Die Innenseite des Klassenkampfes / Pädagogische Dressurakte können seelische Schäden erzeugen, von denen der Rechtspopulismus profitieren kann. Einige Anmerkungen zur Sozialpsychologie des Faschismus in Vergangenheit und Gegenwart (junge Welt)

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  • Die Innenseite des Klassenkampfes / Pädagogische Dressurakte können seelische Schäden erzeugen, von denen der Rechtspopulismus profitieren kann. Einige Anmerkungen zur Sozialpsychologie des Faschismus in Vergangenheit und Gegenwart (junge Welt)
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    Eines Tages erzählte mir ein Gefangener, er verspüre gelegentlich Lust, einem Bettler den Hut wegzutreten. Ich war schockiert und begann mich zu fragen, wie es sein kann, dass angesichts der Not eines Mitmenschen der eine den Impuls verspürt zu helfen, der andere aber Wut auf einen »Schmarotzer« entwickelt, der sein Brot nicht »im Schweiße seines Angesichts« verdient. Wie kommt es zu derart unterschiedlichen Reaktionen? Die Fragestellung weitete sich im Laufe der Zeit aus: Warum tendieren manche Menschen nach links, werden zu libertären Sozialisten, Kommunisten oder Anarchisten, und warum werden andere zu Rechten oder Faschisten? Ich bin im Kontext meiner Beschäftigung mit dem Spanischen Bürgerkrieg erneut auf dieses Problem gestoßen. Geht es lediglich um ideologische Prägungen, die meist in der Pubertät erfolgen und Weichen für die Entwicklung in die eine oder andere Richtung stellen? Der eine trifft in der sensiblen Phase der Orientierungssuche auf eine Gruppe Linker, der andere gerät an Faschisten. Solche Zufälle spielen sicher eine Rolle, aber ganz so einfach scheint es nicht zu sein. Die Entscheidung für die eine oder die andere Seite hat ihre triebmäßige Basis und wurzelt in psychischen Prozessen, die entweder lebendig mäandern und pulsieren oder eingefroren und erstarrt sind.

    »Früh in der Kindheit«, berichtet Theodor W. Adorno in seinem Buch »Minima Moralia«, »sah ich die ersten Schneeschaufler in dünnen schäbigen Kleidern. Auf meine Frage wurde mir geantwortet, das seien Männer ohne Arbeit, denen man diese Beschäftigung gäbe, damit sie sich ihr Brot verdienten. Recht geschieht ihnen, dass sie Schnee schaufeln müssen, rief ich wütend aus, um sogleich fassungslos zu weinen.« Der kleine Theodor reagiert zunächst ganz im Sinne der Erwachsenenwelt, deren Urteile und Vorurteile er sich zu eigen gemacht hat. Die Schneeschaufler trifft seine mitleidlose Wut. Dann aber besinnt er sich und beginnt zu weinen – aus Scham wegen seiner Anpassung und aus Mitleid mit den frierenden Menschen. Der Junge schlägt sich auf die Seite der gequälten Männer, in deren Leiden er sich wiedererkennt. Adorno kriegt die Kurve zum Menschlichen, weil er durch seine Mutter Liebe empfangen hat. Aus dieser erfahrenen Zuneigung hat er einen Kokon aus Urvertrauen um sich bauen können, der ihn schützt und gegen faschistische Versuchungen immunisiert. Glückserfahrungen der frühen Kindheit sind es, die uns ein Leben lang an- und umtreiben und beim Erwachsenen zum Ferment von politisch-libertären Rekonstruktionsversuchen und Utopien werden können.
    Faschismus der Gefühle

    Der Sozialpsychologe Peter Brückner schildert in seinem autobiographischen Buch »Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945« eine ähnlich ambivalente Szene. Er, der sich damals bereits als Antifaschist und Linker begriff, erschrak über eine Regung, die sich seiner angesichts eines elenden russischen Kriegsgefangenen bemächtigte, dem er 1943 begegnete. Obwohl er wusste, wie solche Menschen in deutschen Lagern behandelt wurden, empfand er angesichts des zerlumpten Mannes Abscheu. Begriffe wie »asiatischer Untermensch« schossen ihm durch den Kopf und färbten seine Wahrnehmung: »Obwohl ich – oder vielleicht gerade weil ich – glaubte, dergleichen Residuen des Faschismus bei mir nicht suchen zu müssen, hatten sie sich meiner Spontaneität bemächtigt.« Der Gefangene sprach ihn an. »Er sprach fließend deutsch. Es stellte sich heraus, dass er ein Filmregisseur aus Leningrad war. Man kann wohl sagen, dass ich Glück gehabt habe: dass er mich ansprach, und wie er das tat, durchbrach schlagartig den spontanen ›Sekunden-Mechanismus‹ der Wahrnehmung. Ich hatte Glück (…), weil man eine solche Lehre nicht wieder vergisst.«

    Man muss für solch ein Glück allerdings auch offen sein und die Differenzwahrnehmung zulassen. Ein wirklicher Faschist hätte es so weit nicht kommen lassen. Später hat Brückner diese Erfahrung auf den Begriff gebracht: »Wer nicht sichtlich unsereiner ist, steht sehr unfest in der Kultur.« Er spricht von einem »Faschismus der Gefühle – weit weg vom Kopf«. Mitunter werde unser aufgeklärt-tolerantes Erwachsenenbewusstsein von Regungen überrascht und manchmal auch überrumpelt, die plötzlich wie durch ein Steigrohr aus den Innenräumen unserer Kinderseele aufsteigen, in denen noch jede Menge faschistoides Gerümpel herumliegt, das unsere Nazivorfahren dort hinterlassen haben.

    Der autoritär erzogene und »zur Sau gemachte« Mensch wird eine Neigung davontragen, das, was er selbst unter Schmerzen in sich abtöten und begraben musste, aus sich herauszusetzen und dort – am anderen und Andersartigen – zu bekämpfen und zu vernichten. Das niedergedrückte und beschädigte Leben brütet über seine Kompensationen und sinnt auf Rache. Auf der Basis eines an seiner Entfaltung gehinderten, durch pädagogische Dressur partiell getöteten Lebens entwickelt sich eine Tendenz, sich am anderen schadlos zu halten und zu verfolgen, was einem lebendiger vorkommt: »Der da, der reißt sich nicht so zusammen wie ich!« Spielerisch-provokant hat diesen Mechanismus eine Berliner Punkerin entlarvt, die in den Anfangsjahren der Punkbewegung mit ihrem schrillen Outfit und bunten Haaren in ein Taxi einstieg und vom Fahrer gefragt wurde: »Wat bist’n du für eene?« Sie antwortete: »Gestatten, ich bin Ihr Trieb!«

    Ressentiments und Feindseligkeit kommen dem um sein Glück Betrogenen aus allen Poren. Auf Anzeichen von einem Mehr an Glück und Lebendigkeit reagiert er mit Härte und Grausamkeit. »Gleiches Unrecht für alle« avanciert zur Maxime seines ungelebten Lebens. Der Faschismus setzte und setzt bis heute dieses Ressentiment politisch in Gang, er war und ist psychodynamisch die Wiederkehr des Verdrängten: »Wenn die toten Wünsche auferstehen, werden sie verwandelt in die Masse der Umzubringenden«, schreibt der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit in seinem beinahe vergessenen Buch »Männerphantasien«.
    Affirmation oder Emanzipation

    In dem Maße, wie wir Objekt und Opfer solcher Erziehungsprozesse geworden sind, sind wir alle partiell Getötete und tragen in uns den Widerstreit des Toten mit dem Lebendigen aus. Ein Teil von uns ist durch haltende, schützende und wärmende Körper früher Liebesobjekte belebt und bewohnt, der andere durch Abwesenheiten, Strafen, Kälte und Verlassenheit unbewohnt, entlebendigt, anästhesiert, im Extremfall totgestellt. Zwischen diesen beiden in uns miteinander ringenden Prinzipien herrscht kein ruhiges, homöostatisches Gleichgewicht. Jeder Mensch muss sich entscheiden, welches von beiden die Oberhand über sein und in seinem Leben gewinnen soll. Entscheidet man sich nicht, so wird für einen entschieden: Der Überhang der gesellschaftlichen Objektivität, der aufgehäuften und zu Kapital gewordenen toten Arbeit wird dafür sorgen, dass im Zustand scheinbarer Balance das tödliche Prinzip den Sieg davonträgt. Affirmation ans Tote oder Emanzipation, auf diese existen­tielle Frage antwortet jeder mit seinem Lebenslauf. »Zwischen Achtung und Verachtung des Lebendigen verläuft die Trennungslinie«, schrieb Max Horkheimer in seinen »Notizen«, weniger zwischen der abstrakten politischen Entscheidung zwischen links und rechts. Geschichtliche Erfahrungen haben uns schmerzhaft darüber belehrt, dass auch vermeintlich linke Entwürfe in den Sog einer tödlichen und todbringenden Produktionsweise geraten können, wenn sie sich von der regulativen Idee der Emanzipation, verstanden als Erzeugung des Menschlichen, allzu weit entfernen. Diese Erfahrung mussten Kommunisten wie Alfred Kantorowicz in Spanien machen, als sich NKWD-Leute und stalinistische »Parteischranzen« breitmachten und die Atmosphäre vergifteten: »Die beste Sache wird oft von Menschen mitverteidigt, die man lieber auf der Gegenseite wüsste. Bedenklich ist, dass gerade solche neuerdings bei uns zum Zuge kommen, in den Stäben, den Bürostuben von Albacete, Valencia, Barcelona und – Moskau.«

    Halten wir fest: Es gibt in Gestalt des Toten oder Totgestellten in uns einen fortdauernden Faschismus weit unterhalb des Kopfes, einen Faschismus der Gefühle oder der Gefühllosigkeit, der uns zu einem lebenslangen Austrag des Kampfes nötigt. Das kann man die Innenseite des Klassenkampfes nennen.
    Verhasste Lebendigkeit

    Nun aber noch einmal zurück nach Spanien. Wo verlief dort jenseits und unterhalb der Ebene der Ideologien die Grenze zwischen Linken und Rechten? Der Schriftsteller André Malraux beschreibt, wie anarchistische Milizionäre Zigaretten an faschistische Gefangene verteilen, die auf einem öffentlichen Platz antreten mussten. Später sprechen zwei Protagonisten seines Romans »Die Hoffnung« über diese Szene und fragen sich, wie sie zu deuten ist. Einer vermutet: »Sie wollen denen da oben beweisen, dass sie kein Recht haben, sie zu verachten. Was ich da sage, klingt wie ein Spaß, aber ich meine es durchaus ernst. In Spanien scheiden sich die Rechte und die Linke dadurch, dass die einen für die Demütigung eine Vorliebe haben, die anderen sie verabscheuen. Die Volksfront stellt unter anderem die Gemeinschaft derer dar, welche die Demütigung verabscheuen. (…) Das Gegenteil von Demütigung (…) ist nicht die Gleichheit, sondern die Brüderlichkeit.«

    Aus den von Hans Magnus Enzensberger in »Der kurze Sommer der Anarchie« gesammelten Berichten über Buenaventura Durruti und die anarchistischen Milizen spricht trotz allen Ernstes und aller Kampfbereitschaft doch auch eine enorme Lebensfreude, eine Lust am Fest und an der Liebe. Die spanische Arbeiterklasse war wilder und auch gewalttätiger als die deutsche oder englische, hatte weniger Respekt vor dem Privateigentum und dem Staat. Sie war noch nicht domestiziert und zu einem Teil der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Die Köpfe der spanischen Tagelöhner und Arbeiter waren noch nicht vom kapitalistischen Geist kolonialisiert, ihre Körper waren noch nicht zu bloßen Arbeitsinstrumenten geworden. Michel Foucault hat daran erinnert, dass »das Leben und die Zeit des Menschen nicht von Natur aus Arbeit sind, sie sind Lust, Unstetigkeit, Fest, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden, Gewalttätigkeiten, Räubereien etc. Und diese ganze explosive, augenblickhafte und diskontinuierliche Energie muss das Kapital in kontinuierliche und fortlaufend auf dem Markt angebotene Arbeitskraft transformieren«. Der Psychologe Klaus Dörner hat diesen Vorgang als »größtes verhaltensmodifikatorisches Experiment aller Zeiten« beschrieben, ein weltgeschichtlicher Dressurakt, der dann gelungen ist, wenn die Peitsche des Aufsehers nicht mehr nötig ist und die Menschen ihr kapitalverwertendes Unglück als Erfüllung und Bestimmung erleben. Schließlich, heißt es bei Karl Marx, entsteht eine Arbeiterklasse, die »aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt«. Die Domestizierten benehmen sich manierlich, verzichten auf Gewalt, organisieren sich in Parteien und Gewerkschaften, die ihre Lage in der bürgerlichen Gesellschaft verbessern wollen, die sie als Ganze nicht mehr in Frage stellen. Die spanischen Arbeiter waren nicht geneigt, sich der Fabrikdisziplin und den anderen Verhaltenszumutungen der kapitalistisch-industriellen Produktionsweise zu unterwerfen und rebellierten gegen sie.

    André Malraux, Franz Borkenau und George Orwell beschreiben aus den Tagen und Wochen nach der Niederschlagung des Militärputsches in Barcelona eine überschäumende Begeisterung, Fröhlichkeit, revolutionären Enthusiasmus und gelebte Brüderlichkeit. In der Hitze des Kampfes legen die Menschen die Stacheln ab, die sie sonst auf Distanz halten. Sie entdecken im anderen den Menschen. Die revolutionäre Masse erlebt sich wie ein einziger großer lebendiger Körper. »Die Nacht war nichts als Brüderlichkeit, (…) immer wieder die gleichen erhobenen Fäuste, die gleiche Brüderlichkeit«, heißt es bei Malraux. Diese schloss im übrigen Frauen mit ein, die sich gleichberechtigt an den Kämpfen beteiligt hatten: »Alle in irgendeiner Weise Unterdrückten haben sich um uns gesammelt, kämpfen mit uns«, heißt es bei Malraux. Die größte Kraft der Revolution ist die Hoffnung, die Hoffnung auf ein menschenwürdiges und glückliches Leben, ein Leben ohne Herren und Knechte. »Das, was wirklich zählt – ist das etwa nicht das Glück? Wofür macht man denn die Revolution, wenn nicht, um glücklich zu sein?« fragt der italienische Regisseur und Publizist Piere Paolo Pasolini in seinen »Freibeuterschriften«.

    Angesichts dieser Lebendigkeit geht Faschisten »das Messer in der Tasche auf«. Der Anarchist ist im Inneren des Faschisten anwesend in Gestalt seiner verdrängten Begierden und unterdrückten Wünsche. Der Faschist hält in sich ein anarchistisches Double gefangen, das ins Freie möchte und lebendig sein will und dessen Gefangenschaft er verewigt, indem er gegen die Anarchisten draußen zu Felde zieht. »Äußeres weist innen auf Verschüttetes«, wie der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny einmal geschrieben hat. Wenn sich bei anderen Menschen Wünsche nach einem Mehr an Autonomie und Lust regen, geraten das Anpassungsgefüge und die Festigkeit der Triebverdrängung des Faschisten in Gefahr. Überall sieht er die Kellerratten der Revolution »aus der Tiefe« herausdrängen und das Land überfluten. Überall muss er »Sümpfe trockenlegen« und »Sauställe ausmisten«. Der Hass des Faschisten ist ein Hass auf Teile der eigenen Person, auf abgewehrte und mühsam in Schach gehaltene Triebwünsche und Begierden. Und vor allem Verachtung von und Hass auf Frauen, die die Faschisten aller Länder und Zeiten umgetrieben haben und bis heute um- und antreiben.
    »Umgekehrte Psychoanalyse«

    Vieles von diesem faschistischen Syndrom haben wir gerade im US-amerikanischen Wahlkampf wieder aufleben sehen. »Lock her up!« (Sperrt sie ein!), »Drain the swamp!« (Legt den Sumpf trocken!), »Close the borders!« (Schließt die Grenzen!), wurde da von Donald Trump und seinen Anhängern skandiert. Man müsste sich die Mühe machen, die Sprache des designierten US-Präsidenten zu analysieren, zu schauen, welche Metaphern und Bilder er verwendet. Den Faschisten erkennt man nicht zuletzt an der Sprache, die er verwendet. Die Parolen Trumps zielen in erster Linie darauf ab, das aus dem Lot geratene innere Gleichgewicht des »kleinen Mannes« wiederherzustellen – auf Kosten von allen, die nicht sichtlich »unsereiner« sind. Er liefert Viagra für das Selbstwertgefühl des verunsicherten »kleinen Mannes«, der im übrigen auch eine »kleine Frau« sein kann. In einer eigenartigen »Identifikation mit dem Aggressor« haben über die Hälfte der weißen Frauen für den Kandidaten der Republikaner gestimmt, obwohl dieser sie zuvor derb beleidigt hatte.

    Der Soziologe Leo Löwenthal hat Politiker vom Typus Trump im Rahmen der »Studies in Prejudice« des Frankfurter Instituts für Sozialforschung im Exil bereits 1944 beschrieben. Der von Löwenthal zusammen mit Norbert Guterman verfasste Teil der Studie heißt »Prophets of Deceit« (»Lügenpropheten. Eine Studie über die Techniken und Themen des amerikanischen Agitators«). Dort entwickeln beide in Ansätzen eine Theorie der faschistischen Agitation, die uns auch heute noch ein Verständnis des rechten Populismus, zumal des Trumpismus eröffnet. Sie beschreiben das Vorgehen der amerikanischen Agitatoren der 1940er Jahre als »umgekehrte Psychoanalyse«. Während die Psychoanalyse die Ängste des einzelnen aufklärt und bisher Unbewusstes ins Bewusstsein zu heben versucht, um ihn mündiger zu machen, will der Rechtspopulismus die Ängste aller bestärken, um sie unmündig zu halten. Ein Beispiel für diesen Vorgang: Statt die vagen Überfremdungsgefühle der Menschen in eine Kritik der real existierenden und von Tag zu Tag wachsenden kapitalistischen Entfremdung zu überführen, lenkt der Populist sie gegen die Fremden, an deren Präsenz es liegen soll, dass man sich in der Heimat nicht mehr geborgen und zu Hause fühlt.

    Löwenthal und Guterman schreiben: »Der Agitator geht genau den entgegengesetzten Weg (wie die Psychoanalyse, G. E.). Er bedient sich solcher populären Stereotypen nur, um die vagen Ressentiments zu verstärken, deren Ausdruck sie sind. Er benutzt sie nicht als Ansatzpunkt für eine Analyse, sondern vielmehr, als wären sie schon das Ergebnis von Analysen: Die Welt ist kompliziert, weil es Gruppen darin gibt, deren Absicht es ist, sie kompliziert zu machen. Er hetzt sein Auditorium zu sozialen Reaktionen auf, die denen des verfolgungswahnsinnigen Individuums gleichen, und er bringt es dahin vor allem durch ein endloses Breittreten der Verschwörungsidee. (…) Statt Vorschläge zu machen für eine bessere Ausnützung der Produktionsmöglichkeiten oder für eine gerechtere Verteilung des Sozialprodukts, unterhält der Agitator lediglich die Ressentiments gegenüber den Exzessen des Luxus. (… ) Nach seinen Enthüllungen sollen Pläne bestehen, dass immer neue Einwanderermassen in das Land kommen. Diese Fremden erscheinen dann als eine gefährliche Konkurrenz, ein räuberisches Element, verbündet mit den ›internationalen Bankiers‹. (…) Die Heimatlosigkeit des Flüchtlings wird das psychologische Äquivalent für unterdrückte Triebe des Zuhörers. Solch eine Gleichsetzung ist eine Vorbereitung für ein Loslassen verbannter Triebe gegen ein verbanntes Volk; eine psychologische Brücke ist geschlagen zwischen dem inneren Druck eines Ressentiments gegen die Verdrängung und des Ressentiments gegen ein heimatloses Volk. Wer kein Heim hat, verdient auch keines.« Der Agitator spreche davon, dass »Amerika gereinigt werden müsse, empfiehlt ein reinigendes Bad. (…) Oft spricht er von dem gegenwärtigen Zustand des Landes als von einem verwahrlosten Haus. Er beschwert sich darüber, dass die Feinde ›unser schönes Land in Unordnung gebracht haben‹, dass ›ideologische und intellektuelle Krankheitskeime‹ Amerika mit ihren Seuchen bedrohen und dass es Zeit für einen ›Hausputz‹ sei. Er wettert gegen diesen ›ganzen stinkenden Unrat‹ und betont die Notwendigkeit, ›das Land von dieser schmutzigen Bande zu säubern‹. Ebenso wie die ›Niedere Tiere‹-Metapher tritt die hygienische Metapher so häufig und in so konsistenten Zusammenhängen auf, dass sie nicht als zufällig beiseite geschoben werden kann. (…) Die Projektion der eigenen unterdrückten Triebe auf den Feind gemahnt die Zuhörer jedoch gleichzeitig daran, dass diese Triebe unanständig und abstoßend sind. So erzeugt die Projektion gleichzeitig Lustgewinn und Feindeinstellung.«

    Soweit die Studie über die »Lügenpropheten« aus dem Jahr 1944. Sind die Parallelen zur Gegenwart nicht erstaunlich und erschreckend? Man müsste sich die Zeit nehmen, Reden von Trump und anderen Rechtspopulisten nach dem Vorbild von Löwenthal und Guterman eingehend auf ihre unterschwelligen Botschaften zu untersuchen. Seit der Veröffentlichung von »Der autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil« weiß man, dass so etwas wie ein faschistisches Syndrom existiert, zu dem verschiedene »Symptome« gehören. Unter der Federführung von Adorno wurde die sogenannte Faschismus-Skala entwickelt. Das ist ein Fragebogen, der antidemokratische Einstellungen und Eigenschaften der autoritären Persönlichkeit erfassen soll. Der Rechtsradikalismus kann wechselnde Züge annehmen, aber dennoch zeigt sich, dass bestimmte Einzelseiten in seiner Physiognomie regelmäßig im Verein mit anderen auftreten. So ist, wer gegen Ausländer, Juden und andere Minoritäten wettert, in der Regel auch gegen Frauenrechte und für die Prügel- und Todesstrafe. Er verachtet das Parlament als »Quasselbude« und wünscht sich einen »starken Mann«, der »das Land mit harter Hand regiert«. Es existiert eine sozialpsychologische Komplementarität, die dafür sorgt, dass bestimmte gesellschaftliche Affekte sich mit anderen verbinden. Das ist bis auf den heutigen Tag nicht anders geworden und findet sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auch im gegenwärtigen Rechtspopulismus, wobei der Antisemitismus häufig nicht offen gezeigt wird.
    Kollektive Regression

    Die »umgekehrte Psychoanalyse« ist im Schwange und feiert nach wie vor ihre Triumphe. Statt das dumpf im psychischen Untergrund Schwelende und die frei flottierenden Ängste der Leute über sich selbst aufzuklären und ins Bewusstsein zu heben, wie es psychoanalytische und aufklärerisch-demokratische Praxis wäre, eignet sich der faschistische Agitator bzw. Rechtspopulist diesen Rohstoff so an, wie er bereitliegt, und setzt ihn für seine Zwecke in Gang. Er bedient wiederentflammte Spaltungsneigungen in »nur gut« und »nur böse« und rückt den verunsicherten Menschen einen Feind zurecht, den sie für ihr Unglück verantwortlich machen können. Da einer Erkenntnis der Psychoanalytikerin Melanie Klein zufolge alle Menschen das Stadium des frühkindlichen Spaltungsneigung, der »paranoid-schizoiden Position«, durchlaufen, bleibt die Neigung, widersprüchliche Situationen und seelische Spannungszustände auf diese Weise zu entschärfen, nicht nur bei den Menschen virulent, die aufgrund blockierter Reifungsprozesse auf dieses Entwicklungsstadium fixiert blieben, sondern auch bei »durchschnittlich-normalen« Erwachsenen. In Zeiten verbreiteter Verunsicherung und Desorientierung findet eine kollektive Regression auf archaische Mechanismen der psychischen Regulation statt. Urteils- und Differenzierungsvermögen bilden sich zurück, und es steigt das Bedürfnis nach entlastenden Vereinfachungen. Wer die simpelsten Polarisierungen liefert, hat nun die besten Aussichten, Gehör und Gefolgschaft zu finden. Wirkliche Aufklärung – unter striktem Verzicht auf alles Populistische ist dagegen anstrengend und schmerzhaft. Das ist der Grund, warum in Krisenzeiten, wenn die Menschen sich nach schnellen Lösungen sehnen, linke Aufklärungsversuche gegenüber den populistischen Vereinfachungen kaum eine Chance haben.

    Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der Edition des Georg-Büchner-Clubs erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Dort hat er soeben unter dem Titel »Es ist besser, stehend zu sterben als kniend zu leben! No pasarán!« auch ein Bändchen über den Spanischen Bürgerkrieg veröffentlicht.