    Der vor wenigen Jahren verstorbene Schriftsteller #Gore_Vidal beschrieb seine Heimat einst als United States of Amnesia, als Land des Vergessens. Vidal, einer der scharfzüngigsten Kritiker der Regierung Georg W. Bushs – oder, wie er sie selbst nannte, #Cheney-Bush-Junta – befürchtete bereits damals, dass deren völkerrechtliche Verbrechen in Serie nicht nur nicht aufgeklärt zu werden drohten, sondern alsbald historisch verklärt werden würden.

    Diese Befürchtung bestätigte sich einmal mehr vor wenigen Monaten, als auch hiesige Medien den Tod von Ex-Pentagon-Chef Donald Rumsfeld mit ausgesprochen milden Tönen quittierten. Gegen den notorischen Scharfmacher und Hauptarchitekten des neokonservativen Programms einer über Leichen gehenden US-Hegemonie war immerhin auch hierzulande Klage wegen Kriegsverbrechen, gefährlicher Körperverletzung und Verstoßes gegen die UN-Folterkonvention eingereicht worden, woran sich offenbar nur noch die Wenigsten zu erinnern vermochten.

    Mit Colin Powell ist gestern nun ein weiteres führendes Mitglied der ersten Regierung Georg W. Bushs im Alter von 84 Jahren gestorben. Und erneut kommen die meisten Nachrufe einer Geschichtsfälschung gleich, in dem sie Powell beinahe als naives Opfer einer Politik beschreiben, für die er selbst nicht gestanden hätte.

    Anders als Rumsfeld, der sich in seiner politischen Laufbahn schon früh als aktiver Kriegstreiber empfahl, nahm Powell tatsächlich stets die Rolle des befehlsergebenen Soldaten ein, mithilfe derer er sich auch in der US-amerikanischen Öffentlichkeit einen Nimbus von Glaubwürdigkeit und Integrität zu erkaufen wusste:

    Ein soziales Kapital, das der Regierung Bush-Cheney sehr zupasskam, als es darum ging, die Weltöffentlichkeit mit dem Lügenmärchen von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen hinters Licht zu führen und die US-Gesellschaft für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak zu mobilisieren.

    Powells spätere Behauptung, dass seine 2003 vor den UN abgelegte Falschaussage auf einem „großen Versagen der Geheimdienste“ gründete, ist gelinde gesagt wenig glaubhaft.

    Powell trug mit seiner UN-Rede zum Krieg bei

    Selbst Powells ehemaliger Stabschef Lawrence Wilkerson urteilte später, dass die Rede sowohl wegen ihrer „Unaufrichtigkeit“ als auch wegen Powells „Gravität“ einen entscheidenden „Beitrag der zweijährigen Bemühungen der Bush-Regierung leistete, die Amerikaner für den Krieg zu gewinnen“.

    „Diese Bemühungen“, schrieb Wilkerson 2018, „führten zu einem Krieg, der zu katastrophalen Verlusten für die Region und die von den USA geführte Koalition führte und den gesamten Nahen Osten destabilisierte“.

    Trotz millionenfachen Leids, unzählbarer Toten und einer auf absehbare Zeit hoffnungslosen Lage eines mutwillig zerstörten Staates, der erst durch die US-Invasion zum Exporteur terroristischer Gewalt wurde, blieben die Hauptakteure unbehelligt.

    Während Georg W. als welpenmalender netter Onkel auch in Talkshows des liberalen Mainstreams wieder gern gesehener Gast ist und Dick Cheney immer noch damit beschäftigt sein dürfte, sein in Öl- und Waffenindustrie gemachtes Geld zu zählen, äußerte Powell bereits 2005, seine Rede vor der UN-Vollversammlung zu bereuen, und befreite dabei gleichzeitig Leute wie Ex-CIA-Chef George Tenet von ihrer Verantwortung.

    Dabei hatte der „gute Soldat“ (Powell über Powell) bereits seine frühe Karriere damit begründet, stets das zu liefern, was seine Vorgesetzten von ihm hören wollten.

    1968 war der damals Anfang Dreißigjährige im Dienstgrad eines Majors nach #Vietnam versetzt und zu jener Division abkommandiert worden, aus deren Reihen nur kurze Zeit zuvor das Massaker von Mỹ Lai begangen worden war: Diesem waren mehr als 500 vietnamesischen Zivilisten zum Opfer gefallen, was nach Bekanntwerden wesentlich zum Anwachsen der Antikriegsproteste in den USA führen sollte.

    Eine direkte Mittäterschaft an diesen Kriegsverbrechen ist Powell nicht anzulasten. Sehr wohl war er aber Teil der Vertuschung und des Stillschweigens durch die US-Armee.

    In Berichten an die Armeeführung spielte Powell die Gewaltexzesse als Ausrutscher herunter. Hinweisen auf andere Kriegsverbrechen ging er nur halbherzig nach: „Es mag vereinzelte Fälle von Misshandlung von Zivilisten und Kriegsgefangenen geben, aber dies spiegelt keineswegs die allgemeine Haltung der gesamten Division wider.“

    Die Beziehungen zwischen den US-amerikanischen Soldaten und der vietnamesischen Bevölkerung seien vielmehr ausgezeichnet.

    Powell sagte, was seine Vorgesetzten hören wollten

    Diese Haltung, seinen Vorgesetzten genau das zu sagen, was sie hören wollten, und nicht die Wahrheit zu sagen, wurde zu einem der Markenzeichen der militärischen Karriere Powells, auf deren Höhepunkt er es zum Vier-Sterne-General brachte und als solcher federführend an der US-Invasion in #Panama (1989) und des Zweiten Golfkrieges (1991) beteiligt war.

    Auch seine Auffassung von Recht und Unrecht dürfte Powell bereits aus dem Vietnamkrieg mitgebracht haben, der Vieles der von Bush und Konsorten begonnenen und unter Obama fortgesetzten Kriegsserie im Nahen Osten vorweggenommen hatte. In seinen Vietnam-Memoiren aus den 90er-Jahren erinnerte sich Powell:

    Wenn ein Hubschrauber einen Bauern in einem schwarzen Pyjama entdeckte, der auch nur entfernt verdächtig aussah, umkreiste der Pilot ihn und feuerte auf ihn. Wenn er sich bewegte, wurde dies als Beweis für feindliche Absichten gewertet, und der nächste Schuss fiel nicht vor ihm, sondern auf ihn. Brutal? Das mag sein (….) Aber das Töten oder Getötetwerden im Gefecht führt dazu, dass die Wahrnehmung von Recht und Unrecht getrübt wird.
    Colin Powell

    Wie sehr durch die ewig dauernden Kriege die Wahrnehmung von Recht und Unrecht auch jenseits der Gefechte getrübt ist, zeigt nun die Mystifizierung Powells, die dessen Tod unmittelbar folgt.

    Sie macht vor dem „progressiven“ Lager nicht halt. Jamaal Bowman, afroamerikanischer Kongressabgeordneter und Mitglied der Democratic Socialists twitterte Stunden nach Powells Tod, dass für ihn als schwarzer Mann, „der gerade versuchte, die Welt zu verstehen, Colin Powell eine Inspiration“ gewesen sei. „Er stammte aus New York City, besuchte das City College und stieg in die höchsten Ränge unserer Nation auf.“

    In der Tat gehörte Colin Powell einer Generation Afroamerikaner an, für die das Militär neben dem Hochleistungssport eine der sehr wenigen Möglichkeiten sozialen Aufstiegs in einer zutiefst rassistischen und segregierten Gesellschaft bot.

    Gleichzeitig sollte dies nicht vergessen machen, dass Powell dabei Nutznießer von Kämpfen anderer war, für die er selbst nie bereit zwar, sich einzusetzen.

    Der Bürgerrechtsaktivist Kwame Ture machte bereits in einem Fernsehinterview 1995 darauf aufmerksam, dass Powell seine Position als ranghoher Militär ironischerweise den Errungenschaften der Bürgerrechtskämpfe im Allgemeinen und dem Wirken von #Martin_Luther_King im Besonderen zu verdanken habe.

    Letzterer hatte seinen Einsatz für die Emanzipation der Schwarzen in den USA in dem gleichen Schicksalsjahr #1968 mit dem Leben bezahlen müssen, als Ersterer mit seiner soldatischen Karriere in Vietnam durchstartete.

    Für Kwame Ture gab es bereits damals keinen Zweifel: „Mr. Powell ist ein Lügner. Mr. Powell ist ein Verräter an seinem Volk, und Mr. Powell ist ein Verräter an der Menschheit. Wenn Sie King lieben, können Sie Powell niemals lieben.“

    #USA #impérialisme #guerre #histoire #militaire

  • « Sie nahmen Kunst sehr ernst »
    https://www.heise.de/tp/features/Sie-nahmen-Kunst-sehr-ernst-6204115.html?seite=all
    Je découvre pourquoi je n’ai jamais apprécié Tarkowski. D’abord ses films de science-fiction n’en étaient pas, puis la décision du service d’échange académique allemand DAAD de retirer l’invitation du réalisateur chinois Chen Kaige au profit de Tarkowski m’a privé de l’occasion de collaborer avec cet auteur de cinéma appartenant à la cinquième génération de réalisateurs chinois.

    Dans cette interview Tarkowski junior explique pourquoi Stanislaw Lem refusait de collaborer avec Tarkowski : l’absence de pensée scientifique et analytique dans le film du créateur russe le rendait incompatible avec la vision de l’univers selon Lem.

    3.10.2021 - Andrej Tarkowski, Sohn des Regisseurs von „Solaris“ im Interview

    Science-Fiction war für ihn nur ein Vorwand, um die bürokratische Maschinerie der sowjetischen Zensur zu überwinden. Er musste Wege finden, wenn auch indirekt, frei über bestimmte Themen sprechen zu können, ohne dafür bestraft zu werden. Dafür eignete sich das Genre Science-Fiction sehr gut. Dann drehte er alles so wie er wollte, dass es am Ende gar keine Science-Fiction mehr war.

    Er nahm z. B. einen Roman, veränderte ihn so sehr und passte ihn seinen Vorstellungen an, dass von der ursprünglichen Science-Fiction-Story nichts mehr übrig blieb. Selbst der Autor von Solaris hatte geklagt, das sei nicht mehr die Adaption seines Romans, sondern ein Dostojewskij. Er weigerte sich im Anschluss, am Film mitzuarbeiten. Es war eine Art, die Zensoren zu täuschen.

    Sowohl Solaris als auch Stalker sind äußerst religiöse Filme, die auf gut versteckte Weise fast die Geschichte eines Heiligen nachzeichnen. Sein größter Wunsch war es gewesen, seinen Lieblingsautor Dostojewskij zu verfilmen, doch das ist ihm nie erlaubt worden. In Solaris sind noch viele Science-Fiction-Elemente vorhanden, während in Stalker die Science-Fiction eindeutig nur ein Vorwand war.

    Paul J. A. Clark, Reinventing China : A Generation and Its Films
    https://journals.openedition.org/perspectiveschinoises/936

    https://journals.openedition.org/perspectiveschinoises/pdf/936

    Chen Kaige 陈凯歌
    https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Chen_Kaige

    #film #science-fiction #exil #Chine #URSS

  • Lockdown oder Triage ?
    https://www.heise.de/tp/features/Lockdown-oder-Triage-6189729.html

    Voilä un texte qui explique le fonctionnement du triage de patients dans le contexte du lsystème médical allemand actuel. On peut en retenir deux affirmations principales :
    – D’abord le triage, le fait de refuser un tratement fait pour sauver sa vie à un patient est toujours la décision d’un médecin.. Il n’y a pas de loi qui lui imposerait des critères pour sa décision. Le triage est l’expression pure et simple du pouvoir de décision sur ma vie et ma mort d’un médecin particulier. Il n’y a rien d’abstrair ici.
    – Puis cette décision est prise dans un contexte où le pouvoir en place refuse de fournir assez de moyens pour sauver la vie de chaque patient.
    Autrement dit nous vivons sous un régime qui nous autorise uniquement ä vivre tant que nous sommes en assez bonne forme pour nous faire exploiter. Les malades sont sacrifiés et exterminés tout en servant de cobayes pour l’expérimentation médicale et comme ressource pour l’élaboration de statistiques qui dans l’ensemble ne constituent effectivement que la preuve de la suprématie du pouvoir médical..

    11.9.2021, von Christoph Jehle - Die Debatte zur Priorisierung der Covid- gegenüber den Nicht-Covid-Patienten und die Not: die Pflegekapazität

    Gebannt stellt man fest, dass die Zahl der Hospitalisierungen von Covid-Patienten gegen Ende des Sommers wieder zunimmt. Nachdem die Inzidenzen als Grundlage der Coronamaßnahmen von den Hospitalisierungsinzidenzen abgelöst wurden, hofft die Politik, zumindest etwas Zeit gewonnen zu haben. Der Preis dafür ist das Risiko, dass man die Auslastung der Krankenhäuser nicht mehr vorhersagen kann, weil erst die Fakten zählen.

    Die Hospitalisierungsinzidenz ist die aktuelle Messlatte für Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung. Man hat damit die Beurteilung der aktuellen Situation auf der Zeitschiene nach hinten verlegt, in der Hoffnung, dass viele Geimpfte nicht oder nicht symptomatisch erkranken.

    Da die Anzahl der in der Region freien Krankenhausbetten künftig für die Entscheidung über regionale Kontaktbeschränkungen die relevante Größe darstellt, werden schlecht versorgte Gebiete auch schneller mit Maßnahmen bis zum Lockdown rechnen müssen. Die in der Vergangenheit geforderte Gleichbehandlung für alle Bundesländer wird dadurch von einer deutlich kleinteiligeren Differenzierung abgelöst. Berücksichtigt werden dabei alle für Covid-19-Patienten geeigneten Isolierstationen und nicht nur Intensivbetten.

    Die Intensivstationen könnten schnell wieder an ihre Belastungsgrenze kommen, bevor der Auslöser für Kontaktbeschränkungen erreicht werde, so die Befürchtung.

    Wann ist eine Intensivstation an der Grenze zur Maximalauslastung?

    Die Zahl der Intensivbetten ist keine Größe, die man ausreizen kann. Stephan Jakob, Chef der Intensivmedizin am Berner Inselspital, betont nachdrücklich, dass eine Intensivstation nie zu 100 Prozent ausgelastet werden darf. 70 Prozent aller Patienten in der Klinik kämen als Notfälle, für diese müsse man Kapazitäten freihalten.

    Die Auslastung einer Intensivstation dürfe bei maximal 75 Prozent liegen. Und diese Betten können nicht zu 100 Prozent für Corona-Patienten freigehalten werden, weil dadurch andere Intensivpatienten von der benötigten Versorgung ausgeschlossen würden. Die Intensivstation im Berner Inselspital sei derzeit mit 27 Patienten zu 95 Prozent belegt, so der Intensivmediziner vor ein paar Tagen. Davon seien sieben Covid-Patienten, alle ungeimpft.

    „Im Vergleich zu früheren Wellen sind die Patientinnen und Patienten sehr schwer krank. Drei von ihnen benötigen eine künstliche Lunge, viele leiden unter Multiorganversagen“, so Jakob gegenüber der Berner Zeitung.

    Die Pflegekapazität setzt die entscheidenden Grenzen

    Am Anfang der Corona-Pandemie war die technische Ausstattung mit Beatmungsgeräten und anderem technischen Equipment der wichtigste begrenzende Faktor bei der Kapazität zur Behandlung von Corona-Patienten. Die inzwischen erfolgte Aufrüstung und Erfahrung bei der Behandlung dieser Patientengruppe hat gezeigt, dass letztlich die Pflegekapazität die entscheidenden Grenzen setzt, da diese Gruppe einen erhöhten Pflegebedarf hat.

    Wenn jetzt die Ausbildung von mehr Pflegern gefordert wird, sollte man auch berücksichtigen, dass die Pflegeschüler in manchen Bundesländern noch immer teils dreistellige Summen pro Monat selbst bezahlen müssen. Wer schon eine Stelle als Pfleger hat, kann bei großen Kliniken eine kostenfreie berufsbegleitende Weiterbildung zum Intensivpfleger belegen.

    Für Pfleger anderer Einrichtungen schlägt diese Weiterbildung mit etwa 5.000 Euro zu Buche. Auch wenn die Bezahlung sich in der klinischen Pflege zuletzt deutlich verbessert hat, sind die Arbeitszeiten wenig familienfreundlich und die häufigen Wechselschichten gehen zulasten der eigenen Gesundheit.

    So werden die qualifizierten Pfleger schnell knapp. Das für die Intensivpflege qualifizierte Pflegepersonal müsste dann aus anderen Abteilungen abgezogen werden und die dortigen Kapazitäten reduzieren. Patienten mit anderen Vorfällen könnten somit nicht im üblichen Umfang behandelt werden. Was faktisch einer Triage zum Nachteil der Nicht-Corona-Patienten gleichkommt.

    Debatte über Priorisierung

    Unterstützt wurde die Priorisierung der Versorgung von Covid-Patienten auch über die sogenannten Freihaltepauschalen, die in der Praxis dafür gesorgt haben, dass andere Patienten nötige Untersuchungen und Eingriffe zu spät bekommen hätten. Eine gesellschaftliche Debatte über die Priorisierung der Covid- gegenüber den Nicht-Covid-Patienten hat bislang nicht stattgefunden und auch über die legitimen Interessen der solcherart zurückgestellten Patienten spricht kaum jemand.

    Jetzt aber zu behaupten, die Krankenhaus- und speziell die Intensivbetten seien nie knapp gewesen, ist eine bedauerliche Missinterpretation der vorhandenen Zahlen.
    Welche Entscheidungskriterien gelten bei einer Triage?

    Für einen Lockdown kann der Gesetzgeber klare Grenzwerte anhand von Inzidenzen oder Hospitalisierungsinzidenzen festlegen, diese veröffentlichen und auch die jeweils getroffenen Maßnahmen der Öffentlichkeit bekannt geben. Wenn er mit diesen Entscheidungen zu spät kommt und die Betten auf den Isolierstationen ihre Kapazitätsgrenze erreichen, ist der Gesetzgeber außen vor, denn für das Instrument der Triage gibt es aus systematischen Gründen keine gesetzlichen Vorgaben und auch keine Veröffentlichungspflicht.

    Der Gesetzgeber darf hierzu keine Festlegungen treffen und die Entscheidung, wer aufwendig kurativ und wer palliativ behandelt wird, haben die verantwortlichen Ärzte im jeweiligen Einzelfall zu treffen.

    Dabei wird sich dann auch die Frage stellen, welche Bedeutung der Impfstatus des Patienten haben könnte. Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli hat sich mit ihrer Aussage - „Wer Impfgegner ist, der müsste eigentlich eine Patientenverfügung ausfüllen, worin er bestätigt, dass er im Fall einer Covid-Erkrankung keine Spital- und Intensivbehandlung will“ -, auch unter Schweizer Kollegen starken Widerspruch eingehandelt. Die Politik hat es vorgezogen, dieser Frage auszuweichen und fürs Erste die liberalen Coronamaßnahmen zurückzunehmen und vertritt nun eine härtere Gangart.

    Das Thema Triage hat übrigens nicht nur bei Intensivpflegeplätzen eine zunehmende Bedeutung bekommen, sondern auch bei der Zuteilung von Spenderorganen in der Transplantationsmedizin. Im Grund muss bei allen knappen Gütern die Entscheidung gefällt werden, welches Leben soll man retten.

    In der aktuellen Pandemiesituation hat sich deutlich gezeigt, dass unser Gesundheitssystem im Grunde ein „Krankheitssystem“ ist. Aus den Krankenkassen wurden trotz aller Namenskosmetik keine Gesundheitskassen, weil nur die Krankenheilung monetarisiert wird. Für ein echtes Gesundheitssystem müsste deutlich mehr Wert auf die Erhaltung der Gesundheit gelegt werden. Aber das ist ein eigenes Thema.

    #maladie #iatrocratie #pandémie #triage #covid-19 #corona #épidémiologie

  • Rechtspopulismus - vom Bund gesponsert ?
    https://www.heise.de/tp/features/Rechtspopulismus-vom-Bund-gesponsert-6176838.html?seite=all

    La fondation d’extrême droite Desiderius-Erasmus-Stiftung recevra entre 50 et 80 mllions d’Euros par an de la part du contribuable. Cette manne financière s’écoule dans le paysage politique allemand à l’avantage de chaque parti dès son deuxième entrèe dans le parlement national. La somme totale des subvention ainsi versées aux partis politiques allemands s’élève à un demi milliard dEuros pour les quatre annés passées.

    ILe financement des fondations politiques se fait suite à un arrangement entre les partis sans justification légale par une loi.

    30.8.2021 von Johannes Schillo - Der Streit um die öffentliche Förderung der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung spitzt sich zu. Es geht um Millionenbeträge

    Die Gegner einer Finanzierung der AfD-nahen Stiftung aus dem Bundeshaushalt gehen mit Blick auf die Bundestagswahl vermehrt an die Öffentlichkeit und versuchen, „den durch den Wiedereinzug in den Bundestag quasi unvermeidlichen Geldsegen durch das Schließen einer Gesetzeslücke doch noch zu verhindern. Bis jetzt fehlt nämlich ein Gesetz, das die Stiftungsfinanzierung förmlich regelt.“ (NZZ, 7.7.21)

    In einem „Manifest der Zivilgesellschaft“ etwa haben Kritiker - die aus dem DGB, den Fridays for Future, Attac oder dem Zentralrat der Juden stammen - die Fraktionen im Deutschen Bundestag dazu aufgerufen, ihre „apathische Haltung gegenüber Parteien wie der AfD und ihrer Desiderius-Erasmus-Stiftung aufzugeben“.

    Sie sollten schnellstmöglich ein Demokratiefördergesetz auf den Weg bringen, „das sicherstellt, dass Verfassungsfeinde keine Steuergelder erhalten“.

    Wörtlich heißt es in dem Manifest:

    Das Führungspersonal dieser Stiftung hat in der Vergangenheit oft gezeigt, dass es die Grundwerte unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates nicht teilt - stattdessen betreiben Vorstands- und Kuratoriumsmitglieder um die Vorsitzende Erika Steinbach Geschichtsrevisionismus und Holocaust-Relativierung und hetzen regelmäßig gegen Geflüchtete, Homosexuelle, Frauen und viele andere Gruppen.

    Das schleichende Gift, das von einer Diskursverschiebung hin zu völkischen, antisemitischen und menschenfeindlichen Positionen ausgehe, bedrohe „unsere Gesellschaft im Ganzen.“

    Solche Vorwürfe wurden von der Stiftungsvorsitzenden umgehend als „infame Diffamierung“ (NZZ) zurückgewiesen. Damit wurde schon klargestellt: Werden der Stiftung, die übrigens wie die AfD selbst dank zahlreicher privater Spender finanziell gut ausgestattet ist, öffentliche Mittel verwehrt, wird das für die Rechten ein weiterer Beleg des Demokratieabbaus sein.

    Man wird ja wohl noch sagen dürfen ...

    „Meinungsfreiheit – nur noch eine leere Hülle?“ So fragte die Erasmus-Stiftung schon bei ihrem Kongress vom Sommer 2019, der jetzt in der neuen DES-Schriftenreihe Faktum dokumentiert ist (Nr. 1, 2020).

    Wie dort Erika Steinbach (Ex-CDU) erläutert, startete man „nicht ohne Grund mit dem elementarsten Thema jedweder Demokratie“, denn die rechte Partei wie ihre Stiftung sehen die Bürger und Bürgerinnen im Lande von lauter Denk- und Sprachverboten umstellt. Ein Zustand, dem die AfD mit ihrer Gründung entschieden den Kampf angesagt hat.

    Schon im Grundsatzprogramm von 2016 hieß es:

    Heimlicher Souverän ist eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien … ein politisches Kartell, das die Schalthebel der staatlichen Macht, die gesamte politische Bildung und große Teile der Versorgung der Bevölkerung mit politischen Informationen in Händen hat.

    „Lügenpresse“ eben, wie dann die griffige Parole am Stammtisch und auf der Straße lautete. Medien- und bildungspolitisch fokussierte daher die Partei auf diese mächtigen Indoktrinations-Instrumente, um sie für ihre alternative Nationalerziehung selber in die Hände zu bekommen.

    Ganz im Sinne von Thilo Sarrazins Enthüllungen über den „neuen Tugendterror“ in Deutschland (so sein Bestseller von 2014) bekennt sich auch das AfD-Wahlprogramm 2021 in seinem medienpolitischen Teil zu „Meinungsfreiheit statt Tugendterror“ und zum Angriff auf die „Vormachtstellung“ des Establishments:

    Diffuse Vorstellungen von ‚politischer Korrektheit‘ ersticken die öffentliche Diskussion durch Sprach- und Denkverbote. Tatsachen werden verdreht und kontroverse Themen tabuisiert. Das Zusammenrücken der Altparteien zu einem politischen Meinungskartell hat die linke Dominanz im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und in privaten Mainstream-Medien verfestigt.

    AfD-Stiftung: mit Staatsknete gegen das „Meinungskartell“

    Gegen diese Vormachtstellung - deren Klartext bei Jair Bolsonaro, Steve Bannon oder Anders Behring Breivik, aber auch bei Alice Weidel oder Björn Höcke „Kulturmarxismus“ heißt - tritt die Partei seit 2018 zudem mit einer eigenen Stiftung an.

    Die Entscheidung zur Gründung der Desiderius-Erasmus-Stiftung fiel beim Parteitag in Augsburg, ungeachtet der Kritik an den „Kartellparteien“ und deren Finanzierungstricks über parteinahe Stiftungen. In der AfD wurde das Projekt zunächst kontrovers diskutiert.

    Konrad Adam, ehemaliger FAZ-Journalist und DES-Vorstandsmitglied, schrieb zur Gründung auf der DES-Homepage:

    Dass die parteinahen keine echten Stiftungen sind, sondern Geldsammeltöpfe, die in der Erwartung aufgestellt werden, vom Staat gefüllt zu werden, ist hinreichend bekannt. Durften oder sollten wir uns an diesen Goldfischzügen beteiligen?

    Die Frage ist mittlerweile geklärt. Die Partei darf, weil sie will, denn sie braucht das Geld und hat sogar mit einer Klage versucht, vorzeitig an die Finanzmittel zu kommen, die einer Partei nach parlamentarischem Brauch erst nach dem zweiten Einzug in den Bundestag zur Verfügung stehen. Bei der Bundestagswahl 2021 wird es daher ernst.

    Und die „Altparteien“ machen sich entsprechende Sorgen. Weit mehr als eine halbe Milliarde Euro bekamen nämlich in der vergangenen Legislaturperiode die sechs politischen Stiftungen, die von den im Bundestag vertretenen Parteien anerkannt sind.

    Wenn es bei der bisherigen Regelung bleibt, dürfte die AfD also nach derzeitigen Schätzungen (FAZ, 26.7.21) auf 50 bis 80 Millionen Euro aus Steuergeldern für ihre Stiftungsarbeit hoffen; von DES selber gab es die Forderung, dass ihr nach einer Abschlagszahlung im Jahr 2022 ab 2023 jährlich 14 Millionen Euro zufließen sollen (NZZ, 7.7.21).
    Gegen den „Deutschlandabschaffungskurs“

    Über die akademische Intelligenz, die die AfD mittlerweile eingesammelt hat und mit ihrer Stiftung bündeln will, gibt der Eröffnungsband Nachdenken für Deutschland der DES-Buchreihe Auskunft. „Deutschland verflüchtigt sich“, heißt dort der Schlussbeitrag des AfD-Philosophen Marc Jongen, in dem er Merkels „Deutschlandabschaffungskurs“ geißelt.1

    Dieser Kurs werde hierzulande von breiten Kreisen - zumindest da, wo das gesunde Volksempfinden noch intakt ist - als „Resultat einer gigantischen, gegen Deutschland und Europa gerichteten Verschwörung, die die systematische Zerstörung des historisch gewachsenen Nationalstaats zum Ziel hat“, wahrgenommen.

    Jongen kokettiert damit, dass man das in Deutschland eigentlich nicht mehr sagen darf, tritt aber als mutiger Anwalt des Volkes auf, der dessen Sorgen letztlich mit einer philosophischen Tiefenbohrung ernst nehmen will.

    Wichtig ist hier, dass Europa im gleichen Atemzug mit der Sorge um den Bestand Deutschlands genannt wird. Die Partei bekennt sich mit der Wahl ihres Stiftungspatrons entschieden zum christlichen Abendland. Die Bezugnahme auf „unser Europa“ ist dabei im Rechtsradikalismus nichts Ungewöhnliches.

    So gibt es mittlerweile ein Europäisches Parlament, in dem sich eine Internationale der Nationalisten tummelt, um gemeinsam gegen die europäische Integration anzutreten.

    Das geeinte Europa hat propagandistisch eben die doppelte Funktion: als Feindbild für die Unterdrückung der nationalen Identität seiner Völker zu dienen und zugleich als Bollwerk gegen die anstürmenden, mit abendländischen Werten ganz unvertrauten Massen geschätzt zu werden.

    Intellektuelle, die die AfD um sich und in ihrer Stiftung versammelt, haben es also nicht allein mit der vom rechten Lager als „Schuldkult“ geschmähten Vergangenheitsbewältigung in Sachen NS-Herrschaft zu tun.

    Beim DES-Kongress 2019 etwa trat der Medientheoretiker Norbert Bolz auf und unterhielt das Publikum mit den letzten Kalauern über den „Rotfunk WDR“, der mittlerweile „wie eigentlich das ganze öffentlich-rechtliche System“ zu einem „Grünfunk“ mutiert sei (Faktum, Nr. 1). O-Ton Bolz:

    Mir hat besonders gut der Tweet eines besonders intelligenten Menschen gefallen: ‚Alle elf Minuten verliebt sich ein Journalist in einen Grünen‘." Wahrlich, alternative Medientheorie, wie sie dem Land seit Langem fehlt!

    Die AfD lädt auch schon einmal einen akademischen Apologeten des europäischen Kolonialismus in den Bundestag ein, um die Meisterleistungen des christlichen Abendlandes bei der Ausplünderung der Dritten Welt hochleben zu lassen.

    Wenn die Stiftung gemäß der Parteilinie also endlich die Tabus darüber, was man hierzulande über das Ausland und die Ausländer sagen darf, bricht oder die deutsche Erinnerungskultur – mit der angesagten Kehrtwende um 180 Grad – renoviert, dann bietet sich ihr ein breites Betätigungsfeld: Von der Kolonialära und dem Ersten Weltkrieg, zu dem die Stiftung 2018 ihren ersten Kongress veranstaltete, bis zum modernen Globalismus gilt es, das Deutschtum wieder ins Recht zu setzen.
    Beispiel AfD-Stiftung Wie lässt sich Extremismus verhindern?

    Nun gibt es Überlegungen der etablierten Parteien, mit einer Art Extremismusklausel die Finanzierung von Desiderius-Erasmus nach der Bundestagswahl zu verhindern. Eine zivilgesellschaftliche Variante, die vorgeschlagen wurde, wäre dagegen die Evaluierung der Stiftungsarbeit (nicht nur von DES) durch eine unabhängige Wissenschaftler-Kommission.

    Dabei würde deren Kurs allerdings ganz davon abhängen, wer vom Innen- oder Bildungsministerium in die Kommission berufen wird.

    Oder es kommt ein „Demokratieförderungsgesetz“, das gleich alle meinungsbildenden Aktivitäten in der Zivilgesellschaft unter einen Extremismus-Vorbehalt stellt, soweit öffentliche Mittel tangiert sind.

    Aber das kann ja schnell der Fall sein, wenn sich eine Initiative in einer Uni, einem Bürgerzentrum oder einer Volkshochschule trifft.

    Nur muss man sich hier über eins im Klaren sein: Wenn die öffentliche Hand mit dem Extremismus-Hammer zuschlägt, steht fest, was folgt.

    Dann geraten auch und gerade linke, linksliberale oder radikaldemokratische Aktivitäten ins Visier. Dann fallen mit Sicherheit Versuche, die Legitimität staatlicher Maßnahmen zu bezweifeln oder die bundesdeutsche „Klassengesellschaft“ zu kritisieren, unter das Extremismus-Verdikt. Dann zählt nur noch explizite Staatstreue.

    Und die rechten Alternativdeutschen hätten dann gleich wieder einen Beweis, dass in Deutschland ein Meinungskartell der Regierenden die Bühne beherrscht.

    Der Treppenwitz dabei ist: Die offizielle Linie der Bundesregierung, die dem Marxismus in Medien und öffentlicher Meinungsbildung den Kampf angesagt hat, stimmt inhaltlich mit dem rechten Feindbild vom „Kulturmarxismus“ voll überein.

    Natürlich sehen Innenminister Horst Seehofer (CSU) und sein Staatssekretär Günter Krings die Gefahr nicht bei den Mainstream-Medien, die von Thilo Sarrazin, Hans-Georg Maaßen oder Björn Höcke ins Visier genommen werden, sondern bei der Restlinken, bei Armutsforschern oder Neoliberalismus-Kritikern.

    Aber wenn die staatlich beauftragten Extremismusforscher ans Werk gehen, ist das Ergebnis programmiert: dass nämlich marxistische Theorie im öffentlichen Diskurs nichts verloren hat, also da, wo sie sich Gehör verschafft, ausgegrenzt werden muss.

    Statt nach mehr Anti-Extremismus zu rufen, sollte man besser den deutschen Nationalismus in all seinen Varianten kritisieren, ob er nun mit Europäisierungs- oder Globalisierungs-Rhetorik auftritt oder sich stiftungsmäßig auf glühende Antikommunisten wie Konrad Adenauer, Friedrich Ebert oder einen Pionier des deutschen Militarismus und Imperialismus wie Friedrich Naumann beruft.

    In den Club passt die Desiderius-Erasmus-Stiftung bestens hinein.

    Progrmme de l’AfD
    https://www.alternativefuer.de/programm

    #Allemagne #nazis #extrême_droite

  • Die Linke und Afghanistan: Friedenspolitik am Pissoir
    https://www.heise.de/tp/features/Die-Linke-und-Afghanistan-Friedenspolitik-am-Pissoir-6172662.html?seite=all


    Vergangene Zeiten? Linken-Fraktion bei Protest nach Bombenangriff in Kundus. Bild: dielinke_sachsen, CC BY 2.0

    24. August 2021, von Harald Neuber -
    Bundestag soll bewaffnete Evakuierung in Kabul nachträglich bewilligen. Linke könnten erstmals nicht geschlossen dagegen stimmen. Das sorgt für Debatten

    Kurz vor einer Abstimmung im Bundestag über ein nachträgliches Bundeswehrmandat für die bereits angelaufene Evakuierung sogenannter Ortskräfte aus Afghanistan ist in der Linkspartei ein Streit um die Abstimmungsempfehlung der Parteiführung an die Fraktion entbrannt.

    Denn während die Partei auf zwei Plakaten mit dem Schlagwort „Frieden“ um die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger am 26. September wirbt, sollen die 69 Abgeordneten am Mittwoch erstmals nicht gegen einen robusten, also bewaffneten Einsatz der Bundeswehr stimmen, bei dem auch das von Rechtsradikalen infiltrierte Kommando Spezialkräfte entsandt werden soll.

    Die Empfehlung geht auf eine mehrstündige Videokonferenz des Parteivorstandes der Sozialisten am Sonntag zurück. Dabei hatten sich Realos wie der Abrüstungsexperte und ehemalige Bundestagsabgeordnete Jan van Aken durchgesetzt und mit dem bisherigen Konsens, Auslandseinsätze der Bundeswehr abzulehnen, gebrochen. In der Fraktion sorgt das nun für erhebliche Unruhe. Am heutigen Dienstagnachmittag soll es bei einer Fraktionssitzung zur Aussprache kommen.

    Bei der wöchentlichen Pressekonferenz im Karl-Liebknecht-Haus, der Parteizentrale der Linken in Berlin, hatte Parteivorsitzende Janine Wisseler die Beschlussempfehlung am Montag verteidigt. Die bisherigen Evakuierungsmaßnahmen würden katastrophal umgesetzt, so Wisseler: „Deshalb halten wir eine Enthaltung für einen gangbaren Weg.“

    Zuvor hatten Realos in verschiedenen Alternativ- und Änderungsanträgen für den Parteivorstand die Option, gegen das Mandat zustimmen, unterlaufen. In einem ausführlichen Papier plädierte etwa der Bundesgeschäftsführer der Linken, Jörg Schindler, ausdrücklich für den „militärischen Schutz der Evakuierung“.

    Man stehe für die Rettung der Ortskräfte und ihrer Familien vor Ort ein, argumentierte Schindler, beanstande aber, „wie spät sie erfolgt und dass sie höchstwahrscheinlich zu wenige erreichen könnte“. Die Vermeidung einer Ablehnung war Schindler wichtig. Er insistierte: „Damit stimmen wir nicht gegen das Mandat für den militärischen Schutz der Evakuierung.“
    Von Enthaltung zu „Zustimmung unter Bedingung“
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    In einer weiteren Vorlage nahm van Aken den Ball auf und kritisierte Schindler in der Form seines Antrags, nicht aber in der Sache.

    Seine Empfehlung geht sogar einen Schritt weiter und fordert von den Abgeordneten eine „Zustimmung unter der Bedingung, dass die Evakuierung ausschließlich in Absprache mit den Taliban erfolgt und wenn alle Ortskräfte und alle Menschenrechtsaktivist:innen gleichberechtigt mit gerettet werden sollen“. Sollte nur eine Evakuierung „fast nur für Deutsche“ angestrebt bleiben, „empfehlen wir Enthaltung“.

    Mitunter nahm die Debatte skurrile Züge an. Ein Parteivorstandsmitglied schlug vor, die Abgeordneten sollten sich einer Positionierung gänzlich entziehen und den Plenarsaal verlassen. Man könne ja vorgeben, auf Toilette zu gehen, um dort Parolen an den Wänden zu hinterlassen, habe der Politiker nach Informationen aus Parteikreisen in einem internen Verteiler geschrieben.

    Antimilitarismus am Pissoir: Einige Linke werden einen Monat vor der Bundestagswahl auf bizarre Weise kreativ.

    Vor der Fraktionssitzung am heutigen Dienstag werben Befürworter der antimilitaristischen Position in einem eigenen Beschlussantrag unter dem Titel „Evakuierung jetzt – NATO-Intervention in Afghanistan konsequent beenden“ für die Beibehaltung der bisherigen Linie.

    Darin verweisen mehr als ein Dutzend Abgeordnete der Linken auf die negativen Folgen westlicher Militäreinsätze in Afghanistan. Auch die Bundeswehr habe viele zivile Tote zu verantworten, heißt es in einem Entwurf.

    So seien am 4. September 2009 im nordafghanischen Kundus bei einem Luftangriff, der von einem deutschen Oberst ausgelöst worden war, 142 Menschen ums Leben gekommen, mehrheitlich Zivilisten.

    „Die zentrale Lehre aus dieser Entwicklung muss darin bestehen, künftig nicht mehr die Bundeswehr in solche Einsätze zu schicken, sondern sie allein auf die Landesverteidigung auszurichten. Die Bundeswehr muss aus allen Auslandseinsätzen zurückgezogen werden“, heißt es in dem Antrag.
    Politischer Druck durch angestrebte Regierungsbeteiligung

    Die Debatte in der Linken ist ein Ausdruck des Anpassungsdruckes, unter den einige Akteure Partei und Fraktion setzen. Denn vor allem von sozialdemokratischer Seite wird die bedingungslose Ablehnung von Bundeswehreinsätzen immer wieder als Hindernis für ein gemeinsames Regierungsprojekt auf Bundesebene angeführt.

  • Einander wieder begegnen
    https://www.heise.de/tp/features/Einander-wieder-begegnen-6165764.html?seite=all

    A16.8.2021 von Andreas von Westphalen - In der Corona-Krise droht ein Verlust der Mitmenschlichkeit. Insbesondere auch, weil einige fundamentale Fehlannahmen über die Natur des Menschen herrschen

    Ein kurzes Gespräch mit einem Fremden, eine kurze Begrüßung des Busfahrers, ein Plausch mit einem Verkäufer, ein netter Dank, ehrlich gemeinte gute Wünsche an einen Unbekannten, eine flüchtige Diskussion in einem Café. Kurze soziale Interaktionen sind mehr oder minder häufig im Leben. Aber welche Bedeutung haben solche Begegnungen, die meist sehr kurzer Natur sind für das menschliche Leben? Für das Wohlbefinden?
    Eine kleine Wohltat

    Bei einem Experiment wurden die Probanden bei Busfahrten aufgeteilt, entweder sich mit einem Nachbarn auf der Fahrt zu unterhalten, jeden Kontakt zu vermeiden oder sich so zu verhalten, wie sie dies gewöhnlich tun. Das Ergebnis: Menschen, die durch das Experiment gezwungen waren, ihnen unbekannte Nachbarn auf der Busfahrt anzusprechen, fühlten sich anschließend besser.

    Das Experiment wurde vor zwei Jahren in leicht abgewandelter Form wiederholt. Mit dem gleichen Ergebnis. In einem weiteren Experiment, bei dem Probanden einen ihnen unbekannten Barista in einem Café wie einem guten Bekannten begegnen sollten (Blickkontakt, Lächeln, ein kurzes Gespräch) bestätigte sich einmal mehr: Diese Art der kurzen Interaktionen steigerte das Wohlbefinden.

    Ein aktuelles Experiment mit dem vielsagenden Titel „Minimal Social Interactions with Strangers Predict Greater Subjective Well-Being“ konnte denselben positiven Effekt sogar bei nur sehr flüchtigen Begegnungen feststellen, die nur aus Begrüßung und Dank bestehen. Die beiden Forscher Paul van Lange und Simon Columbus von den Universitäten Amsterdam und Kopenhagen betonen in ihrem Forschungsüberblick, dass schon ein kurzes Gespräch mit Unbekannten das Wohlbefinden erhöht:

    Das zeigt sich bei Interaktionen mit Busfahrern, anderen Pendlern in Bus oder Bahn, mit der Person hinter der Theke, die den Kaffee verkauft oder auch mit anderen Versuchspersonen in einem Experiment.
    Paul van Lange und Simon Columbus

    Aus dem Gesagten folgt die wichtige Erkenntnis, dass nicht nur das enge soziale Umfeld der Freunde, sondern auch das erweiterte soziale Umfeld wie Bekannte einen großen Einfluss auf das Wohlergehen der Menschen hat.

    Die Wirtschaftswissenschaftlerin Noreena Hertz erklärt das Potential dieser allzu häufig übersehenen menschlichen Fähigkeit:

    Indem wir anderen freundlich begegnen oder auch nur für einen kurzen Augenblick selbst Freundlichkeit erfahren, erinnern wir uns daran, was wir miteinander gemein haben, an unser gemeinsames Menschsein - und fühlen uns dadurch weniger allein.
    Noreena Hertz

    Oder etwas freier nach Antoine de Saint-Exupéry: „Ein Lächeln ist oft das Wesentliche. Man wird mit einem Lächeln bezahlt. Man wird mit einem Lächeln belohnt. Man wird durch ein Lächeln belebt.“
    Fundamentale Fehleinschätzung

    So eindeutig das Ergebnis der verschiedenen Experimente ist, dass die kleinen Freundlichkeiten im Alltag das eigene Wohlbefinden steigern, so eindeutig täuschten sich die Probanden fast aller Experimente in ihrer Einschätzung.

    Befragt danach, wie sie sich fühlen würden, wenn sie eine unbekannte Person ansprechen müssten, gaben die große Mehrheit an, sie würden davon ausgehen, sich besser zu fühlen, wenn sie in ihrer gewohnten sozialen Isolation verharren dürften und keine Begegnung mit einem unbekannten Menschen erleben würden.

    Einzig in einem Experiment gingen die Probanden davon aus, dass die Begegnung mit einem Unbekannten das eigene Wohlbefinden steigere. Dennoch offenbarte sich auch hier eine grundlegende Fehleinschätzung, denn die Menschen waren davon überzeugt, dass die Begegnung weniger erfreulich sein werde, als sie sie dann schlussendlich erlebten, weil sie annahmen, die unbekannte Person würde kein Interesse an einem Gespräch haben.

    Damit endet jedoch nicht die Reihe der weitverbreiteten Fehlannahmen. So schätzen Menschen auch oftmals die eigene Ausstrahlung falsch ein. Das Ergebnis einer Studie:

    Wir fanden heraus, dass die Menschen nach einem Gespräch systematisch unterschätzten, wie sehr ihre Gesprächspartner sie mochten und ihre Gesellschaft genossen, eine Illusion, die wir als „Sympathielücke“ (liking gap) bezeichnen. (…) Unsere Studien deuten darauf hin, dass Menschen nach Gesprächen mehr gemocht werden, als sie wissen.
    Erica J. Boothby et al.

    Gerade diese Fehlannahme ist umso erstaunlicher, als dass Menschen oftmals dazu tendieren, ihre eigenen Fähigkeiten, wie beispielsweise Autofahren, zu überschätzen. Ihre sozialen Fähigkeiten hingegen unterschätzen sie grundsätzlich massiv.
    Menschen meiden Mitmenschen

    Die Folge dieser direkt miteinander zusammenhängenden Fehlannahmen über die menschliche Natur und damit darüber, was das eigene Wohlbefinden fördert, ist traurigerweise die Vermeidung genau dessen, was uns guttut und der sozialen Natur des Menschen entspricht: der soziale Kontakt. Das Miteinander. Die Verbundenheit auch in den kleinen Augenblicken des Alltags.

    Besonders bedauerlich: Das Vergnügen an menschlichen Kontakten und die Steigerung des Wohlbefindens durch eine kurze freundliche Begegnung ist ansteckend. Denn nicht nur die Probanden fühlten sich nach den Begegnungen mit den Unbekannten wohler, sondern auch die Menschen, die unverhofft angesprochen wurden.
    Der Mitmensch ist nicht die Bedrohung

    So nachvollziehbar auf den ersten Blick der seit Beginn der Corona-Krise warnende Fingerzeig in Richtung des Mitmenschen ist, der ein potentieller Infektionsträger sein könnte, und so logisch die Forderung nach sozialer Distanzierung erscheint, so bedenklich sind zugleich seine Nebenwirkungen.

    Eine deutliche Reduzierung der sozialen Interaktionen und der Nähe zu Mitmenschen mag für viele vielleicht ein leicht zu verschmerzender Einschnitt sein, denn er entspricht ja genau der Tendenz, die sich in den zahlreichen Experimenten zeigt: lieber den Abstand zum Mitmenschen halten, lieber kein Gespräch anfangen, lieber keine unbekannte Person freundlich begrüßen oder sich bedanken, anstatt sich „der Gefahr“ einer Begegnung aussetzen. Aber genau hier liegt die Krux.

    Die meisten Menschen realisieren nicht, dass eine Begegnung meistens eine Interaktion darstellt, die ihnen (und dem Angesprochenen) guttut, weil sie auch den Wunsch der Menschen unterschätzen, angesprochen zu werden, ebenso wie die eigenen sozialen Fähigkeiten sowie ihre Wirkung auf den Mitmenschen.

    Genau deshalb wird so leichthin ein wichtiger Teil dessen aufgegeben, was der Natur des Menschen entspricht und dem Menschen wohl tut. Anstatt sich auf die Kraft der sozialen Interaktionen, der Begegnungen, kurz der Mitmenschlichkeit zu besinnen, die nachgewiesenermaßen ein Balsam für die Seele ist.

    Noreena Hertz bezeichnet bereits die Epoche unmittelbar vor der Corona-Krise als „einsamstes Jahrhundert seit Menschengedenken“. Einsamkeit ist dabei ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und es gilt zu bedenken: Einsamkeit reduziert die Empathie, senkt das Vertrauen und steigert feindseliges Verhalten.

    Im Hinblick auf die gegenwärtige Situation der sozialen Distanzierung gibt Hertz in ihrem brillanten Buch „Das Zeitalter der Einsamkeit“ zu bedenken:

    Die Gefahr des kontaktlosen Zeitalters ist, dass wir uns immer weniger kennen, uns immer weniger miteinander verbunden fühlen und uns so die Wünsche und Bedürfnisse unserer Mitmenschen immer gleichgültiger werden.
    Noreena Hertz

    Es bestätigt sich hier einmal mehr, wie sehr der Mensch ein soziales Wesen ist und welche Gefahr darin besteht diese Erkenntnis zu vergessen. Es droht der Verlust der Mitmenschlichkeit. Der Verlust des Miteinanders.

    Hertz fragt daher eindringlich:

    Werden wir nicht unweigerlich immer einsamer, je mehr der Mensch aus unseren alltäglichen Transaktionen verbannt wird? Wenn unser reges Stadtleben nicht mehr durch Small Talk an der Kasse oder Geplänkel mit dem Barkeeper unterbrochen wird, wenn wir im Take-away-Restaurant nicht mehr das freundliche Gesicht der Person hinter der Theke sehen, die unser Sandwich zubereitet, oder das ermutigende Lächeln unserer Yogalehrer, wenn uns unser erster Handstand gelingt?

    Wenn wir die Vorzüge all dieser Mikrointeraktionen verlieren, von denen wir mittlerweile wissen, dass sie uns ein Gefühl der Verbundenheit mit unserer Umwelt vermitteln, ist es dann nicht unvermeidlich, dass wir uns immer isolierter und abgeschnittener fühlen?
    Noreena Hertz

    Medikament ohne Nebenwirkungen

    „Unsere Gesundheit wird allem Anschein nach nicht nur durch Gemeinschaft und ein Gefühl gegenseitiger Verbundenheit beeinflusst, sondern auch durch Freundlichkeit - unter Freunden und Familie, Kollegen, Arbeitgebern und Nachbarn, aber auch unter Fremden. Das müssen wir beim Wiederaufbau unserer Welt nach Corona bedenken - und auch, dass Freundlichkeit im neoliberalen Kapitalismus zu einer Währung wurde, zu deren Abwertung wir alle beigetragen haben“, gibt Hertz zu bedenken.

    Gerade in der gegenwärtigen Krise, die die Menschen voneinander sozial distanziert und das Gefühl für das Miteinander und die Gemeinschaft sehr schnell verloren gehen kann, ist es existentiell wichtig, sich auf die kleinen alltäglichen Augenblicke von Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit zu besinnen. Zum eigenen Wohl. Zum Wohle des Mitmenschen und nicht zuletzt auch zum Wohl der Gemeinschaft.

    Gerade jetzt muss die Bedeutung der täglichen und alltäglichen Begegnungen in ihrer mitmenschlichen Dimension wieder entdeckt und gelebt werden.
    Polarisierung in einer zerfaserten Welt und Gegengift

    In der derzeitig hochpolarisierten Welt besteht die eklatante Gefahr des dauerhaften Auseinanderbrechens der Gesellschaft. Wir leben in einer Welt, in der die verschiedenen Filterblasen längst auch in der analogen Welt angekommen sind, und die Abwertung der Gegengruppe in „Cofaschisten“ bzw. „Covididioten“ längst zum Umgangston gehört. Selten war Bastian Berbners Frage berechtigter:

    „Wann haben Sie zuletzt mit jemandem gesprochen, der ganz anders war als Sie oder wenigstens ganz anderer Meinung?“

    In einer Welt, in der unterschiedliche Gesellschaftsfragmente auseinandertreiben und Menschen massiv vereinzeln, ist es daher umso wichtiger, den Mitmenschen wiederzufinden. Das offene Gespräch mit einem Unbekannten spielt hierbei eine besondere Rolle. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem Zuhören, dem Wunsch, den anderen Menschen kennenzulernen. Eine solche Gesprächskultur, bei der man bereit ist, etwas zu lernen und nicht gewillt, Recht zu behalten, erscheint notwendiger denn je.

    „Das Miteinander-Reden und Miteinander-Streiten ohne falsche Harmonieerwartung ist in einer Demokratie tatsächlich alternativlos,“ schreiben Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun in „Die Kunst des Miteinander-Redens“. Sie geben noch einen wichtigen Ratschlag, den man sich zu Herzen nehmen sollte, gerade wenn man die Bedeutung von Begegnungen verstanden hat:

    An die Stelle des Wahrheitsdisputs tritt also die Anstrengung des Verstehens. Nicht die Widerlegung ist das erste Ziel des Miteinander-Redens, sondern das Erkennen des Anderen in seiner Andersartigkeit, vielleicht auch Fremdheit. (…) Harte Konflikte können nur in einer Gesprächs- und Kommunikationskultur gelöst werden, die verschiedene Teilwahrheiten würdigt, unterschiedliche Positionen gelten lässt und diese dann in gemeinsamem Ringen zusammenführt.
    Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun

    Wo bitte gehts zur Agora?

    Der Verlust an Begegnungen hat gravierende gesellschaftliche Konsequenzen. Insbesondere in einer Zeit in der aufgrund der neuen Verordnungen an vielen öffentlichen Orten und typischen Begegnungsstätten keine oder kaum mehr Begegnungen zwischen Menschen stattfinden können, die unterschiedliche Meinungen zur Impfung haben.

    So kann es kaum noch zum Austausch Andersdenkender kommen, der aber für die Demokratie so existentiell notwendig ist. Es ist kein Zufall, dass die Agora, der zentrale Platz im antiken Athen, so eine bedeutende Rolle der Polis für die griechische Demokratie gespielt hat.

    Betrachtet man also insgesamt die Gefahr des massiven Rückgangs der täglichen und alltäglichen Begegnungen, so folgt daraus auch eine weitere politische Gefahr: Wie soll Solidarität gelebt und das Gemeinwohl aktiv verfolgt werden, wenn die Menschen - auch gerade in ihrer Unterschiedlichkeit - sich deutlich weniger begegnen?
    Notwendige Wiederentdeckung

    Ein offenes Gespräch. Freundlichkeit. Kurz Mitmenschlichkeit. Das sind zentrale Heilmittel für eine massiv polarisierte Gesellschaft. Und Grundpfeiler gerade im Hinblick auf eine positive Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft.

    Hertz schlussfolgert zu Recht: „Das Gegenmittel für dieses Zeitalter der Einsamkeit kann letztlich nur darin bestehen, dass wir für andere da sind - ganz gleich, wer diese anderen sind. Nicht weniger ist gefragt, wenn wir wieder die Verbindung zueinander aufbauen wollen in dieser zerfaserter Welt.“

    Die Wiederentdeckung des Mitmenschen, der Begegnungen, ist heute wichtiger denn je.

  • Einander wieder begegnen
    https://www.heise.de/tp/features/Einander-wieder-begegnen-6165764.html?seite=all

    A16.8.2021 von Andreas von Westphalen - In der Corona-Krise droht ein Verlust der Mitmenschlichkeit. Insbesondere auch, weil einige fundamentale Fehlannahmen über die Natur des Menschen herrschen

    Ein kurzes Gespräch mit einem Fremden, eine kurze Begrüßung des Busfahrers, ein Plausch mit einem Verkäufer, ein netter Dank, ehrlich gemeinte gute Wünsche an einen Unbekannten, eine flüchtige Diskussion in einem Café. Kurze soziale Interaktionen sind mehr oder minder häufig im Leben. Aber welche Bedeutung haben solche Begegnungen, die meist sehr kurzer Natur sind für das menschliche Leben? Für das Wohlbefinden?
    Eine kleine Wohltat

    Bei einem Experiment wurden die Probanden bei Busfahrten aufgeteilt, entweder sich mit einem Nachbarn auf der Fahrt zu unterhalten, jeden Kontakt zu vermeiden oder sich so zu verhalten, wie sie dies gewöhnlich tun. Das Ergebnis: Menschen, die durch das Experiment gezwungen waren, ihnen unbekannte Nachbarn auf der Busfahrt anzusprechen, fühlten sich anschließend besser.

    Das Experiment wurde vor zwei Jahren in leicht abgewandelter Form wiederholt. Mit dem gleichen Ergebnis. In einem weiteren Experiment, bei dem Probanden einen ihnen unbekannten Barista in einem Café wie einem guten Bekannten begegnen sollten (Blickkontakt, Lächeln, ein kurzes Gespräch) bestätigte sich einmal mehr: Diese Art der kurzen Interaktionen steigerte das Wohlbefinden.

    Ein aktuelles Experiment mit dem vielsagenden Titel „Minimal Social Interactions with Strangers Predict Greater Subjective Well-Being“ konnte denselben positiven Effekt sogar bei nur sehr flüchtigen Begegnungen feststellen, die nur aus Begrüßung und Dank bestehen. Die beiden Forscher Paul van Lange und Simon Columbus von den Universitäten Amsterdam und Kopenhagen betonen in ihrem Forschungsüberblick, dass schon ein kurzes Gespräch mit Unbekannten das Wohlbefinden erhöht:

    Das zeigt sich bei Interaktionen mit Busfahrern, anderen Pendlern in Bus oder Bahn, mit der Person hinter der Theke, die den Kaffee verkauft oder auch mit anderen Versuchspersonen in einem Experiment.
    Paul van Lange und Simon Columbus

    Aus dem Gesagten folgt die wichtige Erkenntnis, dass nicht nur das enge soziale Umfeld der Freunde, sondern auch das erweiterte soziale Umfeld wie Bekannte einen großen Einfluss auf das Wohlergehen der Menschen hat.

    Die Wirtschaftswissenschaftlerin Noreena Hertz erklärt das Potential dieser allzu häufig übersehenen menschlichen Fähigkeit:

    Indem wir anderen freundlich begegnen oder auch nur für einen kurzen Augenblick selbst Freundlichkeit erfahren, erinnern wir uns daran, was wir miteinander gemein haben, an unser gemeinsames Menschsein - und fühlen uns dadurch weniger allein.
    Noreena Hertz

    Oder etwas freier nach Antoine de Saint-Exupéry: „Ein Lächeln ist oft das Wesentliche. Man wird mit einem Lächeln bezahlt. Man wird mit einem Lächeln belohnt. Man wird durch ein Lächeln belebt.“
    Fundamentale Fehleinschätzung

    So eindeutig das Ergebnis der verschiedenen Experimente ist, dass die kleinen Freundlichkeiten im Alltag das eigene Wohlbefinden steigern, so eindeutig täuschten sich die Probanden fast aller Experimente in ihrer Einschätzung.

    Befragt danach, wie sie sich fühlen würden, wenn sie eine unbekannte Person ansprechen müssten, gaben die große Mehrheit an, sie würden davon ausgehen, sich besser zu fühlen, wenn sie in ihrer gewohnten sozialen Isolation verharren dürften und keine Begegnung mit einem unbekannten Menschen erleben würden.

    Einzig in einem Experiment gingen die Probanden davon aus, dass die Begegnung mit einem Unbekannten das eigene Wohlbefinden steigere. Dennoch offenbarte sich auch hier eine grundlegende Fehleinschätzung, denn die Menschen waren davon überzeugt, dass die Begegnung weniger erfreulich sein werde, als sie sie dann schlussendlich erlebten, weil sie annahmen, die unbekannte Person würde kein Interesse an einem Gespräch haben.

    Damit endet jedoch nicht die Reihe der weitverbreiteten Fehlannahmen. So schätzen Menschen auch oftmals die eigene Ausstrahlung falsch ein. Das Ergebnis einer Studie:

    Wir fanden heraus, dass die Menschen nach einem Gespräch systematisch unterschätzten, wie sehr ihre Gesprächspartner sie mochten und ihre Gesellschaft genossen, eine Illusion, die wir als „Sympathielücke“ (liking gap) bezeichnen. (…) Unsere Studien deuten darauf hin, dass Menschen nach Gesprächen mehr gemocht werden, als sie wissen.
    Erica J. Boothby et al.

    Gerade diese Fehlannahme ist umso erstaunlicher, als dass Menschen oftmals dazu tendieren, ihre eigenen Fähigkeiten, wie beispielsweise Autofahren, zu überschätzen. Ihre sozialen Fähigkeiten hingegen unterschätzen sie grundsätzlich massiv.
    Menschen meiden Mitmenschen

    Die Folge dieser direkt miteinander zusammenhängenden Fehlannahmen über die menschliche Natur und damit darüber, was das eigene Wohlbefinden fördert, ist traurigerweise die Vermeidung genau dessen, was uns guttut und der sozialen Natur des Menschen entspricht: der soziale Kontakt. Das Miteinander. Die Verbundenheit auch in den kleinen Augenblicken des Alltags.

    Besonders bedauerlich: Das Vergnügen an menschlichen Kontakten und die Steigerung des Wohlbefindens durch eine kurze freundliche Begegnung ist ansteckend. Denn nicht nur die Probanden fühlten sich nach den Begegnungen mit den Unbekannten wohler, sondern auch die Menschen, die unverhofft angesprochen wurden.
    Der Mitmensch ist nicht die Bedrohung

    So nachvollziehbar auf den ersten Blick der seit Beginn der Corona-Krise warnende Fingerzeig in Richtung des Mitmenschen ist, der ein potentieller Infektionsträger sein könnte, und so logisch die Forderung nach sozialer Distanzierung erscheint, so bedenklich sind zugleich seine Nebenwirkungen.

    Eine deutliche Reduzierung der sozialen Interaktionen und der Nähe zu Mitmenschen mag für viele vielleicht ein leicht zu verschmerzender Einschnitt sein, denn er entspricht ja genau der Tendenz, die sich in den zahlreichen Experimenten zeigt: lieber den Abstand zum Mitmenschen halten, lieber kein Gespräch anfangen, lieber keine unbekannte Person freundlich begrüßen oder sich bedanken, anstatt sich „der Gefahr“ einer Begegnung aussetzen. Aber genau hier liegt die Krux.

    Die meisten Menschen realisieren nicht, dass eine Begegnung meistens eine Interaktion darstellt, die ihnen (und dem Angesprochenen) guttut, weil sie auch den Wunsch der Menschen unterschätzen, angesprochen zu werden, ebenso wie die eigenen sozialen Fähigkeiten sowie ihre Wirkung auf den Mitmenschen.

    Genau deshalb wird so leichthin ein wichtiger Teil dessen aufgegeben, was der Natur des Menschen entspricht und dem Menschen wohl tut. Anstatt sich auf die Kraft der sozialen Interaktionen, der Begegnungen, kurz der Mitmenschlichkeit zu besinnen, die nachgewiesenermaßen ein Balsam für die Seele ist.

    Noreena Hertz bezeichnet bereits die Epoche unmittelbar vor der Corona-Krise als „einsamstes Jahrhundert seit Menschengedenken“. Einsamkeit ist dabei ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und es gilt zu bedenken: Einsamkeit reduziert die Empathie, senkt das Vertrauen und steigert feindseliges Verhalten.

    Im Hinblick auf die gegenwärtige Situation der sozialen Distanzierung gibt Hertz in ihrem brillanten Buch „Das Zeitalter der Einsamkeit“ zu bedenken:

    Die Gefahr des kontaktlosen Zeitalters ist, dass wir uns immer weniger kennen, uns immer weniger miteinander verbunden fühlen und uns so die Wünsche und Bedürfnisse unserer Mitmenschen immer gleichgültiger werden.
    Noreena Hertz

    Es bestätigt sich hier einmal mehr, wie sehr der Mensch ein soziales Wesen ist und welche Gefahr darin besteht diese Erkenntnis zu vergessen. Es droht der Verlust der Mitmenschlichkeit. Der Verlust des Miteinanders.

    Hertz fragt daher eindringlich:

    Werden wir nicht unweigerlich immer einsamer, je mehr der Mensch aus unseren alltäglichen Transaktionen verbannt wird? Wenn unser reges Stadtleben nicht mehr durch Small Talk an der Kasse oder Geplänkel mit dem Barkeeper unterbrochen wird, wenn wir im Take-away-Restaurant nicht mehr das freundliche Gesicht der Person hinter der Theke sehen, die unser Sandwich zubereitet, oder das ermutigende Lächeln unserer Yogalehrer, wenn uns unser erster Handstand gelingt?

    Wenn wir die Vorzüge all dieser Mikrointeraktionen verlieren, von denen wir mittlerweile wissen, dass sie uns ein Gefühl der Verbundenheit mit unserer Umwelt vermitteln, ist es dann nicht unvermeidlich, dass wir uns immer isolierter und abgeschnittener fühlen?
    Noreena Hertz

    Medikament ohne Nebenwirkungen

    „Unsere Gesundheit wird allem Anschein nach nicht nur durch Gemeinschaft und ein Gefühl gegenseitiger Verbundenheit beeinflusst, sondern auch durch Freundlichkeit - unter Freunden und Familie, Kollegen, Arbeitgebern und Nachbarn, aber auch unter Fremden. Das müssen wir beim Wiederaufbau unserer Welt nach Corona bedenken - und auch, dass Freundlichkeit im neoliberalen Kapitalismus zu einer Währung wurde, zu deren Abwertung wir alle beigetragen haben“, gibt Hertz zu bedenken.

    Gerade in der gegenwärtigen Krise, die die Menschen voneinander sozial distanziert und das Gefühl für das Miteinander und die Gemeinschaft sehr schnell verloren gehen kann, ist es existentiell wichtig, sich auf die kleinen alltäglichen Augenblicke von Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit zu besinnen. Zum eigenen Wohl. Zum Wohle des Mitmenschen und nicht zuletzt auch zum Wohl der Gemeinschaft.

    Gerade jetzt muss die Bedeutung der täglichen und alltäglichen Begegnungen in ihrer mitmenschlichen Dimension wieder entdeckt und gelebt werden.
    Polarisierung in einer zerfaserten Welt und Gegengift

    In der derzeitig hochpolarisierten Welt besteht die eklatante Gefahr des dauerhaften Auseinanderbrechens der Gesellschaft. Wir leben in einer Welt, in der die verschiedenen Filterblasen längst auch in der analogen Welt angekommen sind, und die Abwertung der Gegengruppe in „Cofaschisten“ bzw. „Covididioten“ längst zum Umgangston gehört. Selten war Bastian Berbners Frage berechtigter:

    „Wann haben Sie zuletzt mit jemandem gesprochen, der ganz anders war als Sie oder wenigstens ganz anderer Meinung?“

    In einer Welt, in der unterschiedliche Gesellschaftsfragmente auseinandertreiben und Menschen massiv vereinzeln, ist es daher umso wichtiger, den Mitmenschen wiederzufinden. Das offene Gespräch mit einem Unbekannten spielt hierbei eine besondere Rolle. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem Zuhören, dem Wunsch, den anderen Menschen kennenzulernen. Eine solche Gesprächskultur, bei der man bereit ist, etwas zu lernen und nicht gewillt, Recht zu behalten, erscheint notwendiger denn je.

    „Das Miteinander-Reden und Miteinander-Streiten ohne falsche Harmonieerwartung ist in einer Demokratie tatsächlich alternativlos,“ schreiben Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun in „Die Kunst des Miteinander-Redens“. Sie geben noch einen wichtigen Ratschlag, den man sich zu Herzen nehmen sollte, gerade wenn man die Bedeutung von Begegnungen verstanden hat:

    An die Stelle des Wahrheitsdisputs tritt also die Anstrengung des Verstehens. Nicht die Widerlegung ist das erste Ziel des Miteinander-Redens, sondern das Erkennen des Anderen in seiner Andersartigkeit, vielleicht auch Fremdheit. (…) Harte Konflikte können nur in einer Gesprächs- und Kommunikationskultur gelöst werden, die verschiedene Teilwahrheiten würdigt, unterschiedliche Positionen gelten lässt und diese dann in gemeinsamem Ringen zusammenführt.
    Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun

    Wo bitte gehts zur Agora?

    Der Verlust an Begegnungen hat gravierende gesellschaftliche Konsequenzen. Insbesondere in einer Zeit in der aufgrund der neuen Verordnungen an vielen öffentlichen Orten und typischen Begegnungsstätten keine oder kaum mehr Begegnungen zwischen Menschen stattfinden können, die unterschiedliche Meinungen zur Impfung haben.

    So kann es kaum noch zum Austausch Andersdenkender kommen, der aber für die Demokratie so existentiell notwendig ist. Es ist kein Zufall, dass die Agora, der zentrale Platz im antiken Athen, so eine bedeutende Rolle der Polis für die griechische Demokratie gespielt hat.

    Betrachtet man also insgesamt die Gefahr des massiven Rückgangs der täglichen und alltäglichen Begegnungen, so folgt daraus auch eine weitere politische Gefahr: Wie soll Solidarität gelebt und das Gemeinwohl aktiv verfolgt werden, wenn die Menschen - auch gerade in ihrer Unterschiedlichkeit - sich deutlich weniger begegnen?
    Notwendige Wiederentdeckung

    Ein offenes Gespräch. Freundlichkeit. Kurz Mitmenschlichkeit. Das sind zentrale Heilmittel für eine massiv polarisierte Gesellschaft. Und Grundpfeiler gerade im Hinblick auf eine positive Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft.

    Hertz schlussfolgert zu Recht: „Das Gegenmittel für dieses Zeitalter der Einsamkeit kann letztlich nur darin bestehen, dass wir für andere da sind - ganz gleich, wer diese anderen sind. Nicht weniger ist gefragt, wenn wir wieder die Verbindung zueinander aufbauen wollen in dieser zerfaserter Welt.“

    Die Wiederentdeckung des Mitmenschen, der Begegnungen, ist heute wichtiger denn je.

  • Hochwasserkatastrophe : Die Aufgabe des Staates als « Ersatzversicherer »
    18. Juli 2021 Thomas Pany
    https://www.heise.de/tp/features/Hochwasserkatastrophe-Die-Aufgabe-des-Staates-als-Ersatzversicherer-6141242.ht

    On ne donne qu’au riches. Après les pluies diluviennes l’état allemand ne paiera que pour faire répsrer les dégats infrastructurels. Les aides aux citoyens seront l’affaire des assurances privées. Une grande partir des moins fortunés a perdu sa maison pour toujours parce qu’ils n’ont pas obtenu de contrst d"assurance pour leurs maisons.

    Les politiciens sont actuellement en train de faire des promesses aux sinistrés dont on ne réalisera qu’une partie après les élections de sptembre.

    Werden die vollmundigen Hilfsversprechen aus der Politik eingelöst? Finanzminister Scholz deutet 400 Millionen Euro Soforthilfe an
    ...
    Die Hoffnung der durch das aktuelle Jahrhunderthochwasser Geschädigten ist, dass die Hilfszusagen aus der Politik ernstgenommen werden können. Noch ist nicht klar, wie groß die Schäden ausfallen, doch werden große Hilfssummen und Rettungspakete zugesagt ganz ähnlich wie in der Corona-Krise. Dort haben nicht wenige allerdings erfahren müssen, dass die Versprechen nur die eine Hälfte der Geschichte sind. Die andere ist, ob und wie sei eingehalten werden.

    „An Geld und Bereitschaft zu helfen, wird es nicht fehlen“, versprach Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz am Freitag und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) machte gegenüber einer Sonntagszeitung ein ganz ähnliches Versprechen: „Klar ist: Es wird nicht am Geld scheitern. Wir lassen niemanden im Stich.“

    Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr wie auch der Grünen-Haushaltspolitiker Sven-Christian Kindler plädieren für einen Hilfsfond, der milliardenschwer sein sollte. Dürr denkt dabei an einen Aufbaufonds, wie er während des Hochwassers von 2013 aufgelegt wurde.

    „Die allerwenigsten Menschen hatten ausreichende Versicherungen“

    Doch gibt es seither auch das Bemühen, die Kosten im Katastrophenfall vom Staat auf Versicherungen zu verlagern. „Die allerwenigsten Menschen hatten ausreichende Versicherungen“, statuiert das ZDF beim Interview mit Olaf Scholz: „Manche Versicherungen zahlen auch gar nicht oder nehmen keine Verträge an in solchen Gebieten. Können Sie versprechen, dass diesen Menschen wieder geholfen wird, das wiederherzustellen, was bis gestern oder vorgestern war?“

    Der Finanzminister bleibt in seiner Antwort etwas vage. Man werde „alles tun, um allen zu helfen, die Hilfe brauchen“. Der Bund werde etwas auf den Weg bringen, um Ländern und Kommunen zu helfen. Man werde sich im Kabinett darüber verständigen und als Bund den Teil dazu beitragen, dass die Hilfe unbürokratisch vor Ort geleistet werde.

    Einer Sonntagszeitung gegenüber deutete Scholz eine Soforthilfe des Bundes von deutlich mehr als 300 Millionen Euro an: „Da wird jetzt sicher wieder so viel gebraucht.“

    „Erst teuer und irgendwann unbezahlbar“
    Die Schwierigkeit, mit der es die Hilfszahlungen zu tun haben, lässt sich exemplarisch im Fall Bayern in der Information der Regierung zu Staatshilfen und Elementarversicherung nachlesen:

    Nach schweren Naturkatastrophen hat die Bayerische Staatsregierung in der Vergangenheit mehrfach finanzielle Hilfen für betroffene Bürger und Unternehmen gewährt. Staatliche Hilfen bei Naturkatastrophen dürfen jedoch nicht dazu führen, dass bewusst vom Abschluss von Elementarschadenversicherungen abgesehen und stattdessen auf den Staat vertraut wird.

    Es ist nicht Aufgabe des Staates, als eine Art „Ersatzversicherer“ zu fungieren. Nicht zuletzt im Hinblick auf die sich ändernden und zunehmenden Naturgefahren ist es oberstes Ziel der Staatsregierung, die Versicherungsquote bei Elementarschäden signifikant zu erhöhen.

    Um diesem Bestreben Nachdruck zu verleihen, gewährt der Freistaat Bayern seit dem 1. Juli 2019 keine finanziellen Unterstützungen mehr in Form von Soforthilfen nach Naturkatastrophen. Unbeschadet davon bleiben Härtefallregelungen im Einzelfall.

    Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie
    ...
    Noch herrscht ein Zustand, der den Fokus der Helfer und die Betroffenen darauf richtet, die nächste Zeit gut zu überstehen. Wie wird es sein, wenn die Betroffenen auf die Einlösung der Hilfsversprechen, die Söder und Scholz wahrscheinlich in Aussicht stellen, drängen?

    [Nachtrag: Bei seinem Ortsbesuch in Bayern sprach Scholz von 400 Millionen Euro Soforthilfe. Nach der vorigen großen Flutkatastrophe sei dies nötig gewesen. Der Bund werde seinen Teil dazu beitragen, dass Bund und Länder gemeinsam auch dieses Mal eine solche Summe aufbringen.]

    Die Versicherungsbranche fürchtet, dass das aktuelle Jahr eines der schadenträchtigsten der jüngeren Vergangenheit wird.
    ...
    ... kritisiert den Bau von Häusern in Überschwemmungsgebieten und die weitgehende ungehinderte Versiegelung.
    ...
    Ergänzung: Nach Informationen der Frankfurter Rundschau hatte sich Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Armin Laschet 2019 der oben zitierten bayerischen Richtlinie angeschlossen und ist aus der unbürokratischen Soforthilfe ausgestiegen. Als Grund wird genannt: „steigende Ausgaben infolge immer rascher aufeinander folgender Katastrophen, welche mit erheblichen finanziellen Einbußen für die Landeskassen einhergingen“.

    Der unbürokratischen Soforthilfe „für alle“ habe Laschet auch in seiner aktuellen Hilfsankündigung vor wenigen Tagen Grenzen gesetzt. Für „Privatleute und Unternehmen“ sei sie lediglich in Härtefällen vorgesehen.

    "Zusätzlich sollen die Kommunen Strukturhilfen für den Wiederaufbau beschädigter Infrastruktur wie Straßen und Anlagen erhalten. Für alle anderen bleiben Steuerabschreibungen für den Wiederaufbau ihres Wohnraums und die Neuanschaffung von Kleidung und Hausrat (siehe auch „Katastrophenerlass“ NRW, Einf. d. A.). Das heißt: Wer genügend verdient, wird davon profitieren." FR
    ...

  • Altenpflege: Auch osteuropäischen Frauen steht Mindestlohn zu | Telepolis
    https://www.heise.de/tp/features/Altenpflege-Auch-osteuropaeischen-Frauen-steht-Mindestlohn-zu-6118456.html

    Mal sehen, was sich die Verleihfirmen nun ausdenken, um den Mindestlohn nicht zahlen zu müsen. Vermutlich werden sie vermehrt mit „Wegwerffirmen“, so genannten 18-Monats-GmbHs im Ausland arbeiten, um sich Lohnforderungen zu entziehen.

    25. Juni 2021 von Bernd Müller - „Paukenschlag“ des Bundesarbeitsgerichts: Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in der 24-Stunden-Pflege sind nicht zulässig. Sozialverbände „Tsunami“ für häusliche Pflege

    Lange Zeit funktionierte die Ausbeutung von osteuropäischen Frauen in der häuslichen Altenpflege reibungslos - das könnte nun ein Ende haben. Am Donnerstag fällte das Bundesarbeitsgericht in Erfurt ein Grundsatzurteil dazu. Einen „Paukenschlag für entsandte Beschäftigte“ nannte DGB-Bundesvorstandsmitglied Anja Piel das Urteil; denn das Gericht stellte fest: Den ausländischen Beschäftigten, die Senioren in ihren Wohnungen betreuen, stehe der gesetzliche Mindestlohn zu.

    Geklagt hatte eine nun 69-jährige Bulgarin. Seit 2013 war sie als Pflege- und Haushaltskraft in Privathaushalten zunächst in Koblenz und Bonn tätig; seit 2014 pflegte sie eine mehr 90-jährige Dame in deren Wohnung in einer Seniorenanlage in Berlin. Sie verdiente dabei 1.350 Euro brutto (950 Euro netto) im Monat zuzüglich eines Bonus‘ von 50 Euro.

    Bei einer Vergütung auf dem Niveau des damaligen Mindestlohnes von 8,50 Euro je Stunde entsprach das Arbeitsentgelt einer täglichen Arbeitszeit von sechs Stunden, wie es auch im Arbeitsvertrag geregelt war. Der Streit entbrannte sich aber an der realen Arbeitszeit, denn es ist ein lang bekanntes Problem: In der häuslichen Ganztagespflege sind geregelte Arbeitszeiten kaum möglich - die Beschäftigten müssen stets in Bereitschaft sein.

    Das vermittelnde Unternehmen hatte mit einer Klausel im Arbeitsvertrag versucht, das Risiko einer längeren Arbeitszeit auf die Beschäftigte abzuwälzen. Die Bulgarin musste sich verpflichten, keine Überstunden zu machen. Gleichzeitig wurde aber in den zum Arbeitsvertrag gehörenden Unterlagen festgehalten, dass es sich um eine „24-Stunden-Betreuung“ handle und Nachtwachen notwendig seien.

    Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg befand im August 2020, dass dieses Vorgehen „treuwidrig“ sei. Da eine umfassende Betreuung zugesagt worden sei, sei eine Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 30 Stunden nicht zulässig, und für das zugesagte Leistungsspektrum sei dies darüber hinaus auch unrealistisch. Das Gericht befand, dass die bulgarische Pflegerin stattdessen für eine tägliche Arbeitszeit von 21 Stunden zu entlohnen sei.

    Gegen dieses Urteil war die bulgarische Vermittlungsfirma mit einem Revisionsbegehren vorgegangen. Das Bundesarbeitsgericht entschied nun: „Auch Bereitschaftsdienstzeit ist mit dem vollen Mindestlohn zu vergüten“, so der Vorsitzende Richter Rüdiger Linck in der Verhandlung. Dabei machte er deutlich, dass Bereitschaftsdienst auch darin bestehen könne, dass die Pflegehilfe im Haushalt der Senioren wohnen müsse „und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit zu leisten“.

    Der verhandelte Fall sei kein Einzelfall, hatte Justyna Oblacewicz von der DGB-Initiative „Faire Mobilität“ im Dezember erklärt. Pro Jahr hätten sich etwa 400 Personen aus der häuslichen Ganztagespflege an die „Faire Mobilität“ gewandt.

    Wie viele Menschen in der häuslichen Ganztagespflege arbeiten, lässt sich nur schätzen - offizielle Zahlen darüber gibt es nicht. Zwischen 300.000 und 600.000 seien es schätzungsweise, sagte Oblacewicz; die meisten seien osteuropäische Frauen. „Ihre Verträge reichen in der Regel von wenigen Wochen bis zu drei Monaten, und in dieser Zeit leben sie meist auch in dem Haushalt der zu pflegenden Person.“ Ist die Zeit vorüber, kehren sie in ihre Heimat zurück und werden dann in einen neuen Haushalt vermittelt.

    VdK: Häuslicher Pflege droht „Armageddon“
    Während die Gewerkschaften das Urteil am Donnerstag begrüßten, verhielten sich Sozialverbände zurückhaltend gegenüber dem Richterspruch. „So nachvollziehbar die Entscheidung auch ist, das Urteil löst einen Tsunami aus für alle, die daheim auf die Unterstützung ausländischer Pflegekräfte angewiesen sind“, erklärte Eugen Brysch, Vorstand der Deutsche Stiftung Patientenschutz in Dortmund, gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa). Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, nach dem Urteil drohe der häuslichen Pflege ein „Armageddon“. Brysch betonte: „Hätten wir die ausländischen Pflegekräfte nicht, wäre die häusliche Pflege schon zusammengebrochen.“

    Ver.di: Modell „basiert auch systematischem Gesetzesbruch“
    Dagegen sprachen sowohl Gewerkschaften als auch die Bundestagsfraktion Die Linke von teilweise ausbeuterischen Zuständen. „Das Modell der sogenannten 24-Stunden-Pflege basiert auf systematischem Gesetzesbruch“, erklärte Silvia Bühler, Bundesvorstand der Dienstleitungsgewerkschaft ver.di. Wenn eine Beschäftigte die Versorgung eines pflegebedürftigen Menschen rund um die Uhr sicherstellen solle, könne das nicht mit legalen Dingen zugehen.

    Ob sich so schnell etwas an den Zuständen ändern wird, ist ungewiss. „Dickfellige Arbeitgeber und Vermittlungsagenturen setzen sich mit dem Angebot der rund-um-die-Uhr-Betreuung seit Jahren über geltendes Recht hinweg“, heißt es in einer Erklärung des DGB.

    Was für die Auftraggeber ein Sorglos-Paket ist und für Arbeitgeber und Vermittlungsagenturen eine Goldgrube, ist für die Beschäftigten pure Ausbeutung. Trotz 24-Stundentag mit Arbeit und Bereitschaft erhalten sie höchstens den Mindestlohn für acht Stunden - wenn überhaupt. Mit unübersichtlichen Entsende- und Vermittlungsmodellen sparten die Arbeitgeber außerdem maximal möglich an Sozialbeiträgen.

    (Presseerklärung des Deutschen Gewerkschaftsbundes)

    Im Dezember hatte Justyna Oblacewicz von der DGB-Initiative „Faire Mobilität“ erklärt, viele osteuropäische Beschäftigte wüssten nicht, dass sich die Höhe des zu zahlenden Lohnes am deutschen Recht orientieren müsse. Hinzu komme noch die Sprachbarriere. Auch wenn bei der Vermittlung ein bestimmtes Sprachniveau vorausgesetzt werde, sei es in der Praxis oft nicht ausreichend. Deshalb könnten sich viele osteuropäische Frauen nicht über ihre Rechte informieren. Ein noch größeres Problem sei aber, so Oblacewicz, „dass die Frauen mit ihm Haushalt der Person leben, die sie pflegen, und dadurch recht isoliert sind“. Der Arbeitsalltag biete auch kaum die Möglichkeit, sich zu informieren.

    DGB: Spahn soll Familien seine Versäumnisse erklären
    Beschäftigte würden aber auch oft bewusst über ihre Rechte getäuscht. Vor allem die polnischen Dienstleistungsverträge seien so aufgebaut, „dass die Frauen quasi als Selbständige nach Deutschland kommen, und ihnen wird suggeriert, dass sie deshalb keine Arbeitsschutzrechte in Anspruch nehmen können“, betonte Oblacewicz. Faktisch stimme das aber nicht, und darüber kläre dann die „Faire Mobilität“ auf.

    Der DGB sieht nun Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in der Pflicht. Er solle den Familien seine Versäumnisse erklären, die auf die 24-Stunden-Pflege angewiesen sind. „Er hätte die Pflegepolitik neu ausrichten und die Pflegeversicherung zu einer Bürgerversicherung umbauen können, die sämtliche Pflegeleistungen abdeckt“, heißt es in der Erklärung. Die Zeche für eine jahrzehntelang verfehlte Politik dürfe nicht auf dem Rücken der Beschäftigten abgeladen werden.

    #Arbeit #Ausbeutung