• Unter Druck gesetzt
    Bei Amnesty International herrschen, wie ein Bericht zeigt, miserable Arbeitsbedingungen
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/348731.schlechte-arbeitsbedingungen-unter-druck-gesetzt.html

    Mobbing, Beleidigungen, Diskriminierung und Machtmissbrauch – das Betriebsklima in der Londoner Zentrale und einigen Regionalbüros der Organisation Amnesty International (AI) ist miserabel. Das geht aus einer Untersuchung hervor, die AI im vorigen Jahr selbst in Auftrag gegeben hat, nachdem sich zwei Mitarbeiter das Leben genommen hatten.

    Die Berater der beauftragten Konterra Group führten zahlreiche Gespräche mit Mitarbeitern, beobachteten den Umgang der Kollegen untereinander. Ihr Fazit ist vernichtend, erst recht für eine Organisation, die vorgibt, sich für Menschenrechte einzusetzen: Die Führung hat das Vertrauen der Belegschaft verloren. Die Atmosphäre sei »vergiftet«. »Amnesty International hat den Ruf, großartige Arbeit zu machen, aber ein harter Arbeitsplatz zu sein«, heißt es in dem Report. Die Supervisoren warnen, kritisierte Regierungen und andere Gegner könnten die Zustände nutzen, um AI zu diskreditieren.

    »Zu hören, dass unsere Angestellten von einer Kultur der Heimlichtuerei und des Misstrauens sprechen, in der Diskriminierung, Mobbing und Machtmissbrauch stillschweigend geduldet wurden, ist zutiefst beunruhigend«, schrieb AI-Generalsekretär Kumi Naidoo am 31. Januar in einem Brief an die Mitarbeiter, der auf der AI-Homepage nachzulesen ist.

    Naidoo ist erst seit vorigem August im Amt. In den ersten Monaten seien zahlreiche Mitarbeiter zu ihm gekommen, um sich über das Betriebsklima zu beklagen, berichtet er. »Es ist völlig offensichtlich, dass es ein großes Defizit bei der Sorge und Unterstützung der Belegschaft gibt.«

    Die deutsche Sektion von Amnesty in Berlin wollte sich auf Nachfrage von junge Welt nicht zum Konterra-Bericht äußern. Auch nicht dazu, ob im deutschen Hauptquartier ein ähnliches Arbeitsklima herrscht. Pressesprecher Hyun-Ho Cha verwies für eine Stellungnahme auf die Zentrale in London.

    Die AI-Abteilung in den Niederlanden hält sich weniger bedeckt. »Wir sind ernsthaft erschrocken«, heißt es in einem Statement vom Mittwoch. Das Betriebsklima in London müsse unbedingt wieder mit den Werten der Organisation in Einklang gebracht werden. In den Niederlanden sei aber alles in Ordnung. »Es gibt keinen einzigen Hinweis darauf, dass bei Amnesty Nederland von einem problematischen Arbeitsklima gesprochen wird.«

    Generalsekretär Naidoo deutet in seinem offenen Brief vom 31. Januar an, dass die internen Probleme bereits länger existierten, vielleicht schon Jahre. Andere sprechen sogar von Jahrzehnten, wie die Irish Times am Mittwoch berichtete. Doch niemand habe sich wirklich dafür interessiert. Erst zwei Selbstmorde hätten vielen die Augen geöffnet.

    Am 26. Mai 2018 war der 65jährige Gaëtan Mootoo tot im AI-Büro in Paris aufgefunden worden. Er hatte seit seit mehr als 30 Jahren für die Organisation gearbeitet und gehörte damit zu den dienstältesten Mitarbeitern. Sein Spezialgebiet war Westafrika. In seinem Abschiedsbrief teilte er mit, er habe die Unterstützung der Organisation vermisst. Im Büro in Paris sei er seit einiger Zeit praktisch isoliert gewesen, ergab die polizeiliche Untersuchung. »Er beklagte sich niemals über seine Arbeit. Niemals! Sondern immer über die fehlende Unterstützung«, sagte ein Kollege in dem Abschlussbericht, aus dem Guardian im Oktober zitierte.

    Nur einen Monat später nahm sich eine 28jährige Frau in Großbritannien das Leben. Sie war bis eine Woche vor ihrem Tod im Genfer AI-Büro als Praktikantin beschäftigt. Auch dieser Fall wurde von unabhängiger Seite untersucht. Die Expertise spricht AI in diesem Fall von einer Mitschuld frei.

    »Niemand in der Organisation sollte sich isoliert, unterbewertet oder missachtet fühlen«, schrieb Naidoo bereits im November 2018, als er die Hintergründe der Suizide auf dem Tisch liegen hatte. Der Generalsekretär hatte damals angekündigt, Konterra mit der Evaluierung zu beauftragen.

  • Brachiale Methoden - Rehaklinik in Thüringen kündigt zwei Beschäftigten und sperrt weitere aus.
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/335715.brachiale-methoden.html

    ..Im Laufe des Konflikts konnte Verdi einige Verbesserungen in einem Manteltarifvertrag festschreiben. Doch seit die Einrichtung im Jahr 2015 vom Celenus-Konzern übernommen wurde, geht das Management auf Konfrontationskurs. Celenus ist ein stark expandierender Klinikbetreiber, der zur französischen Orpea-Gruppe gehört. Diese ist mit einer Gewinnmarge von 13 Prozent des Umsatzes hoch profitabel. Offenbar sind Niedriglöhne und die Verhinderung von Tarifverträgen Teil der Geschäftsidee, mit der solch hohe Renditen zu erzielen sind. In Bad Langensalza jedenfalls verweigert der Konzern beharrlich einen Entgelttarifvertrag und ging auch auf diverse Kompromissangebote der Gewerkschaft nicht ein. Statt dessen versuchte er mit Hilfe der einschlägig bekannten Wirtschaftskanzlei »Beiten Burkhardt Rechtsanwaltsgesellschaft mbH«, Arbeitsniederlegungen verbieten zu lassen. Als das scheiterte, verlegte sich das Management darauf, einzelne Aktivistinnen zu attackieren.

    Trotz öffentlicher Proteste gegen die Entlassungen legte Celenus nach und sperrte Anfang Mai fünf Beschäftigte der Physiotherapie als »Arbeitskampfabwehrmaßnahme« auf unbestimmte Zeit aus – darunter auch die Betriebsratsvorsitzende. Ende Juni meldete das Unternehmen dann auch noch mindestens zwei der Betroffenen von der Krankenversicherung ab. Die Begründung: Es handele sich um einen rechtswidrigen Arbeitskampf. »Ob ein Streik rechtswidrig ist, entscheiden hierzulande immer noch die Gerichte«, sagte der Verdi-Landesfachbereichsleiter Gesundheit, Bernd Becker, hierzu. Zuletzt hatte das Landesarbeitsgericht Thüringen am 5. April die Rechtmäßigkeit von Warnstreiks bei Celenus bestätigt. »Ein solch dreister Einschüchterungsversuch ist an Unverfrorenheit nicht zu überbieten. Wenn solche Methoden üblich werden, dann gute Nacht«, so der Gewerkschafter..

    ver.di – Celenus attackiert Streikende
    https://gesundheit-soziales.verdi.de/mein-arbeitsplatz/reha-einrichtungen/++co++f0b00a1c-3bf4-11e8-bbfa-525400423e78

    Es ist ein Paradebeispiel für »Union Busting«, für das systematische Vorgehen gegen Gewerkschaftsrechte: Das Unternehmen Celenus hat Carmen Laue und Heike Schmidt – Mitglieder der ver.di-Tarifkommission an der Klinik an der Salza in Bad Langensalza in Thüringen – fristlos gekündigt, weil sie Informationsmaterial zum Streik verteilt haben sollen. Seit Wochen streiten die Beschäftigten der Reha-Klinik für höhere Löhne. »Doch statt den Konflikt am Verhandlungstisch zu lösen, setzt der Arbeitgeber auf Einschüchterung«, kritisierte ver.di-Landesfachbereichsleiter Bernd Becker. »Er sollte zur Kenntnis nehmen: Grundrechte gelten auch in Bad Langensalza.«

    https://www.celenus-kliniken.de

    https://www.orpea-groupe.com

    https://www.ehpad.fr/investir-dans-une-chambre/orpea

    ORPEA sans grande réaction après le chiffre d’affaires trimestriel
    Publié le 08/11/2017 à 11h41
    https://www.capital.fr/entreprises-marches/orpea-sans-grande-reaction-apres-le-chiffre-daffaires-trimestriel-1254461

    Orpea se renforce en Allemagne avec Celenus
    https://www.lesechos.fr/19/05/2015/LesEchos/21940-089-ECH_orpea-se-renforce-en-allemagne-avec-celenus.htm

    #Allemagne #santé #grève #syndicalisme

  • Der Capitán aus dem Wedding / Vor 110 Jahren wurde Erich Mielke geboren. (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/324220.der-capit%C3%A1n-aus-dem-wedding.html


    D’après l’auteur de cet article Erich Mielke n’aurait pas participé au massacres stalinistes pendant le guerre civile d’Espagne.

    Vor 110 Jahren wurde Erich Mielke geboren. Während des Spanischen Kriegs arbeitete der spätere Minister für Staatssicherheit der DDR im Verwaltungszentrum der Internationalen Brigaden. Bis heute wird ihm nachgesagt, er sei für den sowjetischen Geheimdienst tätig gewesen – zu Unrecht
    Von Werner Abel

    Generaloberst und Minister. Erich Mielke (28.12.1907–21.5.2000, hier am 15.12.1967, als er dem Wachregiment Berlin des Ministeriums für ­Staatssicherheit den Ehrennamen »Feliks Edmundowitsch Dzierzynski« verlieh)
    Foto: Bundesarchiv, Bild 183-F1215-0029-001 / CC-BY-SA 3.0

    Mitglieder der XI. Internationalen Brigade bei Escorea. Mielke war dort für einige Zeit Operationsoffizier
    Foto: picture alliance / akg-images

    Werner Abel begab sich an dieser Stelle am 18. August 2017 auf die Suche nach den Spuren von Ruth Kahn im Spanischen Krieg.

    Am 19. Februar 1933 schrieb die Vertretung der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD) bei der Kommunistischen Internationale in Moskau einen Brief nach Berlin, adressiert an Walter Ulbricht, zu dieser Zeit Mitglied des Politbüros der KPD: »Lieber Freund! Die Dir bekannten Arbeiter Mielke und Ziemer bitten, dass ihnen je ein Kleider- und Wäschepaket von ihren Angehörigen übermittelt wird. Sie sind jetzt über ein Jahr hier und mit ihrer Kleidung ist es ganz schlecht bestellt. Der Vater von Z., Karl Ziemer, Berlin W 50, Passauerstr. 36 v. IV ist ein Kleinbürger, wird aber die Sachen für den Sohn geben. Der Vater von M., Emil Mielke, Berlin Stettinerstr. 25, ist ein Genosse und hat eineinhalb Jahr Gefängnis gehabt. Mit bestem Gruß.«

    Erich Mielke und Erich Ziemer waren nach den Schüssen am 9. August 1931 auf dem Bülowplatz in Berlin in Verdacht geraten, die Polizeioffiziere Paul Anlauf und Franz Lenck getötet zu haben, und deshalb in die Sowjetunion geflüchtet. Solche Sorgen, die in dem Brief an Ulbricht zum Ausdruck kommen, sollten sich einige Jahre später erledigt haben, denn beide gingen nach Spanien, um dort gegen den Faschismus zu kämpfen. Mielke trug dort die Uniform eines Offiziers der Spanischen Volksarmee und bekleidete den Rang eines Capitán (Hauptmann). Er hieß fortan »Fritz Leissner«. Mit diesem Decknamen ist er auch auf der »Liste der Mexikaner« erfasst. Dort steht unter der laufenden Nummer 52 »Leissner, Fritz, Kapitän, Deutscher, geb. 28.12.1907 in Berlin, Angestellter, ledig, Mitglied des KJVD seit 1923. Spanien: November 1936. War bei der 14. und 11. Brigade, gegenwärtig Base Albacete, Stab«. »Mexiko« war im Spanienkrieg die Tarnbezeichnung für die UdSSR, ausländische Kommunisten, die von dort nach Spanien kamen, wurden deshalb »Mexikaner« genannt. Eine geheimdienstliche Dimension hatte das in der Regel nicht. Die »Mexikaner« hatten oft die Militärpolitische Schule der Komintern absolviert und wurden als Frontoffiziere oder Politkommissare eingesetzt. Unter ihnen waren mit Erich Weinert, Peter Kast und Willi Bredel auch Schriftsteller, die vom Krieg berichten sollten. Bredel war sogar für einige Monate Politkommissar des Thälmann-Bataillons der XI. Internationalen Brigade, die dort gewonnenen Erfahrungen konnte er später verarbeiten, als er seine »Begegnung am Ebro« schrieb.

    Auch Erich Mielke war Absolvent der Militärpolitischen Schule in Babowka bei Moskau, die er erstmals von Januar bis August 1932 besuchte hatte. Offensichtlich war man dort von seinen Fähigkeiten beeindruckt, denn nach einem Kurs an der Internationalen Leninschule kehrte er noch einmal nach Babowka zurück, allerdings nicht nur als Schüler, sondern auch als Lehrer. Unter dem Namen »Paul Bach« gab er selbst Unterricht. Hier ist er womöglich auch Wilhelm Zaisser aufgefallen, der von 1932 bis 1936 unter dem Decknamen »Werner Reissner« Direktor dieser Schule war. Das mag erklären, weshalb dieser Mielke später in Spanien zu seinem Adjutanten machte. In einem Fragebogen, den Mielke im Juni 1938 für Luigi Longo (unter dem Namen »Gallo« Generalkommissar-Generalinspekteur der Internationalen Brigaden) ausfüllte, schrieb er, dass er in der Sowjetunion Kenntnisse vom Straßenkampf bis zur Führung eines Bataillons bzw. Regiments erworben habe. Deshalb wurde er nach seiner Ankunft am 11. Dezember 1936 in Spanien zunächst als Alférez (Unterleutnant) der XI. Internationalen Brigade, dann als Teniente (Leutnant) der XIV. Brigade zugeteilt, beide Male gehörte er dem Stab als Operationsoffizier an. Nach einer kurzen Rückkehr zur XI. Brigade als Kaderoffizier wurde er dann zur 27. Division, der Division »Carlos Marx«, kommandiert, wo er wieder als Operationsoffizier und dann als Stabschef der 124. Brigade dieser Division eingesetzt war. Gleichzeitig war er auch als Kaderoffizier für die internationalen Kämpfer dieser Einheit zuständig. Allerdings waren die Internationalen in dieser Division nicht so zahlreich wie in denen, die zu den Internationalen Brigaden gehörten.
    Im Apparat

    Gustav Szinda, Mitglied der Kommission für ausländische Kader beim ZK der KP Spaniens, schrieb 1940 in Moskau, Mielke zeichne sich durch »große organisatorische Fähigkeiten« aus. Das war wohl auch der Grund, weshalb er von Vital Gayman, einem französischen Kommunisten, der bis Ende Juli 1937 Kommandant der Base Albacete war, in das Verwaltungszentrum der Interbrigaden geholt wurde. Es ging darum, die Ausbildungslager der Interbrigaden in Madrigueras, Casa Ibañez, Quintanar de la Rebública, Villanueva de la Jara, Torcillo, Tarazona und Pozo Rubio einzurichten. Dazu gehörten Nachrichtenschulen sowie die Offiziers- und Unteroffiziersschule im Schloss von Pozo Rubio. Dorthin hatte Mielke übrigens eine besondere Beziehung, weil er hier auch Vorträge über politische und militärische Themen hielt. Die Ausbildungslager waren vor allem deshalb wichtig, weil der größte Teil der internationalen Freiwilligen über keinerlei militärische Erfahrungen verfügte. Mielke erledigte seine Aufgaben offensichtlich so erfolgreich, dass bald der gesamte operative Schriftverkehr über seinen Schreibtisch ging. Mit Helena Falkener hatte er, wie erst kürzlich durch Zufall bekannt wurde, eine Sekretärin, die Spanisch wie ihre Muttersprache beherrschte. Hinzu kam noch ein weiterer für ihn günstiger Umstand. Wilhelm Zaisser, in Spanien nur als »General Gómez« bekannt, hatte sich geweigert, die durch die Kämpfe an der Córdoba-Front völlig erschöpften Angehörigen der von ihm kommandierten XIII. Brigade an der Zentralfront in der geplanten Schlacht um Brunete (6. bis 25. Juli 1937) einzusetzen und war deshalb von General José Miaja seines Kommandos enthoben worden. Am 4. Juli 1937 kehrte er nach Albacete zurück und wurde wieder, was er schon im Herbst 1936 gewesen war, Chef der Ausbildung im Stab der Internationalen Brigaden. Zaisser, der durch seine Erfahrungen und die vielen Jahre im Dienst des Verbindungsdienstes der Komintern (OMS), und seiner Tätigkeit für die Aufklärung der Roten Armee (GRU) eine starke Position hatte, machte Mielke zu seinem Adjutanten. Als Zaisser dann am 1. Dezember 1937 Kommandant der Base wurde, musste Mielke bis zum 21. Januar 1938 als Chef der Ausbildungssektion fungieren. Da aber diese Planstelle zumindest mit einem Teniente-Coronel (Oberstleutnant) besetzt werden musste und sich der spanische Generalstab seinen Einfluss in den Interbrigaden sichern wollte, wurden der Spanier Basilio Atanassoff als Chef der Ausbildung und Mielke als sein Adjutant eingesetzt. Aus den erhalten gebliebenen Hunderten von Mielke unter- oder abgezeichneten Briefen lässt sich schlussfolgern, dass er den größten Teil der operativen Arbeit erledigte. Seine Aufgaben waren vielfältig. Es ging um die Belegung und die Absicherung der Lehrgänge, die Beförderung der Kursanten zu ihren Einheiten und an die Front, um Urlaubslisten, aber auch um die materielle Absicherung der Ausbildung, die sich von der Besorgung von Taschenlampenbatterien bis zum Holz für Schießstände erstreckte. In diesem Kontext ist es auffallend, dass aus diesem Zeitraum weit mehr von Mielke unterzeichnete dienstlichen Schriftstücke überliefert sind als von Atanassoff.

    Als im April 1938 mit einer Order des spanischen Kriegsministeriums die sofortige Evakuierung der Base Albacete sowie deren Verlegung nach Barcelona angeordnet wurde und überdies kaum noch Freiwillige nach Spanien kamen, war auch für Mielke der Dienst beendet. Er wurde Adjutant von Pedro Mateo Merino, dem Kommandanten der 35. Division, zu der zu dieser Zeit auch die XI., die XIII. und die XV. Internationale Brigade gehörten. In einem 1986 in Madrid erschienenen Buch bescheinigte Mateo Merino ihm, Mielke sei nicht nur Stabsoffizier gewesen, sondern habe auch bei der Ebro-Schlacht mutig gekämpft.

    Nach dem Abzug der Internationalen Brigaden von der Front setzte Mielke die schon in der Offiziersschule begonnene Vortragstätigkeit im Auflösungslager Bisaura de Ter fort. Nun waren es aber rein politische Themen, über die er sprach. So etwa am 17. Januar 1939 in einem Schulungskurs für Referenten zum Thema »Die POUM – der Todfeind des spanischen Volkes«. Zu diesem Zeitpunkt war die linkskommunistische »Arbeiterpartei der marxistischen Einheit« allerdings längst verboten und ihre führenden Mitglieder inhaftiert oder tot. Und man durfte auch damals annehmen, dass der Todfeind des spanischen Volkes der internationale Faschismus und speziell der Franquismus war, der zu diesem Zeitpunkt ansetzte, die letzten Bastionen der Republik zu stürmen. Aus diesem Grund appellierte die republikanische Regierung an die schon aufgelösten Interbrigaden, in einem letzten, dem sogenannten Zweiten Einsatz, noch einmal in den Kampf zu ziehen und die Evakuierung vor allem der Zivilbevölkerung zu sichern. Auch Erich Mielke nahm daran teil. Danach überschritt er mit den anderen Interbrigadisten die Grenze zu Frankreich und wurde dort zunächst im zentralfranzösischen Cepoy interniert.
    Entstehung einer Legende

    Erich Mielke hat sich nie öffentlich über seine Tätigkeit in Spanien geäußert, in den vielen Erinnerungsbänden sucht man seine Stimme vergebens. Das bot Anlass zu Spekulationen, die je nach politischer Positionierung sehr unterschiedlich ausfielen. So schrieb z. B. Franz Dahlem, der nach dem Tod von Hans Beimler der Vertreter der KPD in Spanien war, Mielke sei der Leiter der Offiziersschule in Pozo Rubio gewesen, was aber schlichtweg nicht stimmt. Heinz Priess, der diese Offiziersschule besucht hat, charakterisiert Mielke als einen arroganten Lehrer, der seinen Zuhörern, die oft älter waren als er, huldvoll erlaubte, ihn beim Gebrauch ihnen unbekannter Fremdworte zu unterbrechen. Priess schildert auch einen Besuch an der vordersten Linie. Mielke habe sich, gekleidet in die tadellose Uniform eines Stabsoffiziers, mit dem Auto fahren und durch sein Auftreten die völlige Unkenntnis der Bedingungen an der Front erkennen lassen. Auch in diesem Zusammenhang unterstellt ihm Priess Arroganz gegenüber seinen Genossen. Psychologisch dürfte diese Haltung erklärbar sein, denn der einfache Arbeiterjunge aus dem Wedding, der das Gymnasium hatte abbrechen müssen, war plötzlich der geschätzte »Don Capitán Fritz Leissner« und zuständig für die Ausbildung Tausender Kämpfer, eine Aufgabe, die er offensichtlich zur Zufriedenheit und mit Bravour meisterte.

    Völlig andere Einschätzungen, die mit der Realität nichts zu tun haben und die Rolle Mielkes als Minister für Staatssicherheit der DDR auf sein Wirken im Spanischen Krieg projizieren, trafen Alfred Kantorowicz und Walter Janka. Ihre Behauptung bestimmen bis heute das Bild Mielkes in der Öffentlichkeit. Kantorowicz schrieb 1961 im »Deutschen Tagebuch« vom »Himmler des Ulbricht-Regimes, Mielke, den in Spanien niemand von uns gekannt hatte, weil er sich dort im Verborgenen durch ›Vernehmungen‹ von Trotzkisten für seine spätere große Aufgabe qualifizierte«. Es ist eine kühne Behauptung, dass »niemand« einen der Hauptverantwortlichen für die Ausbildung der Interbrigadisten in Spanien gekannt haben soll, aber vielleicht wusste Kantorowicz tatsächlich nicht, dass Mielke dort »Fritz Leissner« hieß. Dass er einen Decknamen benutzte, war keineswegs ungewöhnlich, sondern üblich in den kommunistischen Parteien und damit natürlich auch in Spanien. »Parteinamen« dienten eher dem Selbstschutz oder sollten die Herkunft verschleiern, einen geheimdienstlichen Hintergrund hatte das in den wenigsten Fällen. Kantorowicz, Redakteur der Interbrigaden-Zeitung Le Volontaire de la Liberté, Informationsoffizier der XIII. Brigade und nach seiner ausgeheilten Verwundung mit dem Schreiben eines Buches befasst, hatte kaum Berührungspunkte mit dem Hauptstab in der Base Albacete, dem Ort, an dem Mielke am längsten tätig war. Gut möglich, dass er ihn nie wissentlich getroffen hat. In seinem »Spanischen Kriegstagebuch« kommt der Name Mielke jedenfalls nicht vor.
    Jankas Vorwürfe

    Weit wirkmächtiger waren allerdings die Vorwürfe, die Walter Janka, auch er Spanienkämpfer, in seiner Autobiographie und in seinen Vorträgen gegen Mielke erhob. Janka war im Dezember 1956 wegen einer angeblichen »Verschwörung gegen die DDR« verhaftet und 1957 zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, die er bis zu seiner vorzeitigen Entlassung aufgrund internationaler Proteste 1960 im Zuchthaus Bautzen verbringen musste, in jenem berüchtigten Gefängnis, in dem er schon in der NS-Zeit von 1933 bis 1934 vor seiner Verbringung in das KZ Sachsenburg inhaftiert war. Seine Verbitterung über die Verhöre durch Erich Mielke, über Prozess und Haft war grenzenlos. Der Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei schrieb später: »Natürlich konnte und wollte Janka verständlicherweise ein von Ulbricht und Mielke begangenes Unrecht an ihm nicht verzeihen.« Im Falle Mielkes bedeutete das allerdings, dass er dessen Tätigkeit in Spanien ganz und gar neu erzählte.

    Folgt man Janka, dann traf er das erste Mal in Murcia auf Mielke, wo die XI. Brigade von Mitte Januar bis Anfang Februar 1937 zur Reorganisation in Ruhestellung lag. Als Janka aus dem Ausbildungslager Madrigueras kommend in Murcia eintraf, wurde er von Mielke, der zu dieser Zeit Kaderoffizier war, gefragt, wie er nach Spanien gekommen sei. Der Grund für die Frage war, dass die KPD im CSR-Exil es abgelehnt hatte, den nach der Entlassung aus dem KZ in der tschechischen Emigration befindlichen Janka nach Spanien zu delegieren. Er war deshalb mit Hilfe des kommunistischen Jugendverbands der CSR nach Spanien gereist. Das erregte Misstrauen, und Mielke wollte ihn angeblich nach Valencia schicken. Der Kaderoffizier hatte keine geheimdienstliche Funktion, aber das Recht, nach Gründen und Reiserouten zu fragen. Es war Krieg, die Freiwilligen kamen aus über 50 Ländern, und man musste sichergehen, dass sich unter ihnen keine faschistischen Agenten befanden. Die »Individualisten«, wie sie von der Kaderabteilung der Interbrigaden genannt wurden, die auf eigene Faust und ohne den Auftrag ihrer Partei nach Spanien gekommen waren, wurden von Anfang an verschärften Kontrollen ausgesetzt. Insofern war Mielkes Verhalten völlig korrekt, weniger vielleicht die Form, wie Janka sie beschrieb.

    Jahre später, so berichtet Janka weiter, habe er erfahren, dass sich in Valencia ein Gefängnis des Servicio de Investigación Militar (SIM) der Interbrigaden für Spione, Agenten und Trotzkisten befunden habe, in dem, mit oder ohne Prozess, Verdächtige verschwanden. »Und der Mann, der mich dorthin schicken wollte, war für den SIM in der 11. Brigade zuständig. Er hieß: Erich Mielke.« Diese Behauptung ist nachweislich falsch. Zu dieser Zeit gab es noch keinen SIM, dieser wurde zeitgleich mit dem spanischen Dienst gleichen Namens am 9. August 1937 gegründet. Zuvor hatte es bei den Brigaden den Servicio de Control gegeben, dem Mielke aber nicht angehörte. Er war auch kein Mitglied der KPD-Abwehr in Spanien, deren Angehörige ebenso bekannt sind wie die deutschen Mitarbeiter des Kontrolldienstes und des späteren SIM. In Valencia unterhielten die Interbrigaden kein Gefängnis. Die Gefängnisse in dem Convento de Santa Ursula in Valencia und in Segorbe in der Provinz Valencia waren berüchtigt, hatten aber mit den Interbrigaden nichts zu tun. Über Gefängnisstrafen und Hinrichtungen entschied auch keine einzelne Person, sondern die Juristische Kommission der Brigaden oder ein Divisionskommandeur. Nach der Öffnung der Archive nach 1990 musste auch die Behauptung, es sei vielfach zu Erschießungen gekommen, deutlich korrigiert werden. Hingerichtet worden waren fünf Deutsche: wegen Befehlsverweigerung, Desertion und Arbeit für die Gestapo – nur bei einem, bei Heinz Weil, gab es einen rein politischen Hintergrund.
    Beauftragter des NKWD?

    In seiner Autobiographie stellte Janka mit dem Satz »Gómez und der ihm unterstellte Mielke waren Beauftragte des NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten; jW), die streng nach den Weisungen des ebenfalls nach Spanien abkommandierten NKWD-Generals Orlow gehandelt haben« noch eine andere Behauptung auf, die ebenfalls nicht stimmen kann, weil die Namen der Deutschen, die mit Alexander Orlow zu tun hatten, der eigentlich Leib Feldbin hieß und kein General, sondern Oberst war, bekannt sind. Mielke befindet sich nicht darunter. Wilhelm Zaisser, also der schon erwähnte »Gómez«, war mit Orlow bekannt, hatte aber in Spanien nichts mit ihm zu tun. Allerdings hatte Zaisser einen wirklichen nachrichtendienstlichen Hintergrund, er hatte für die OMS und die GRU gearbeitet, sein Ausreisevisum, mit dem er die UdSSR in Richtung Spanien verließ, hatte kein Geringerer als der Chef des NKWD Nikolai Jeschow unterschrieben. Der zitierte Satz von Janka bezieht sich auf die bis heute ungeklärten Umstände des Todes von Hans Beimler, der am 1. Dezember 1936 bei einer Visite der vordersten Stellungen an der Front von Madrid gemeinsam mit Franz Vehlow, dem Politkommissar des Thälmann-Bataillons, erschossen wurde. Beimler, der weder Kriegskommissar war, noch eine militärische Funktion bei den Interbrigaden hatte, sondern der Beauftragte der KPD für Spanien und damit der politisch Verantwortliche für die deutschen Kämpfer war, kümmerte sich rührend um die Internationalen und kollidierte deshalb oft mit den militärisch Verantwortlichen. Bald nach seinem Tod kamen Gerüchte auf, er, der Unbequeme, sei von den eigenen Leuten erschossen worden. Die Gerüchte wurden besonders genährt durch seinen Dolmetscher Max Gayer und seine Freundin Antonia Stern, die eigens aus Paris nach Spanien kam. 1974 behauptete der ehemalige Zivilgouverneur von Albacete, Justo Martínez Amutio, dem die Base juristisch unterstand, in dem Buch »Chantaje a un pueblo« (»Erpressung eines Volkes«), dass Zaisser in diesen Mord verwickelt gewesen sei und zur Vertuschung »Trotzkisten« als angebliche Täter habe erschießen lassen. Janka wiederum schrieb, er habe in einem Madrider Archiv einen »Befehlsbrief« von Zaisser an General Kléber (das war Manfred Stern und nicht, wie Janka schrieb, Lazar Stern) gefunden, in dem er diesen aufforderte, Beimler auf seine Kompetenzen hinzuweisen. Nun war Zaisser zu dieser Zeit mit der Formierung der XIII. Brigade beschäftigt und Kléber befehligte die XI. Brigade. Das heißt, Zaisser konnte Kléber gar keinen Befehl geben. Janka hatte diesen Brief nach seinen Worten 1986 an Erich Honecker geschickt. Trotz intensiven Suchens ist er bisher nicht gefunden worden. Interessant aber ist, dass die Argumentation zur Schuld Zaissers und Mielkes der von Martínez Amutio ähnelt, und tatsächlich fand sich im Nachlass Jankas, der fließend Spanisch sprach, dessen mit Anmerkungen versehenes Buch.

    Wenn deutsche Interbrigadisten für einen befreundeten Geheimdienst arbeiteten, dann wurde das in den Akten mit Worten wie »hat für die Freunde gearbeitet« oder »war im Spezialdienst« umschrieben. Bei Mielke fehlt selbst ein ähnlicher Hinweis völlig. Pikant ist, dass Gustav Szinda, der Mielkes Charakteristik in Moskau geschrieben hatte, zu dieser Zeit nicht wissen konnte, dass er unter einem Minister Mielke Jahre später Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Neubrandenburg sein würde.
    Kein Geheimdienstmann

    Ironie der Geschichte: In den bisher bekannten Akten zum Spanischen Krieg gibt es eine einzige Stelle, die Mielke im Kontext eines Geheimdienstes erwähnt. Die Vereinigte Sozialistische Partei Kataloniens (PSUC) verfügte über einen »Servicio especial«, der mit nachrichtendienstlichen Mitteln die Ausländer kontrollierte. Bei einer Überprüfung des Archivs bemerkte die Leiterin des Dienstes, dass eine sogenannte »Abweisungs- und Ausweisungsliste« fehlte. Als man festgestellt hatte, dass ein ehemaliger deutscher Mitarbeiter diese Liste an Mielke ausgeliehen hatte, rief die Leiterin bei ihm an, musste aber erfahren, dass Mielke diese Liste nicht mehr habe und er sich auch nicht an sie erinnern könne. Sie beschwerte sich bei Joaquín Olaso, dem Kaderchef des PSUC, aber das blieb ohne Konsequenzen. Als Minister hätte Erich Mielke später das Verschwinden eines wichtigen Dokuments sicher nicht geduldet.

    #Allemagne #histoire #Espagne #stalinisme

  • »Habe mich dem bewaffneten Kampf früh angeschlossen« / Gespräch mit Leonardo Tamayo. Über die kubanische Revolution, den Guerillakampf mit Ernesto »Che« Guevara und heutigen Internationalismus (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/322883.habe-mich-dem-bewaffneten-kampf-fr%C3%BCh-angeschlossen.html

    Interview: Lena Kreymann

    Leonardo Tamayo … wurde 1941 in der kubanischen Provinz Sierra Maestra geboren, in der 1956 die Gruppe von Revolutionären um Fidel Castro landete. Mit 15 Jahren schloss er sich ihnen an. Er gehörte zum Kreis der engsten Vertrauten von Ernesto »Che« Guevara und begleitete ihn bis zu seinem Tod in Bolivien

    Sie haben an der Seite von Ernesto »Che« Guevara gekämpft – sowohl während der kubanischen Revolution in der Sierra Maestra als auch Jahre später in Bolivien. Warum haben sie sich den Guerilleros angeschlossen?

    Ich hegte einen tiefen Groll, ja sogar Hass, gegen die Armee des kubanischen Diktators Fulgencio Batista. Ich habe wiederholt gesehen, wie seine Soldaten die Bauern misshandelt haben. Der Kommandant Joaquín Casillas (ein kubanischer Militär, der bereits 1948 für den Mord an einem Gewerkschaftssekretär verurteilt, aber rasch wieder freigelassen worden war, jW) hat beispielsweise die Bauern mit gefesselten Händen an dem Sattel seines Pferdes festgebunden und sie geschlagen. Einmal habe ich gesehen, wie er jemanden so verprügelt hat, dass sein ganzer Körper mit Blut bedeckt war. Das hat mich bereits in meiner Kindheit gegen die Streitkräfte aufgebracht, die die Bauern so misshandelt haben.

    Hat ein Großteil der Landbevölkerung zu diesem Zeitpunkt so gedacht wie Sie? Wie bekannt war der Guerillakampf zu diesem Zeitpunkt überhaupt?

    In der Bauernschaft wussten wir, dass Fidel in der Nähe des Strands Las Coloradas gelandet war, in der Gemeinde Niquero. Das hat sich unter den Bauern sehr schnell verbreitet. Als Fidel und die Armee der Diktatur die ersten Male aufeinandertrafen, war das in der gesamten Landbevölkerung ein großes Thema. Ich habe mich dem bewaffneten Kampf sehr früh angeschlossen. Alle Guerillakämpfe haben drei Phasen: In der ersten meidet die Bevölkerung das Heer der Rebellen, versteckt sich vor ihnen und gibt ihnen nichts zu essen. In der zweiten haben die Guerilleros bereits ein großes Gebiet befreit und der Großteil der Bauernschaft unterstützt sie. In der dritten steht die Bevölkerung vollständig hinter den Guerilleros. Ich habe mich bereits in der ersten Phase der Rebellenarmee in der Sierra Maestra angeschlossen.

    Zu diesem Zeitpunkt waren Sie gerade mal 15 Jahre alt. Was hat ihre Familie davon gehalten?

    Ich bin Halbwaise, meine Mutter starb, als ich drei Jahre alt war. Wir sind fünf Geschwister – ich habe zwei ältere Schwestern und zwei jüngere. Als meine Mutter starb, musste mein Vater auch ihre Rolle einnehmen, er ist sehr gut mit uns umgegangen. Er hat sich einen Monat vor mir dem Rebellenheer in der Sierra Maestra angeschlossen. Weil mein Vater auch Tamayo hieß und wir im gleichen Heer gekämpft haben, haben sie mich dort später »Tamayito« genannt, ich war also der »kleine Tamayo«. Alle nennen mich bis heute so – auch meine Frau, weil sie sich über die Jahre daran gewöhnt hat. Von meinen Schwestern waren drei verheiratet und eine noch nicht. Sie habe ich in dem Haus von Freunden gelassen. Ich habe ihr gesagt, dass ich in die Sierra Maestra gehen würde und dass ich sie dort suchen käme, wenn ich nicht getötet würde. Ich habe überlebt und fand sie wieder, wo ich sie zurückgelassen hatte. Aber auch alle meine Schwager kämpften in der Sierra Maestra.

    Wie sind Sie denn in das Rebellenheer aufgenommen worden?

    Am 14. April 1957 schaffte ich es, Kontakt zu der Truppe von Che aufzubauen. Unser erstes Treffen war nicht besonders herzlich, er fragte mit argentinischem Akzent: »Was willst du hier?« Ich antwortete: »Das Gleiche wie Sie.« Das hat mir etwas Respekt eingebracht und er nahm mich auf. Nach vier, fünf Tagen brauchte Che jemanden, um eine Botschaft zu überbringen. Die übrigen Genossen aus der Stadt brauchten für diese Distanz durch die hügelige Landschaft zwei Tage, ich dagegen habe das als Bauernsohn noch am gleichen Tag erledigt. Als ich wieder an der Kommandantur ankam, rief er: »Hey, ich habe dich doch heute morgen mit einer Botschaft losgeschickt.« Ich bejahte und holte die Antwort von Fidel aus meiner Tasche. Als er sie las, begriff er, dass ich die Nachricht bereits überbracht hatte. Zu dem Zeitpunkt gab es noch keine militärischen Gepflogenheiten, um sich zurückziehen zu dürfen, deswegen habe ich einfach gefragt: »Darf ich gehen?« und er antwortete: »Ja, hau ab.« Zwei oder drei Tage später musste Che eine weitere Botschaft genauso dringend übermitteln und sagte: »Der kleine Indio vom letzten Mal soll kommen.« Ich lief mit der Botschaft los und, als es dunkel wurde, war ich schon wieder zurück. Statt wieder nachzufragen, hat er diesmal gleich die Antwort entgegengenommen. Ich habe dann weitere Botschaften überbracht und, nachdem ich diese Aufgabe ungefähr zwei Wochen lang übernommen hatte, sagte Che: »Bring deinen Rucksack hier herüber in die Kommandantur. Dann bist du gleich da, wenn ich wieder eine Nachricht verschicken muss.« Ich habe dann zehn Jahre und sechs Monate an der Seite Ches verbracht.

    Zunächst haben Sie also Botschaften übermittelt. Welche Aufgaben hatten Sie später?

    Ich wurde während unserer Offensive Ches Adjutant. Manche Genossen sagen, dass ich die Eroberung Kubas zwei oder dreimal gemacht habe: Wenn ein Genosse oder eine Gruppe verlorengegangen war, musste jemand loslaufen, um sie zu suchen, und dann zurückkehren, das habe ich gemacht. Ein Beispiel: Die allererste Vorhut war 500 oder 600 Meter weg, ich bin vorgelaufen, um sie einzuholen und zu sagen, dass sie warten müssten, weil einige zurückgeblieben sind. Dann bin ich wieder zurück zur Nachhut gelaufen, um die Verlorengegangenen zu suchen. Dann bin ich losgelaufen, um Che zu suchen und dann wieder zur Vorhut gelaufen. Das war eine der Aufgaben, die ich während der Invasion hatte.

    Sie waren auch Mitglied in einer Elitetruppe namens »Suizidkommando«. Wie kam es dazu?

    Wir waren in Las Villas, also bereits im Zentrum des Landes, angekommen. Che hatte mich mit einer Botschaft losgeschickt. Bei der Rückkehr war ein Genosse dabei, den sie »El Vaquerito«, den kleinen Cowboy, nannten – den Namen hatte ihm die Revolutionärin Celia Sánchez gegeben. Er wartete auf mich und sagte: »Ich habe einen Vorschlag, den ich Che unterbreiten möchte, und ich zähle dabei auf dich.« Ich fragte, worum es ging und er antwortete: »Ich möchte, dass wir eine Gruppe für ein Angriffskommando aufstellen.« Bei Che brachte Vaquerito dann unser Anliegen vor. Dieser sah uns an und sagte: »Dieser Name, ›Angriffskommando‹, gefällt mir nicht, der klingt zu sehr nach kapitalistischem, imperialistischen Heer. Warum nennen wir das nicht ›Suizidkommando‹ – ›Pelotón Suicida?‹« Diese Gruppe hatte die riskantesten Aufgaben, wenn etwa unsere Gegner in einem geschlossenen Haus waren, die Tür zu öffnen und eine Handgranate hineinzuwerfen. Ich bin auch zweimal angeschossen und einundzwanzigmal mit einer Granate verletzt worden. Ich habe meine Quote erfüllt. Ich bin mit 17 Jahren als Chef von Ches Eskorte an seiner Seite geblieben, und dann sein Adjutant geworden.

    Sie waren auch in Bolivien dabei, wo Che Guevara 1967 ermordet wurde. Warum haben Sie als Kubaner überhaupt dort gekämpft?

    Die Vereinigten Staaten hatten eine Studie veröffentlicht, wo es in Lateinamerika zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen könnte. Bolivien hatten sie ausgeschlossen und festgehalten, dass es bereits eine Landreform gegeben habe, die geographischen Bedingungen nicht vorhanden seien, die Bevölkerung es nicht unterstützen würde und eine Revolution dort im Keim erstickt werden würde, weil Bolivien keinen Zugang zum Meer hatte. Angesichts dieser Situation entschied Che, dass, wenn sie sagen, die Bedingungen seien in Bolivien nicht gegeben, man dort erst recht den bewaffneten Kampf beginnen müsse.

    Aber Kuba stand doch in dieser Zeit selbst vor zahlreichen Herausforderungen. Wieso dann nach Bolivien gehen?

    Wir waren nur 17 Kubaner, das war keine Invasion oder so, nicht mal eine Truppe. Wir sollten nur die Bolivianer beraten, wir wollten sie unterstützen. Damit hatten wir nicht nur Freunde: Der Generalsekretär der dortigen Kommunistischen Partei war der erste, der uns verraten hat. Er war gegen den bewaffneten Kampf und versuchte, unserer Gruppe den Mut zu nehmen und uns zum Aufgeben zu bewegen. Aber warum hat Che in Bolivien gekämpft, warum – als Argentinier – in Kuba? Er ist zweimal durch Lateinamerika gefahren. Dabei hat er die Situation der Bevölkerung in den verschiedenen Ländern kennengelernt. Als wir nach Bolivien gingen, lag die Lebenserwartung der Bauern bei 34 Jahren. Che wusste, dass 76,7 Prozent der Bevölkerung Analphabeten waren, und er kannte auch die hohe Mütter- und Kindersterblichkeitsrate. Deshalb hat Che gekämpft. Das ist Internationalismus.

    Wie ist er dort mit seinen Mitstreitern umgegangen?

    Ich möchte dazu eine Anekdote erzählen: Einmal hat er einem Genossen gesagt, er solle den Schichtplan für den Wachdienst machen. Später fragte er ihn nach der Liste, weil er wissen wollte, wann er Dienst habe. Als Che die Liste sah, stellte er fest, dass er nicht darauf stand, und sagte: »Wenn jeder 50 Minuten dran ist, gib jedem eine 50-minütige Schicht. Ich mache ab heute meinen Dienst wie jeder andere Soldat, unabhängig davon, ob ich hier für die Führung verantwortlich bin.«

    Sie waren auch bei der Attacke dabei, bei der Che Guevara festgenommen und anschließend ermordet wurde. Wie ist es dazu gekommen?

    Das letzte Mal, dass ich Che gesehen habe, war am 8. Oktober 1967 um zehn Uhr morgens. Er schickte mich mit einem weiteren Genossen los, einen Abschnitt eines Passes zu besetzen. Das haben wir gemacht. Das gegnerische Heer war auf dem Hügel. Sie schickten Soldaten auf beiden Seiten des Passes los und versuchten, uns zurückzudrängen und zu umzingeln. Aber weder Che noch wir sind in diese Falle getappt. Wir haben unsere Stellung gehalten. Doch Che hat versucht, unsere Verwundeten zum Arzt zu bringen. Als wir später dort ankamen, wo wir Che am Morgen zurückgelassen hatten, fanden wir die medizinischen Instrumente vor und den Mantel des Arztes. Als es dunkel wurde, kamen auch andere zurück. Sofort fragten wir sie nach Che. Sie fragten zurück, ob er nicht bei uns sei. Und sofort ging das Chaos ohne Führung los. Wir organisierten uns also neu und marschierten zu einem Treffpunkt, den Che festgelegt hatte, falls jemand verlorengehen sollte, etwa zwölf Tage Fußmarsch entfernt. Auf unserem Weg sind wir ganz nah an dem Ort vorbeigekommen, wo Che gefangengehalten wurde, nur 500 Meter entfernt. Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir ihn natürlich gerettet.

    Wie haben Sie von seinem Tod erfahren?

    Che hatte Benigno, einem kubanischen Genossen, ein Taschenradio überlassen, damit er Musik hören und darüber ein wenig vergessen konnte, dass er verwundet war. Das war unser einziges Kommunikationsmedium. Am Morgen des Tags nach der Attacke sagte ich während meines Wachdienstes zu Benigno: »Gib mir das Radio, damit ich Nachrichten hören kann.« Um acht Uhr morgens hörte ich ihm Radio, dass Che im Kampf verletzt worden sei, alle Dinge, die er im Rucksack hatte wurden beschrieben, auch seine Kleidung und sein Schutz für die Füße, weil er bereits seit einiger Zeit keine Stiefel mehr hatte. Um ein Uhr meldeten sie, dass er im Kampf schwerverletzt worden sei, und beschrieben wieder seine Besitztümer. Da haben sie schon begonnen, in Bolivien und weltweit auf die Ermordung vorzubereiten. Um acht Uhr abends sagten sie dann, dass der Che im Kampf gestorben sei, und beschrieben die gleichen Dinge. Sie hatten ihn aber an Händen und Füßen gefesselt, um ihn zu töten.

    Sie sind einer von den drei Kubanern, die den Kampf in Bolivien überlebt haben. Wie sind Sie dort herausgekommen, nachdem Che ermordet und ihre Gruppe weitgehend zerschlagen worden war?

    Das ist eine lange und schwierige Geschichte. Um Bolivien zu verlassen, mussten wir 2.900 Kilometer laufen, trafen 60 oder 70 Mal auf die bolivianischen Streitkräfte, hatten zwei Verwundete bei uns und wenig oder kein Essen. In den Anden mussten wir alle 50 oder 60 Meter anhalten, weil uns der Sauerstoff ausging. Letztlich sind wir in Chile angekommen, dort war das Volk auf der Straße. Das Verteidigungsministerium gab die Devise aus, dass wir durch kein Dorf fahren sollten, um die Menschenansammlungen zu meiden. Sie haben uns zu einer Basis der Streitkräfte gebracht, dort waren wir den ganzen Tag. Am Abend haben sie uns mit dem Flugzeug nach Antofagasta verlegt. Dort waren der Chef der Staatssicherheit und sein Stellvertreter, sie befragten uns. Schließlich haben sie uns nach Santiago gebracht, dort haben wir Salvador Allende getroffen. Damals noch Senator, hat er uns sehr geholfen, weil er unsere Auslieferung nach Bolivien verhindert hat, indem er Wachposten vor unseren Türen aufstellen ließ, weil er eine Entführung befürchtete.

    In Bolivien hat auch Tamara Bunke gekämpft, die vielen Lesern dieser Zeitung als Internationalistin aus der DDR ein Begriff ist. Kannten Sie sie?

    Klar, wie auch nicht. Für mich war Tamara, alias Tania, eine Heldin. Sie war eine sehr gute Schützin. In Bolivien war sie für die klandestine Organisation in der Stadt zuständig, für den ganzen Informationsfluss. Wieso sie dann letztlich mit uns im Dschungel gekämpft hat? Die Genossen Régis Debray und Ciro Bustos waren im März 1967 aus Kuba angekommen und hatten eine Botschaft von Fidel im Gepäck. In dieser Situation entschied Tania sich, mit ihnen zu gehen, um sie zu den anderen zu begleiten. Tania war ein Soldat – eine sehr feminine Frau, aber ein Soldat mit dem Mut eines Mannes im besten Sinne, und ihr wurde Respekt entgegengebracht. Sie ist am 31. August 1967 bei der Überquerung des Río Grande gestorben, nachdem der Bauer Honorato Rojas sie verraten hatte. In dem Hinterhalt wurde Tania verletzt und ließ sich vom Fluss davontreiben, aber die Soldaten sahen sie und ließen die Hunde auf sie los.

    Was bedeutet Ches internationalistisches Beispiel für uns heute?

    Che lebt und wird weiterleben im Herz aller fortschrittlichen Menschen der Welt, aller Revolutionäre. Menschen sterben, wenn die Völker sie vergessen. Che ist jemand, an den sich die ganze Welt erinnert. Ich war in Australien, dort haben sie seiner gedacht. Ich war dort auch an der Universität der Maori, der Ureinwohner, auch sie wussten, wer er war.

    Aber es gibt mindestens zwei Formen des Gedenkens – einerseits sein Porträt auf Hemden oder Mützen herumzutragen, andererseits seine Ideen zu bewahren.

    Man kann sein Bild auf einem Pullover tragen, ohne dass man ihn im Herzen trägt, seinen Internationalismus spürt. Wer das aber heute spürt, soll Technik und Wissenschaft studieren und den Völkern helfen. Man hilft den Menschen nicht dadurch, nur zu reden – die Rede mag noch so schön sein, aber das Gesprochene verliert sich im Wind. Wenn wir in der Lage sind, selbst den Schmerz zu spüren, den die Völker Lateinamerikas und der ganzen Welt erleiden müssen, dann sind wir Internationalisten.

    Wovon hängt das Überleben der kubanischen Revolution heute ab?

    Die kubanische Revolution hat überlebt und wird auch weiter überleben, denn sie hat die gesamte Welt, außer der Regierung der Vereinigten Staaten, an ihrer Seite. Wie viele Länder stimmen in der UN-Vollversammlung gegen die Blockade von Kuba! Die Kubanische Revolution gibt es wegen euch. Kämpft für uns, für diese kleine Insel in der Karibik, wie ihr es bereits jetzt tut! Kämpft auch um Venezuela, wie es mit diesem großartigen Menschen Hugo Chávez geworden ist, und das jetzt von Nicolás Maduro geleitet wird. Es hat das verdient.

    #Cuba #révolution #histoire

  • Geld regiert / Zweitgrößtes Parlament der Erde hat ausgesorgt: BDI gibt Bundestag Zehnpunkteplan vor (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/320645.geld-regiert.html

    Die Parlamentarier waren noch gar nicht im Berliner Reichstagsgebäude zusammengetreten, da verkündete der Bund Deutscher Industrieller bereits, wie in den kommenden vier Jahren abgestimmt wird: »Der BDI hat ein Zehnpunkteprogramm vorgelegt, das der Spitzenverband an alle Mitglieder der Sondierungsteams sowie alle Abgeordneten des neuen Bundestages gesendet hat.«

    Anstatt sich »wie bisher auf die Vermeidung von Steuerschlupflöchern und sozialpolitische Umverteilung zu konzentrieren«, müsse von nun an das Gegenteil angestrebt werden, so BDI-Präsident Dieter Kempf in seinem Grußwort. Nämlich: »Wachstum und Innovation«. Worte, bei denen Kinder zu weinen beginnen und die Alten ins Jenseits starren.

    Doch der Krieg soll nicht nur gegen den sozialen Frieden im Innern verschärft geführt werden. »Statt weiterer sozialer Wohltaten« müsse die Regierung auch die »Rohstoffversorgung für Zukunftstechnologien sicherstellen«. Ein unverhohlener Tipp an die Feldmützen – und das deutsche Verteidigungsministerium, ganz gleich, ob die Stimmen von einer Mehrheit von Unionsparteien, FDP und Bündnis 90/Die Grünen kommen (»Jamaika«) oder wem auch immer.

    Zu Beginn der neuen Legislaturperiode am Dienstag sind die Repräsentanten nicht nur gut vom BDI eingewiesen, sondern haben sich auch vermehrt: Im Reichstagsgebäude treffen sich künftig 709 Berufspolitiker. Im letzten Bundestag waren es noch 631. Die BRD leistet sich damit das größte Parlament der Erde nach dem chinesischen Volkskongress – der allerdings nur jährlich zusammentritt und fast 1,4 Milliarden Menschen zu berücksichtigen hat.

    Trotz des Gigantismus und des Zuwachses durch neue Überhang- und Ausgleichsmandate ist der Anteil der Frauen im obersten deutschen Repräsentationsorgan gefallen: Statt 230 werden es ab jetzt nur noch 218 sein (das entspricht 30,8 Prozent), die mit nunmehr 491 Männern den Plenarsaal besetzen (vor vier Jahren 401). Damit sind 90 Männer mehr im Raum und zwölf Frauen weniger. In seiner letzten Sitzung hatte der 18. Bundestag immerhin noch schnell die Homoehe beschlossen.

    #Allemagne #politique

  • Ein zwiespältiges Erbe
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/320566.ein-zwiesp%C3%A4ltiges-erbe.html
    C’est aujourd’hui le 500ème anniversaire de la publication des thèses contre le catholicisme par Martin Luther. C’est un événement national, alors le gouvernement de gauche de la capitale nous accorde un jour férié supplémentaire. L’année prochaine le « Reformationstag » sera de nouveau réservé aux habitants des contrées protestantes moins cosmopolites que Berlin.

    Pour l’occasion le journal communiste Junge Welt publie un article qui décrit comnent le jeune rebelle s’est mué en antisemite radical et fanatique au service des nobles convertis afin d’échappee au diktat de Rome. Ses idées sociales et économiques voient leur mise en oeuvre seulement par les nazis, qui veillent à ce que surtout aucun allemand arien ne souffre de la faim jusqu’au dernier moment de leur reigne.

    Du point de vue d’un pauvre provincial la politique sociale et économique des gouvernements libéraux de nos jours a l’air nettement moins « sociale » et « juste » que celle des nazis inspirés par les idées moyennageuses de Luther.

    Voici comment on peut être à la fois bon chrétien et menbre d’un parti néofasciste.

    Häretiker und Juden verfolgte der Reformator Martin Luther mit Vehemenz – zugleich war er einer der ersten Kritiker des Frühkapitalismus

    Von Gert Wendelborn

    Martin Luthers antijüdische Hetzschriften gegen das »böse, hurerische Volk« der Juden, die in den deutschen Fürstentümern seit langer Zeit Verfolgungen ausgesetzt waren, werfen einen langen Schatten auf die Feiern zum 500jährigen Jubiläum der Reformation.

    Gert Wendelborn schrieb an dieser Stelle zuletzt am 27. und 29. Mai 2017 über Luthers Auseinandersetzung mit Karlstadt und Thomas Müntzer sowie die Bauernkriege

    Am Dienstag feiert die evangelische Kirche die 500. Wiederkehr des Lutherschen Thesenanschlags in Wittenberg. Die Redaktion hat aus Anlass des Reformationsjubiläums den evangelisch-lutherischen Theologen und ehemaligen Professor für Kirchengeschichte Gert Wendelborn um verschiedene Beiträge zu Martin Luthers Leben und Wirken gebeten. Wir veröffentlichen davon heute den letzten Teil über Luthers Kritik der Täuferbewegung sowie seinen Antijudaismus und sein Verhältnis zum Frühkapitalismus. (jW)

    Ein Streitthema des frühen 16. Jahrhunderts war die Erwachsenentaufe, wie sie die Täuferbewegung praktizierte, die bald überall verfolgt wurde. Dabei ging es im Kern nicht um die Tauflehre als Bestandteil der Dogmatik, sondern um das christliche Selbstverständnis. Die oft fälschlicherweise Wiedertäufer genannten Gläubigen sahen die Säuglingstaufe als ungültig an. Taufe konnte für sie nur ein Bekenntnisakt mündiger Christen sein. Mit der Säuglingstaufe entschieden die damaligen Christen über den Charakter ihrer Kirche: Sollte sie weiterhin – wenn auch unter veränderten Bedingungen – eine Staatskirche sein oder vielmehr die von der »Welt« im widergöttlichen Sinn sichtbar geschiedene Minderheitskirche der wirklich ihr Leben nach dem Glauben Gestaltenden? Das war der eigentliche Grund dafür, warum Katholiken, Lutheraner und Reformierte hier jede Toleranz vermissen ließen und notfalls zu härtester Vergeltung bis zum Todesurteil schritten. Sie wollten sicher sein, dass sich ihnen niemand entziehen konnte, dass der kirchliche Anspruch auf sämtliche Bewohner des Territoriums ungeschmälert in die Praxis umgesetzt werden konnte.
    Intoleranz gegen die Täufer

    Bis 1525 war Martin Luther (1483–1546) vor allem bemüht, in seinen Schriften einen Glauben auch in Kleinkindern nachzuweisen. Er betrachtete ihn als durch die Taufe hervorgebracht, zugleich verwies er auf den Glauben der Eltern und Paten. Das Fehlen des Verstandes beim Säugling schien ihm geradezu ein Vorzug, da dieser dem Glauben nur im Weg stehe. Seit 1528 hob Luther hervor, dass es vor allem auf Gottes Einsetzung und Befehl ankomme. Die Taufe sei unabhängig vom Glauben gültig. In einem frühen Taufsermon vom November 1519 hatte er noch andere Akzente gesetzt. Das Untertauchen des Täuflings hatte er dort so gedeutet, dass der alte Mensch in den Tod gegeben werde. Das Ersaufen der Sünde geschehe freilich in diesem Leben nicht völlig. Das Zeichen werde nur einmal im Leben vermittelt, aber die geistliche Taufe dauere lebenslang und komme erst im Tode an ihr Ziel, wenn der Mensch sich aus Gottes Hand völlig neu empfange. Die Betonung lag hier also noch auf dem lebenslangen existentiellen Prozess des Glaubens. Luther wollte damit den Taufakt keineswegs in seiner Bedeutung mindern, sondern die Taufe in den gesamten Lebensvollzug integrieren.

    Eine solche Argumentation wurde später durch den Verweis auf die Autorität abgelöst. Schließlich sei die Kindertaufe seit der Zeit der Apostel geübt worden, wäre sie eine Irrlehre, hätte sie sich nie so lange halten können. Neutestamentliche Belege spielten für Luther nur eine geringe Rolle. Die Anhänger der Erwachsenentaufe rechnete er zu den »Schwärmern«, zwischen deren einzelnen Erscheinungsformen er kaum differenzierte, weil es ihm in jedem Fall um eine radikale Absage ging. Persönlich dürfte er nie Taufgesinnte kennengelernt haben. In der ersten Periode der Reformation war er noch der Ansicht, dass Irrlehren nicht bestraft werden dürfen, da dies nur zu Heuchelei und Verstellung führe. In Kursachsen gebe es Raum für verschiedene, auch für falsche Glaubensüberzeugungen. Der unumgängliche Kampf mit diesen müsse mit geistigen Mitteln ausgefochten werden, und die Obrigkeit habe sich in diesen nicht einzumischen. Auch wusste Luther, dass in jeder Häresie ein Körnchen Wahrheit steckt.

    Bald schon aber änderte er seine Meinung. Wenn eine Irrlehre in die Nähe des Aufruhrs gerate, habe der Staat die Pflicht, diese zu unterdrücken. Von den Täufern verlangte er um der Ordnung willen in einem weiteren Schritt, auf die öffentliche Ausbreitung und Ausübung ihres Bekenntnisses zu verzichten. Wer sich in die Landesgesetze nicht schicken wolle, der solle das Land verlassen. Der letzte Schritt war, dass Luther auch das heimliche Festhalten am täuferischen Bekenntnis unter Strafe gestellt wissen wollte. Da er den friedlichen Täufern im östlichen und südlichen Teil des Reichs im Gegensatz zum sogenannten Täuferreich von Münster den Vorwurf des Aufruhrs nicht machen konnte, unterstellte er den Häretikern Gotteslästerung. Darunter verstand er schon das Fernbleiben von den offiziellen Gottesdiensten als Missachtung des Predigtamtes. Jede nicht lutherische evangelische Predigt wurde nun mit Friedensstörung und Aufruhr gleichgesetzt. Greife die Obrigkeit nicht ein, so würden die »Rottengeister« die Seelen verführen und morden. Dass die Erwachsenentaufe auch reichsrechtlich mit dem Tod bedroht wurde, gab ihm die juristische Begründung für seine Stellungnahme. Seit 1531 stand Luthers Unterschrift auf den vor allem von Philipp Melanchthon (1497–1560) ausgearbeiteten Gutachten der Wittenberger Theologen, die für »Wiedertäufer« die Todesstrafe bzw. in leichteren Fällen Einkerkerung und Landesverweisung vorsahen.

    Der Strasbourger Reformator Martin Bucer (1491–1551) und der Landgraf Philipp von Hessen (1504–67) verhielten sich in dieser Frage wesentlich toleranter als Luther. Bucer wies darauf hin, dass man gegen Altgläubige in Kur­sachsen nie solche Maßnahmen ergriff. Philipp verzichtete lebenslänglich auf die Todesstrafe für Täufer, obgleich diese auf seinem Territorium viel häufiger anzutreffen waren, und beschränkte sich auf das Mittel der Ausweisung. Die Wittenberger Theologen kritisierten ihn deshalb 1536 in einem Gutachten, unterzeichnet von Luther, Caspar Cruciger d. Ä. (1504–1548), Johannes Bugenhagen (1485–1558) und Melanchthon. Sie beriefen sich dabei auf Könige des Alten Testaments, die falsche Propheten hätten töten lassen. Die Obrigkeit, so hieß es, dürfe kein Unkraut wachsen lassen. Die Ablehnung der Kindertaufe würde das Volk letztlich ins Heidentum führen. Die zur Schau getragene Heiligkeit der Täufer sei nur Heuchelei und ein teuflisches Trugbild. Melanchthon übertraf bei dieser Abgrenzung nach »links« Luther noch an Strenge.

    1538 schrieb Luther eine empfehlende Vorrede zu einer Schrift des Eisenacher Superintendenten Justus Menius (1499–1558), die den Gipfel lutherischer Intoleranz gegenüber den Täufern darstellte und das Vorgehen gegen den Gerstunger Bauern Fritz Erbe (1500–1548) und andere thüringische Täufer zu rechtfertigen suchte. Weil Philipp die Zustimmung zu dessen Hinrichtung verweigerte, verbrachte Erbe insgesamt 16 Jahre im Kerker, zunächst in Eisenach und anschließend auf der Wartburg, bis ihn 1548 der Tod erlöste. Zwei seiner Anhänger, die ein nächtliches Gespräch mit dem Eingekerkerten zustande brachten, wurden Anfang 1538 hingerichtet, was im thüringisch-hessischen Grenzgebiet großes Aufsehen erregte.
    Der Reformator und die Juden

    Der Wandel in Luthers Stellung zu Häresie lässt sich neben den Täufern in besonders krasser Form in seinem Urteil über die Juden festmachen. Die Berliner Kirchengeschichtlerin Rosemarie Müller-Streisand urteilte in ihrem Buch »Luthers Weg von der Reformation zur Restauration« (Halle 1964): »Es gibt kaum einen Punkt, der so symptomatisch für die Wandlung des Kirchenverständnisses, für die Absage an die in der Kirche und nicht zu ihr zu vollziehende Buße ist wie die neue Stellung Luthers zu den Juden, die er in späterer Zeit einnimmt. War ihre Existenz ursprünglich ein einziger Bußruf für die Kirche, so wird ihnen nun ihre Unbußfertigkeit zum größten Vorwurf gemacht. Luther nimmt nun die gleiche Stellung zu den Juden als Feinden Christi, als Feinden des Kreuzes ein wie die gesamte mittelalterliche Kirche; die Schärfe seiner Aussagen übertrifft sogar das traditionell Übliche erheblich.«

    Ende 1513 hatte Luther sich noch im Streit Johannes Reuchlins (1455–1522) mit den Kölner Dominikanern auf die Seite des Humanisten gestellt. Die Christenheit übersehe ihre eigenen Fehler, wenn sie wie die Kölner die Konfiszierung rabbinischer Schriften verlange. Eine Bekehrung der Juden könne allein Gott vollbringen. Auch im Jahr 1520 hielt er es noch für eine verdammenswerte Raserei, die Juden zu verfolgen und ihre Leiden zu verhöhnen, wo doch nur Trauer, Schmerz und inständiges Gebet für sie angebracht seien. Er hoffte zu dieser Zeit auf die Bekehrung zwar nicht des gesamten jüdischen Volkes, aber doch einer größeren Zahl von ihnen, da diese mit der Reformation jetzt erstmals den christlichen Glauben in seiner reinen Form kennenlernen könnten. Deutlich tritt ein selbstkritisches Motiv hervor, wenn Luther erklärt, die Christen treffe eine Mitschuld an der jüdischen Gottlosigkeit, da sie die Juden durch ihre Grausamkeit abgestoßen statt sie durch Freundlichkeit für das Christentum zu gewinnen gesucht hätten. Und im Gegensatz zu den Christen, die an Feiertagen allein ihren Bauch pflegten, studierten die Juden am Sabbat wenigstens Mose und die Propheten. Sie seien nicht so verderbt wie die Papisten: »Man sage ihnen gütlich die Wahrheit; wollen sie nicht, lasst sie fahren! Wie viele sind Christen, die Christus nicht achten.«

    Luthers judenfreundliche, selbstkritische Phase erreichte ihren Höhepunkt 1523 in der Schrift »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei«, einer Gelegenheitsarbeit. Unter dem Regiment der Papisten wäre auch er, als Jude, lieber eine Sau als ein Christ geworden, schrieb Luther. »Sie haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen, haben nichts anderes zu tun gewusst, als sie zu schelten und ihnen ihr Gut zu nehmen, wenn man sie getauft hat; keine christliche Lehre noch Leben hat man ihnen bewiesen, sondern sie nur der Päpsterei und Möncherei unterworfen.« Diese Schrift setzte große Erwartungen in die Juden. »Wenn die Apostel, die auch Juden waren, so mit uns Heiden gehandelt hätten wie wir Heiden mit den Juden, so wäre nie einer Christ unter den Heiden geworden.« Luther kritisierte die Isolierung der Juden in Ghettos und forderte die Christen dazu auf, ihnen volle Gemeinschaft und damit das Recht freier Berufsausübung zu gewähren. Bisher habe man sie durch Beschränkung ihrer Freiheit zum Wucher getrieben. Die Reformation entfachte unter gläubigen Juden die Hoffnung, missionierend für das eigene Bekenntnis eintreten und ihre Bewegungsfreiheit vergrößern zu können.
    Fackelträger des Judenhasses

    Als Luther gewahr wurde, dass sich die Juden keineswegs zum Christentum bekehren lassen wollten, verlor sich der selbstkritische Zug seine Theologie. Mitte der dreißiger Jahre setzte eine verstärkte Polemik gegen die Juden ein. Von der Coburg aus trat er 1530 in einem Gutachten noch relativ freundlich für ihre begrenzte Duldung ein, äußerte sich in Predigten zwischen 1528 bis 1532 freilich schon explizit antijüdisch. Bezeichnend für die Wende in Luthers Verhältnis zu den Juden ist etwa der Satz: »Wenn sie den Namen Jesus hören, können sie es nicht lassen, dass sie speien.« Die Juden, so Luther, erwarteten einen Messias mit Säcken voll Korn und Beuteln voll Geld. Luther glaubte auch dem Gerücht, die Papisten hätten einen jüdischen Arzt aus Polen gedungen, ihn zu ermorden, worauf in Wittenberg zwei Personen verhaftet wurden. Von hier wie aus vielen anderen deutschen Städten waren die Juden bereits im 15. Jahrhundert vertrieben worden, so dass es eine Judengasse dort nur noch dem Namen nach gab. 1536 wurde ihnen schließlich der Aufenthalt im gesamten Kurfürstentum verboten. Die Bitte von Josel von Rosheim (1476–1554), dem obersten Rabbi des Heiligen Römischen Reiches, sich für die Erlaubnis zur Durchreise von Juden durch Sachsen einzusetzen, lehnte Luther ab. Mit einem öffentlichen Brief 1538 verfolgte er den Zweck, die Juden vor der Unsinnigkeit ihrer Messiashoffnung zu überzeugen. Das Mosegesetz, so argumentierte er, sei seit Christus außer Kraft. Die Juden müssten sich von ihren Rabbinern abwenden, sie seien lediglich Verführer. Dass die Juden schon seit 1.500 Jahren im Elend lebten, zeuge von ihrer einzigartigen Schuld und ihrer Verstockung gegenüber Christus. Sie müssten endlich lernen, dass Gottes neuer Bund den alten völlig ersetzt und nicht nur ergänzt habe.

    Seine antijüdische Polemik erreichte 1543 in der Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« einen schaurigen Höhepunkt. Der faschistische Theologe Wolf Meyer-Erlach urteilte 1937 in seinem Buch »Juden, Mönche und Luther«, der Reformator habe hier »als Fackelträger einer neuen Weltepoche Forderungen aufgestellt, neben denen die Nürnberger Gesetze zur Regelung der Judenfrage in Deutschland wissenschaftlich kühl, sauber und sachlich erscheinen«.

    Luthers Schrift richtete sich nun auch nicht mehr an die Juden, weil er an ihre Bekehrung in ihrer Gesamtheit nicht mehr glaubte. Sie sollte vielmehr die Christen vor der jüdischen Irrlehre warnen. Was den heutigen Leser besonders erregt, sind Luthers Forderungen an die Obrigkeit. Er verlangte die Vernichtung aller Synagogen »mit Feuer, Schwefel und Pech«. Was nicht brennen wolle, solle man mit Erde zuschütten, »dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich«. Zweitens solle man alle Privathäuser der Juden zerstören. Drittens solle man ihnen die Bibel bis zum letzten Blatt und alle liturgischen Bücher und Lehrschriften nehmen. Viertens sei bei Todesstrafe jeder öffentliche Gottesdienst und jede Lehrveranstaltung der Rabbiner zu verbieten. Fünftens sollten sie nicht einmal Gottes Namen mehr aussprechen dürfen. »Der Juden Maul soll nicht wert gehalten werden bei uns Christen, Gott vor unseren Ohren zu nennen, sondern wer es von den Juden hört, soll es der Obrigkeit anzeigen oder mit Saudreck auf ihn werfen«, denn sie seien »mit allen Teufeln besessen«. Sechstens solle man den Juden »das Geleit und die Straßen ganz und gar aufheben«, sie also nicht mehr als Händler wirken lassen, ja ihnen verbieten, sich frei auf der Straße zu bewegen. Siebtens solle man ihnen den Wucher verbieten und ihnen Geld und Wertsachen bis zum letzten nehmen. Achtens schließlich sollte Zwangsarbeit für alle jungen Juden beiderlei Geschlechts eingeführt werden.

    Tatsächlich wurden in der Folgezeit in mehreren evangelischen Territorien ganze jüdische Gemeinden vertrieben. Luther erwog auch die Deportation aller Juden nach Palästina. In einer weiteren Schrift aus demselben Jahr wurden kritiklos die antijüdischen Anschuldigungen kolportiert, dass die Juden Wasser vergiften und Kinder stehlen würden. Luther pries die Staaten, die die Juden verjagt hatten. Noch in seiner letzten Predigt vom 15. Februar 1546 in Eisleben forderte er die weltlichen Herren auf, bekehrungsunwillige Juden aus ihrem Machtbereich zu vertreiben.
    Kritik des Frühkapitalismus

    Bezeichnenderweise erwähnte Luther in seinen frühen Schriften über den Wucher die Juden mit keinem Wort, während er in der Spätzeit seinen Kampf gegen das zinstragende Kapital mit antijüdischen Argumenten versah. Schon 1519 veröffentlichte Luther einen »Kleinen Sermon von dem Wucher«, wobei schon im Titel deutlich wird, was ihn angesichts des frühen Kapitalismus zum Protest veranlasste. Den genannten Text erweiterte er 1520 zu einem »Großen Sermon« und ließ ihn vier Jahre später als zweiten Teil seiner Schrift »Von Kaufhandlung und Wucher« aufs neue drucken. Hier prangerte er das Zinsnehmen heftig an und bezeichnete es als Diebstahl und Raub. Er nannte es sogar ein gerechtes Gericht Gottes über die Kaufleute, dass sie gelegentlich von Raubrittern ausgeplündert werden, weil hier ein Räuber den anderen übervorteile. Die katholische Kirche hatte zwar ein strenges Zinsverbot erlassen, im Spätmittelalter aber war es längst aufgelockert.

    Der marxistische Wissenschaftler Günter Fabiunke hat in seinem Buch »Martin Luther als Nationalökonom« (Berlin 1963) darauf hingewiesen, dieser habe in prinzipiellem Widerspruch zum Monetarismus als der Keimform bürgerlichen ökonomischen Denkens gestanden. Freilich meint Fabiunke, Handels- und Wucherkapital als erste Äußerungen frühkapitalistischer Wirtschaftsform hätten eine progressive Funktion gehabt, da sie die feudalistischen Produktionsverhältnisse durchbrachen.

    Es ist zu berücksichtigen, dass diese »uralten Formen des Kapitals«, wie Karl Marx sagt, fest den herrschenden Feudalkräften verbunden blieben. Die zukunftsbestimmende Schicht des Bürgertums war nicht dem bald wieder aus dem ökonomischen Leben verschwindenden Finanz-, sondern dem gewerblichen Unternehmerkapitalismus zuzurechnen. Fabiunke macht selbst darauf aufmerksam, dass es das kapitalistische Profitdenken war, das Luther schon in seiner anfänglichen Ausprägung befremdete. Letztlich kämpfte er bereits im Namen des christlichen Ethos gegen dessen enthumanisierende Auswirkungen.

    Luther lebte in einer bewegten Übergangszeit, so dass sich feudale und bürgerliche Denkschemata in seinem Innern mischten. Er war dabei nicht gegen das Geld als solches. Er trat auch nicht gegen den Handel oder den Kaufmannsberuf an sich auf. Aber er verwahrte sich dagegen, dass sich Kaufleute über ihren Arbeitsaufwand und ihre Selbstkosten hinaus Mehrwert aneigneten. Sein besonderer Zorn richtete sich gegen die großen Monopolgesellschaften wie die Fugger, in denen Handels- und Wucherkapital bereits vereinigt waren und die die Preise künstlich in die Höhe trieben. Das verstieß fundamental gegen die alte Ehrbarkeit und gegen das Ethos der Bergpredigt.

    Nach Luther sollte man auch im Wirtschaftsleben das Wohl des Nächsten nicht außer acht lassen. Man müsse sogar bereit sein, einem Bedürftigen kostenlos Geld zu leihen, wenn man es entbehren könne. Überhaupt dürfe das Geld nicht zum Selbstzweck werden. Der Tauschwert einer Ware müsse ihrem Gebrauchswert untergeordnet bleiben. Waren seien zum Verbrauch bestimmt statt zur Erzeugung eines Mehrwerts. Die einzelnen Stände dürften zwar nach ihren überkommenen Gepflogenheiten konsumieren, doch sollten sich die Ansprüche in Grenzen halten. Es gebe Formen des Aufwands und des zur Schau gestellten Luxus, die schlicht unsittlich seien. Auch gehe zwecks des Imports von Luxusartikeln zuviel Geld außer Landes. Deshalb trat Luther ebenfalls gegen die Frankfurter Messe auf, die er als ein »großes Silber- und Goldloch« bezeichnete. Die Regierungen wurden aufgefordert, regulierend einzugreifen, die »Monopolia« aufzulösen und Wucherzinsen zu verbieten.
    Agitation gegen den Wucher

    Die beträchtliche Warenverteuerung, die das Fürstentum Sachsen in den 1530er Jahren erlebte, war großenteils dadurch bedingt, dass der Erzbergbau viel Geld in die Hände der Wohlhabenden gebracht hatte. Eine Missernte 1538 verschärfte das Problem und brachte akute Not, zumal zahlreiche Adlige und Bauern ihr Getreide bewusst zurückhielten, um die Preise weiter in die Höhe zu treiben. Luther bezog als Pfarrer ein festes Gehalt, während Warenproduzenten die Waren laufend verteuern konnten. 1541 forderte er eine generelle Gehaltserhöhung für Pfarrer. Schon im April 1539 verlangte er in Eingaben an den Wittenberger Bürgermeister Lucas Cranach (1472–1553), den Rat und den Kurfürsten Maßnahmen gegen die Wucherer. Noch im selben Jahr begann er mit der Ausarbeitung einer neuen Schrift, die unter dem Titel »An die Pfarrherren, wider den Wucher zu predigen« zu Neujahr 1540 erschien und noch im selben Jahr dreimal nachgedruckt wurde. Luther wiederholte hier seine prinzipielle Abneigung gegen die Erhebung von Zinsen, zumal er erfahren hatte, dass in Leipzig 30 Prozent und in Naumburg sogar 40 Prozent Zinsen verlangt wurden. Da die Obrigkeit in diesem Kampf versage, sollten die Pfarrer gegen den Wucher auftreten und Kirchenzuchtmaßnahmen in die Wege leiten. Man solle den Wucherern keine Sakramente mehr reichen, sie nicht zu Hochzeiten zulassen und ihnen das christliche Begräbnis verweigern. Drastisch erklärte Luther, wer wie Hund oder Sau gelebt habe, solle auch wie diese verscharrt werden. Auch die Lehrer sollten in ihren Schülern Abscheu gegen das Zinsnehmen erwecken.

    Dabei ging Luther allerdings nicht soweit, zur Verweigerung bestehender Zahlungsaufforderungen aufzurufen. Niemand dürfe sich auf eigene Faust widersetzen, einmal zugefügtes Unrecht müsse erduldet werden. So verblieb Luther, den Marx als den »ältesten deutschen Nationalökonomen« bezeichnet hatte, auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht seiner Theologie verhaftet.

  • Inhaltsleeres Ritual / Wahlkampf und Abstimmung täuschen Teilhabe der Bürger vor. Vor fünfzig Jahren beschrieb der Politikwissenschaftler Johannes Agnoli die »Transformation der Demokratie« (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/318683.inhaltsleeres-ritual.html

    Von Hansgeorg Hermann

    In einem Aufsatz schrieb Johannes Agnoli 1977: »Nach der letzten Bundestagswahl fand in der Katholischen Akademie Schwerte eine Tagung zum Thema ›Wozu Wahlkampf‹ statt. An ihr nahmen auch Soziologen, die die Resultate ihrer empirischen Wahlforschung vorlegten, und Vertreter der Bundesparteien teil. Die ›Vertreter der Wissenschaft‹ – so wurden die Soziologen im Laufe der Tagung apostrophiert – stellten übereinstimmend fest, dass Wahlkämpfe in der Schlussbilanz so gut wie nutzlos seien und inzwischen den Charakter eines in der demokratischen Ordnung vorgeschriebenen und daher zu absolvierenden Rituals angenommen hätten«. Agnoli hatte 1973 auf der genannten Tagung als Referent selbst teilgenommen.

    Agnoli, 1925 geboren, gestorben 2003 in seinem Heimatland Italien, Professor für Politische Wissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, Protegé des Sozialisten Wolfgang Abendroth und ehemaliger Adept des präfaschistischen Vordenkers und Elitentheoretikers Vilfredo Pareto, hat in seinem vor 50 Jahren erschienenen Essay »Die Transformation der Demokratie« vorhergesagt, was inzwischen als unumstößliche Wahrheit gelten kann: Die westliche »liberale Demokratie« ist eine Schimäre. Sie ist nicht das, was der Name suggeriert, eine »Volksherrschaft« in irgendeiner Art und Weise. Agnoli war eine der Symbolfiguren der 68er-Bewegung. Ein wichtiger Grund für die Kinder dieser Revolte, ihn, sofern sie irgendwann einmal Karriere machten, sei sie politischer und/oder wirtschaftlicher Art, früher oder später zu vergessen.

    Hätte nicht der in den 1960er und 1970er Jahren lager- und strömungsübergreifend geschätzte Journalist, Essayist und Kritiker Sebastian Haffner seine Analyse im März 1968 in der Zeitschrift Konkret besprochen, wäre der Name Agnoli wohl tatsächlich im Schatten der Vergangenheit verschwunden. Haffner, ein eher dem konservativ-liberalen Bürgertum als der damaligen linken Avantgarde zuzurechnender Autor – er schrieb unter anderem auch für Springers Welt –, leitete seine Kritik mit Worten ein, die bis heute Gültigkeit beanspruchen können: »Nominell leben wir in einer Demokratie. Das heißt: Das Volk regiert sich selbst. Tatsächlich hat, wie jeder weiß, das Volk nicht den geringsten Einfluss auf die Regierung, weder in der großen Politik noch auch nur in solchen administrativen Alltagsfragen wie Mehrwertsteuer und Fahrpreiserhöhungen. Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten, Obrigkeit und Untertan, Macht der wenigen und Ohnmacht der vielen ist in der Bundesrepublik, die sich als Demokratie bezeichnet, heute nicht geringer als etwa im Deutschen Kaiserreich, das sich offen als Obrigkeitstaat verstand.«

    Das »entmachete Volk«, schrieb Haffner, habe »seine Entmachtung« nicht nur hingenommen, sondern sie »geradezu liebgewonnen«.

    Wer ist das Volk?

    Weder Agnoli noch der ihm zustimmende Haffner stellten sich vor fünfzig Jahren die Frage: Wenn Demokratie mit »Volksherrschaft« zu übersetzen ist – wer ist dann eigentlich das Volk? Die Mühe, den in diesen Tagen vor der 19. Bundestagswahl besonders bedeutungsvollen Begriff »Volk« zu entschlüsseln, hat sich kaum einer gemacht. Eric Hazan, Verleger der kritischen Pariser Edition »La fabrique« ist der Frage nach Sein und Wesen des »Volks« vor vier Jahren nachgegangen. In dem Sammelband »Qu’est-ce qu’un peuple« (»Was ist ein Volk?«) stellte er Aufsätze verschiedener Autoren zusammen, unter ihnen der Philosoph Alain Badiou, der Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu und Badious französisch-algerischer Kollege Jacques Rancière.

    Badiou kommt in seinem Essay zu der Schlussfolgerung: »›Volk‹ ist eine politische Kategorie, entweder hinsichtlich der Existenz eines gewünschten Staates, der von einer wie auch immer gearteten Macht verboten wird, oder – im Gegensatz dazu – eines bereits installierten Staates, dessen Verschwinden ein neues Volk, innerhalb und außerhalb des offiziellen Volks, verlangt.« »Volk«, so schreibt Badiou, sei »nur im Falle der Inexistenz des Staates ein positiver Begriff«. »Im Falle eines verbotenen Staates also, dessen Gründung es herbeisehnt. Oder eines offiziellen Staates, dessen Verschwinden es sich wünscht.« »Volk« sei demnach ein Topos, der seinen Wert nur in zwei Fällen erreicht: »entweder während eines Übergangstadiums, eines nationalen Befreiungskampfes, oder – definitiv – im Rahmen kommunistischer Politik«.

    Der Staat als Ende und nicht Anfang eines sich »Volk« nennenden Gemeinwesens? Pierre ­Bourdieu fand 1983 eine einfachere Formel: »All jene, die sich im Recht oder gar in der Pflicht glauben, vom ›Volk‹ zu sprechen, können problemlos einen objektiven Rahmen für ihre diesbezüglichen Interessen oder Hirngespinste finden«.

    Abgesehen von der fehlenden Antwort auf die Frage, wer eigentlich »das Volk« sein kann, darf oder soll, gibt Agnoli präzise Auskunft darüber, was Wahlen sind. In der Vorstellung des nicht näher definierten »Volkes« und auf einer »ab­strakt-ideologischen Ebene« erscheine der Wahlakt »als der eigentliche Wesensausdruck einer parlamentarisch gefassten Demokratie«. Das »Volk« entscheidet darüber, von wem es regiert sein will. Agnoli kommt in dem Aufsatz »Wahlkampf und sozialer Konflikt«, erschienen 1977 in dem Sammelband »Auf dem Weg zum Einparteienstaat«, dabei noch einmal auf die eingangs erwähnte Konferenz in Schwerte im Jahr 1973 zu sprechen: »Es standen unausgesprochen auch Grundprobleme des parlamentarischen Regierungssystems auf der Tagesordnung. Sie bezogen sich vor allem auf die Spezifizierung von Staats- und Verfassungsinstitutionen im Kontext eines politischen Systems, das historisch und aktuell nicht Menschenwürde und Wahlfreiheit zu gewähren, sondern die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft zu organisieren und also die Kapitalakkumulation zu garantieren hat.«

    Agnoli, der seinen Essay »Transformation der Demokratie« zu Beginn einer für den Obrigkeitsstaat Deutschland ungewöhnlichen, bis etwa 1972 sich austobenden Revolte schrieb, erkannte die sogenannten »demokratischen, verfassungsstaatlichen Institutionen« als das, was sie noch heute sind: »Was als Erfüllung des Verfassungsauftrags erschien, wird zur simplen Durchführung einer Funktion, deren allgemeine Orientierung nicht mehr bloß politisch vermittelt werden kann. Vielmehr wird sie durch den Prozess bedingt, der der gesellschaftlichen Existenz zugrunde liegt – den Produktionsprozess.« Seine Schlussfolgerung lautet: »Der Zweck der Politik liegt jenseits grundgesetzlicher Absichtserklärungen«.

    Hinter jeder »freien Wahl« steckt also letztlich das »objektive, der Kapitalreproduktion immanente Erfordernis, durch eine spezifische institutionelle Strategie all jene gesellschaftlichen Prozesse wieder einzufangen, deren Ausbruch oder Ausbruchspotential die weitere Existenz einer kapitalistischen Gesellschaft gefährden oder negieren – vor allem in Krisenperioden und in den daraus entstehenden Bruchsituationen.« Folgt man Agnolis Analyse, dann war das vom bundesdeutschen Verfassungsgericht auf Antrag der Regierung Adenauer am 17. August 1956 ausgesprochene Verbot der KPD völlig unnötig. Mit 2,2 Prozent der Stimmen war sie 1953 an der Fünf-Prozent-Klausel gescheitert und hatte in den Jahren danach nicht an Wählerzuspruch zugelegt. Andererseits ging es damals um das von den Nazis zwei Jahrzehnte zuvor propagierte »Ausmerzen« einer gesellschaftlich-politischen Gruppe – und Toleranz war den damals und bis heute unter demselben Parteinamen »Christlich Demokratische Union« Herrschenden fremd.
    Präventive Konterrevolution

    Am Beispiel der sich immer noch »Arbeiterpartei« nennenden SPD, vor allem aber an dem der »Grünen« wird deutlich, was Agnoli vorhersagte: Wie Wahlen und das ihnen zugrundeliegende Parteiensystem aus einer ehemals einigermaßen kapitalismuskritischen, zu Beginn außerparlamentarischen Opposition (APO) eine heute wirtschaftsliberale Formation machten, die bei der Abstimmung am kommenden Sonntag mit der FDP um die Stimmen für eine Koalition mit der ewigen Kanzlerpartei CDU wetteifert. Agnoli: »Richten sich solche Prozesse und Bewegungen« – die Studentenrevolte 1968, der Aufstieg der APO als Partei »Die Grünen« – »nicht bloß gegen politische Macht und Machtträger, gegen das System der Zusammenfassung der Gesellschaft, sondern gegen deren Basis: die Produktionsweise auf allen Ebenen ihrer Reproduktion – tendieren sie also zu revolutionärer Veränderung, so kann die sie auffangende Strategie« – Parteiverbot, Notverordnung, Verfassungsänderung – »als eine Politik der präventiven Konterrevolution begriffen werden«.

    Agnoli will den Begriff der »präventiven Konterrevolution«, der auch seiner Meinung nach allgemein zunächst mit dem »historischen Faschismus« verbunden wird, nicht als »moralische Verurteilung« verstanden wissen, auch wenn sich der gemeinte Sachverhalt »für die Interessen der Arbeiterklasse und der großen Masse der Bevölkerung« eindeutig negativ auswirke und sich »im allgemeinen Sinn einer gesellschaftlichen Emanzipation entgegenstellt«. Nicht nur das. Bis heute gilt: »Sicher werden die Verfechter der Organisationsregeln und der soziomoralischen Prinzipien der Gesellschaft der präventiven Konterrevolution eher einen heilsamen Sinn beimessen und sie als Versuch auffassen, nicht etwa die Produktion von Tauschwerten und die Reduktion menschlicher Beziehungen auf Tauschverhältnisse, sondern Demokratie, Freiheit, Menschenwürde, Marktwirtschaft und Unternehmerinitiative« zu retten.

    Akt der »Loyalisierung«

    Die Herbeiführung eines allgemeinen gesellschaftlichen Konsensus, von Agnoli »Loyalisierung« genannt, setzt keineswegs ein politisches Einparteiensystem voraus. Der kürzlich verstorbene Langzeitkanzler Helmut Kohl führte 1980 die »freiheitliche demokratische Grundordnung« in den Wahlkampf ein. Eine »Loyalisierung«, der sich in den Folgejahren nur jene Bewohner der »freien westlichen Welt« zu entziehen wagten, die mit dem Begriff »Volk« im Sinne Alain Badious allenfalls ein Übergangsstadium im Rahmen nationaler Freiheitskämpfe in Afrika oder Lateinamerika bezeichneten. Agnoli: »Die Massenloyalität und die Konsensbildung – es geht unausgesprochenerweise doch immer um die Integration der Arbeiterklasse und um die Loyalisierung der abhängigen Mehrheit der Bevölkerung –, die allgemeine Zustimmung äußert sich also in einem bürgerlichen Staat mit parlamentarischem Regime nicht in der bedingungslosen Unterstützung der Regierung seitens aller sozialer Gruppen, geschweige denn der Klassen, die die kapitalistische Gesellschaft strukturieren. Sie vollzieht sich vielmehr in der permanenten Mittäterschaft im totalen System, die sich auch als Beteiligung am Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition realisieren kann. Und der Wahlkampf geht gerade von der äußeren Form (oder der Fiktion) der Beteiligung aus.«

    Weshalb aber, fragt Agnoli zu Recht, investiert das Kapital in Wahlkämpfe, erträgt »tote Kosten«, wenn sich die Notwendigkeit solcher Kampagnen »nur als kabarettistische Überzeichnung« aus der Kapitalbewegung ableiten lässt? Warum wird eine kostspielige Strategie finanziert, »die scheinbar der Akkumulation äußerlich ist«? »Wie kommt das Kapital dazu, in ein inhaltsleeres Ritual (nicht in die Machtverteilung als solche, sondern in den Schlagabtausch) zu investieren?« In einer Massengesellschaft, vermutet der Autor, gehöre es »einfach zur politischen Klugheit, den Schein der Partizipation aufrechtzuerhalten«. Dass der Wahlkampf sich besonders dazu eignet, dem einzelnen und isolierten Bürger die Befriedigung des Entscheidungsbedürfnisses vorzugauckeln, müsse daher nicht weiter vertieft werden. »Die wirkliche Vermittlung zwischen Massenbeteiligung und Massenzähmung vollzieht sich auf einer anderen Ebene.«

    In der Diskussion über die Bestimmung des nach dem Krieg entstandenen Staats Bundesrepublik Deutschland nahm das Problem der Massendemokratie eine zentrale Stellung ein. Die »Argumentationsweise«, die man dabei fand, war nach Agnolis Ansicht eine, die »eine eindeutig negative Einschätzung der politischen Urteilsfähigkeit der Massen erkennen lässt«, welche wiederum »zuweilen in Missgunst und Massenfeindlichkeit umschlägt (…) und sogar an offen faschistische Aussagen erinnert«. Belanglos sei in dem Zusammenhang, dass diese Einschätzung geschichtlich mit den häufig ins Spiel gebrachten »Weimarer Erfahrungen« operiert. »Vom derart ideologisch begründeten Postulat einer angeblich natürlichen Unglaubwürdigkeit und Unzuverlässigkeit der Massen ausgehend, wurde für die neue deutsche Verfassungsordnung eine in der Tat sehr interessante und – wie sich später zeigte – überaus funktionale Lösung proklamiert: Die Demokratie ohne demos« – also die Volksherrschaft ohne Volk.

    Man könne nun annehmen, schreibt Agnoli, »dass in der weiteren Entwicklung des europäischen Kapitals (mit dem immer eindeutiger sich durchsetzenden imperialistischen Charakter, der nach 1945 geduldig und klug rekonstruiert wurde) und der sozialen Konflikte« die »Bonner Lösung so etwas wie einen ›deutschen Fall‹ darstelle«. Indessen sei das Problem »der institutionell oder sonstwie angestrebten Herstellung des Konsensus viel breiter zu sehen«. Es betreffe heute »jede kapitalistische Gesellschaft« und könne durchaus als »das politische Problem der neuen imperialistischen Periode« bezeichnet werden.
    Konsum von Politik

    Ein bedeutender Aspekt des Wahlkampfs sind nach Agnoli die Bestätigung oder die Wiederherstellung des Machtanspruchs und der ideologischen Präsenz politischer Gruppen, »(…) also der Parteien in einer Gesellschaft, deren Krisen und Widersprüche sich nicht mehr im Parteiensystem wiederfinden noch vom Parteiensystem gelöst werden können. Hierbei geht es nicht nur um Neutralisierung von Emazipationstendenzen und um die Vereinnahmung von Protesten, denn die Brüchigkeit des Verhältnisses Gesellschaftskonflikt-Parteienwettstreit bliebe auf diese Weise erhalten. Vielmehr wird als Ziel anvisiert und gesetzt, das Emanzipationsinteresse (ein durchaus unmittelbar materielles Interesse) und allgemeiner die Masseninteressen und die Massenbereitschaft zur Massenverfügbarkeit zu transformieren und sie auf die Interessen der herrschenden Klasse umzupolen.«

    Keinem ist das in den vergangenen Jahren in Europa so gut gelungen wie dem neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron. In scheinbarer Distanz zum alten, seit den Tagen des Generals Charles de Gaulle erfolgreich die Interessen der Eliten des Landes verteidigenden, korrupten politischen System der Fünften Republik fuhr er im vergangenen Juni mit seiner Bewegung »La République en Marche!« einen Sieg bei den Parlamentswahlen ein, an den selbst die Optimisten in seiner Wahlkampfmannschaft nicht zu glauben gewagt hatten. Im Sog seiner absoluten Mehrheit – er blieb zusammen mit den ihn unterstützenden Zentristen vom Mouvement démocrate knapp unter der Zweidrittelmajorität – sprangen altgediente Rechtskonservative ebenso wie Sozialdemokraten der Vorgängerregierung auf Macrons Zug auf. Das »Volk«, geplagt von gebrochenen Versprechen Francois Hollandes, glaubte, was Macron ihm eintrichterte: Dass die Interessen eines ehemaligen Investmentbankers, eines mehrfachen Millionärs und Schwiegersohns einer reichen, großbürgerlichen Familie, auch die seinen seien.

    Inzwischen ist Macron dabei, nicht nur sein eigenes Land im Sinne der französischen Großindustrie in ein neoliberales Paradies für Investoren des weltweit aktiven finanzkapitalistischen Systems zu verwandeln. Nein, er beginnt sogar die Deutschen mit seinen »modernen« Vorstellungen eines »funktionierenden Europas« unter Druck zu setzen.

    »Die Stimmbürger«, so beschrieb Agnoli das Phänomen, »sollen sich tunlichst nicht aktiv in das subtile Machtspiel der Parteien einschalten und keine Initiative ergreifen. So betrachtet wird die Passivität durch den aktiven Gebrauch des eigenen Wahlrechts erhärtet – die ironische Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft, die Aktivität und Passivität grammatikalisch und nicht politisch verteilt. Die passive Mobilisierung der Wählerschaft nennt sich aktives Wahlrecht, während die gewählten Repräsentanten zwar Politik aktiv praktizieren (sofern sie hierarchisch dazu in der Lage sind), […] jedoch nur das passive Wahlrecht« ausüben. »All das Negative, das sich in der Entwicklung einer unerträglich gewordenen Gesellschaft akkumuliert und zu sozialen Explosionen drängen kann, wird politisch auf die abgesicherten Parteigleise einrangiert.«
    Bedeutsamkeit des Unbedeutsamen

    Es liegt im Interesse des Kapitals, das betont auch Agnoli, alle Angriffe auf die Herrschaft – etwa im Rahmen des französischen Widerstands gegen Macrons im Sinne der Unternehmer umgeschriebenes Arbeitsrecht – zu verhindern und zu kanalisieren, mit »Pseudokonflikten«, wie es Macron ausdrückt, bzw. mit Marginalkonflikten zu irritieren. Ganz so, wie das in Wahlkämpfen vor sich geht. Agnoli: »Die empirisch soziologische Analyse will nachweisen, dass der Wahlkampf an sich ›insignifikant‹ ist. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass gerade in seiner unmittelbar erfahrbaren Unbedeutsamkeit sich dessen versteckte politische Bedeutung verbirgt.«

    Literatur:

    – Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie (und andere verwandte Schriften), Konkret-Literatur-Verlag Hamburg 2012

    – Alain Badiou, Pierre Bourdieu u. a.: Qu’est-ce qu’un peuple? La fabrique éditions , Paris 2013

    #Allemagne #élections #idéologie #histoire #démocratie

  • Zeitbomben auf Autobahnen / Durch das EU-Mobilitätspaket sollen Ruhezeiten für Lkw- und Busfahrer begrenzt sowie das Lohnniveau gesenkt werden (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/313012.zeitbomben-auf-autobahnen.html

    Wer die Lkw-Kolonnen auf überfüllten Bundesautobahnen und völlig überfüllte Rastplätze wahrnimmt, kann nur ahnen, wie unromantisch das Leben der Fernfahrer heutzutage ist. Enthüllungen über Hungerlöhne und unmenschliche Zustände sorgen für Empörung. Viele Fahrer sind Tag und Nacht auf Achse. Sie schlafen, essen und erholen sich in ihren Fahrzeugen und haben kaum freie Tage im Kreise ihrer Angehörigen.

    Doch der Wahnsinn hat Methode, und eine Besserung ist nicht in Sicht. Nun lassen Pläne der EU-Kommission für ein neues »Mobilitätspaket« die Gewerkschaften aufhorchen. Das in Brüssel ausgebrütete Richtlinienpaket solle, so die Behauptung seiner Urheber, eine stärkere »Harmonisierung« des europaweiten Straßengüterverkehrs herbeiführen und für »fairen Wettbewerb und Rechtssicherheit« sorgen. Doch die Gewerkschaften warnen vor verstärktem Sozialdumping.

    »Anstatt die schwarzen Schafe in der Branche zu bekämpfen, will die EU-Kommission bislang illegale Praktiken legalisieren«, bringt es Verdi-Chef Frank Bsirske auf den Punkt. Er warnt davor, dass mit den Berufskraftfahrern erstmals eine hochmobile Beschäftigtengruppe aus der europäischen Entsenderichtlinie herausgenommen werden soll. Dies stärke Lohndumping und führe zur Aushebelung nationaler gesetzlicher Mindestlöhne, sagte Bsirske. Mit der in den 1990er Jahren eingeführten EU-Entsenderichtlinie sollen für entsandte Beschäftigte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Aufnahmemitgliedsstaats gelten. Ohne Anerkennung des deutschen Mindestlohns droht etwa in der BRD eingesetzten bulgarischen Fahrern ein hoher Lohnverlust.

    Zudem sehen die EU-Pläne eine Verkürzung der vorgeschriebenen gesetzlichen Ruhezeiten und eine Verlängerung der Lenkzeiten vor. Dies betrifft alle Berufskraftfahrer von Brummis und Bussen. »Damit verabschiedet sich die EU-Kommission offen von einem sozialen Europa«, so Bsirske. Der Richtlinienentwurf will bestimmte Schutzregelungen erst ab dem dritten Tag wirksam werden lassen und die Möglichkeit öffnen, in drei aufeinanderfolgenden Wochen die wöchentliche Ruhezeit auf 24 Stunden zu verkürzen. Erst nach der dritten Woche sollen Fahrer etwa ein Anrecht auf eine 45stündige Ruhezeit bekommen. Damit würde sich die monatlich erlaubte Lenkzeit deutlich erhöhen. Dies habe gefährliche Auswirkungen für Fahrer im europaweiten Lkw- und Fernbusverkehr. »Lkw und Busse werden zu tickenden Zeitbomben auf unseren Straßen«, so der Verdi-Vorsitzende. Zunehmend könnten deutsche Unternehmen über Briefkastenfirmen in Osteuropa von den dortigen Arbeitsbedingungen profitieren, warnt Bsirskes Vorstandskollegin Andrea Kocsis und bescheinigt der EU-Kommission einen »eklatanten Eingriff in Arbeitnehmerrechte«.

    »Gerade für unsere Kollegen in Osteuropa wäre ein starker rechtlicher Rahmen wichtig, weil die Gewerkschaften oft nicht stark genug sind, nationale Regelungen oder Tarife durchzusetzen«, so Christina Tilling vom Dachverband Europäische Transportarbeiterföderation (ETF). Regelmäßige Ruhezeiten sollten zu Hause bei der Familie verbracht werden oder in Unterkünften, die den Standards des 21. Jahrhunderts entsprechen – einschließlich bewachtem Parkplatz für die Lkw«, verlangt der Vertreter der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc, Tomasz Michalak.

    Dass die Übermüdung der Fahrer schon jetzt ein riesiges Problem ist, zeigen Polizeiberichte über schwere Lkw-Unfälle, die auf bundesdeutschen Autobahnen und Transitstrecken immer wieder Todesopfer fordern sowie stundenlange Staus und chaotische Verkehrsverhältnisse auf Ausweichstrecken nach sich ziehen. Eine wirksame staatliche Überwachung der Einhaltung bestehender Vorschriften scheitert in der Praxis am Personal- und Ressourcenmangel der zuständigen Stellen.

    Die Gewerkschaften beanstanden, dass die EU-Bürokratie konkrete Vorschläge etwa für eine zügige Einführung intelligenter Fahrtenschreiber ignoriere und vielen EU-Abgeordneten die Brisanz gar nicht klar sei. Vor einer Beschlussfassung im EU-Parlament wolle man auch im Schulterschluss mit kleinen deutschen Spediteuren verstärkt Öffentlichkeit und Abgeordnete aufklären. Einige dieser Unternehmen teilten in vielen Punkten die Verdi-Bedenken, so Kocsis.

  • »Es werden Pseudoprobleme diskutiert« / Über den Film »Auserwählt und ausgegrenzt« sowie den ­konstruierten Zusammenhang zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus. Gespräch mit Rolf Verleger (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/313232.es-werden-pseudoprobleme-diskutiert.html

    Rolf Verleger, ehemaliges Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland, lehrte bis zu seiner Emeritierung Psychologie an der Psychologie Lübeck
    Fiktionen statt Fakten

    Nach einer öffentlichen Kontroverse über dessen Qualität und politische Tendenz sendete die ARD am vergangenen Mittwoch den 90minütigen Dokumentarfilm »Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa« der Autoren Joachim Schroeder und Sophie Hafner in einer aufbereiteten Fassung. Die dort gezeigte Version der vom WDR übernommenen Produk­tion von Arte war redaktionell bearbeitet und enthielt (offenbar zur Vermeidung rechtlicher Konsequenzen) an zentralen Stellen distanzierende Kommentare des Westdeutschen Rundfunks. Um einen »identischen Kenntnisstand« des Arte-Publikums in beiden Ländern zu ermöglichen, zeigte Arte den Film zeitversetzt am selben Abend.

    Nachdem die Produktion, die Antisemitismus in Deutschland, Frankreich, im Gazastreifen und im Westjordanland thematisiert, bei Arte wegen offensichtlicher und gravierender Mängel aus dem Programm genommen worden war, stellte Bild.de am 13. Juni eine noch unfertige Fassung für 24 Stunden zum Abruf auf die eigene Website und sorgte, orchestriert durch Autorenbeiträge, aggressiv für Publicity zugunsten der Ausstrahlung der Dokumentation im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, forderte Arte in einem offenen Brief auf, den Film zu zeigen.

    Begleitet war die Ausstrahlung im Ersten am 21. Juni von einem umfangreichen »Faktencheck« auf der Website des WDR, in dem reihenweise Fehler korrigiert und tendenziöse Darstellungen problematisiert werden. In einem anschließenden Spezial der Sendung Maischberger sagte WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn, eine gründliche Prüfung des Beitrags habe sieben Persönlichkeitsrechtsverstöße und 25 inhaltliche oder journalistische Fehler ergeben. Er wies auf mehrfache Verstöße gegen journalistische Standards hin, so sei etwa versäumt worden, angegriffenen Personen – vorzugsweise Aktivisten aus der Solidaritätsarbeit für Palästina – die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben.

    Teilnehmer der Talkshow Maischberger waren der Historiker Michael Wolffsohn, CDU-Politiker Norbert Blüm, der Psychologe Ahmad Mansour, die Journalistin Gemma Pörzgen sowie Rolf Verleger, früheres Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland. Wolffsohn zeigt sich im Gespräch mit Schönenborn erfreut über die Ausstrahlung und lobte diesen hämisch für seine »gelungene PR«. Die Kosten dieses antideutschen Publicity-Coups wurden dagegen nicht eigens thematisiert. (shu)

    Am vergangenen Mittwoch strahlte die ARD nach einer Kontroverse die Arte-WDR-Koproduktion »Auserwählt und ausgegrenzt« aus, in der es, so der Untertitel, um den »Hass auf Juden in Europa« gehen soll. Wie bewerten Sie diese Dokumentation, die trotz zahlreicher teils gravierender Mängel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gesendet wurde?

    Der Film will Werbung für eine politische Sicht machen und legt überhaupt keinen Wert darauf, ein Problem ausgewogen darzustellen. Es ging den Machern offensichtlich von Anfang an darum zu zeigen, dass Antisemitismus eine Konstante in der deutschen Bevölkerung sei. Der Teil zu Frankreich läuft ja völlig separat nebenher. Vor allem sollte gezeigt werden, dass Kritik an Israel per se antisemitisch sei. Insofern ist der Film in sich stimmig, wenn die Autoren sich rasch nach Israel begeben und fragen: Gibt es denn berechtigte Vorwürfe gegen diesen Staat? Und die Antwort dann unumwunden lautet, nein, die gibt es nicht. Daraus folgt, dass jeder, der hierzulande irgend etwas gegen Israel sagt, unsachlich ist. Dafür gebe es dann ja nur eine Erklärung, nämlich Antisemitismus.

    Kritik an Israels Politik kann aber nicht mit Kritik am Judentum gleichgesetzt werden. Das wäre so, als wenn man Kritik an Erdogans Türkei mit Kritik am Islam gleichsetzt. Das eine ist Politik, das andere sind Vorurteile gegen eine Gruppe von Menschen als Menschen. Es müsste eigentlich jedem einleuchten, dass das etwas anderes ist.

    Nichtsdestoweniger spricht etwa die FAZ im Zusammenhang mit diesem Film von einer »notwendigen Provokation«. Würden Sie sich diesem Urteil anschließen?

    In keiner Weise. Es geht vor allem darum, dass Proteste gegen 50 Jahre israelische Besatzung infolge des Sechstagekrieges in der Öffentlichkeit möglichst wenig Aufmerksamkeit bekommen und dass statt dessen über solche Pseudoprobleme diskutiert wird.

    Sie sprachen eben von der Einseitigkeit und Voreingenommenheit der Filmemacher. Was genau fehlt Ihnen in deren Darstellung?

    Erstens: das Jahr 1948. Das einzige, was dazu gesagt wird, ist, dass die Araber freiwillig gegangen seien. Dass sie in Wirklichkeit vertrieben wurden und ihr gesamter Besitz enteignet – was man landläufig »Raub« nennt –, auch, dass rückkehrwillige Araber als »Infiltranten« erschossen wurden, das alles fehlt komplett.

    Zweites Stichwort: der Sechstagekrieg 1967. Seither hat Israel ja vor allem das Westjordanland und den Gazastreifen okkupiert. Das Wort »Besatzung« taucht im ganzen Film nicht auf. Kriegsrecht, Kriegsverbrechen, fortgesetzter Landraub im Westjordanland – das alles ist kein Thema. Und somit ist natürlich alles wunderbar in Israel. Wogegen also protestieren?

    Manche Kritiker, die gezeigt werden, charakterisieren Israel als »Apartheidstaat«. Teilen Sie dieses Urteil?

    Nein, da muss man differenzieren. Im Kernland Israel, also in dem Gebiet, das bis 1967 der Staat Israel war und das durch die »grüne Linie« gegen das Westjordanland abgegrenzt ist, herrscht im wesentlichen Demokratie. Die arabische Bevölkerung muss dort nur einige gravierende Rechtseinschränkungen hinnehmen, z. B. beim Land- und Immobilienerwerb. Schon anders sieht es bei den arabischen Einwohnern Jerusalems aus, die ja nicht mehr Staatsbürger Israels sind, sondern nur Aufenthaltsrechte haben, die ihnen auch entzogen werden können. Und völlig finster ist die Lage im Westjordanland, in dem das Kriegsrecht gilt. Allerdings nur für die arabische Bevölkerung, die jüdischen Siedler können praktisch machen, was sie wollen. Dort herrscht eine Art von Apartheid. Eine andere Art von Apartheid wird über den Gazastreifen ausgeübt, dessen Bewohner praktisch eingesperrt sind. Apartheid heißt: Getrennt sein, und die Menschen in Gaza sind ja durch Israel und Ägypten vom gesamten Rest der Welt abgetrennt.

    Israel-kritische Juden haben es hierzulande mitunter schwer, öffentlich ihre Stimme zu erheben. Veranstaltungen der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano oder des Soziologen und jW-Autors Moshe Zuckermann werden von »Antideutschen« gestört oder gar zu verhindern versucht. Welche Erfahrungen haben Sie mit diesen Leuten gemacht, deren Milieu offenbar auch die Macher besagten Films entstammen?

    Generell muss ich sagen: Protest und Opposition – ich mag das. Das ist mir lieber als reine Harmonie. Nur aus der Diskussion kann etwas erwachsen. Wenn mir jedoch wie im November vorigen Jahres an der Uni Freiburg auf dem Flugblatt einer Sektion der dortigen Studentenvertretung praktisch das Rederecht abgesprochen wird, kann ich das natürlich nicht so neutral sehen. Das erinnerte mich schon daran, dass an dieser Uni mal ein Martin Heidegger Rektor war und gegen die Juden hetzte. Ähnlich ging es wenig später in Marburg zu. Da saß eine Gruppe derjenigen, die ein ähnliches Flugblatt verfasst hatten, in der Veranstaltung in der ersten Reihe und provozierte nur. Ich habe ihnen gesagt, sie erinnerten mich an die SA, woraufhin sie türenschlagend den Saal verließen.

    Man weiß ja nicht, was ihre Groß- oder Urgroßväter gemacht haben, aber es interessiert mich schon sehr, was in den Köpfen dieser jungen Leute vorgeht, wie da mit Schuld umgegangen wird. Es ist ja nicht die eigene, sondern die mögliche Schuld ihrer Vorfahren. Also wie die so völlig unbesehen auf jeden projiziert wird, der etwas Kritisches sagt zur Menschenrechtslage in Israel – ich empfinde das als pervers und als extrem rechts.

    Sie waren lange Jahre Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland, der Sie inzwischen, wie andere Vertreter des offiziellen Judentums auch, mit harten Vorwürfen konfrontiert. Wofür werden Sie kritisiert?

    Was mir letztlich vorgeworfen wird, ist Nestbeschmutzung. Bestimmte Konflikte müsse man intern lösen – als ob die Meinung über Israel eine interne Angelegenheit wäre, die man nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft diskutieren solle. Ich bin ja 2006 mit einem offenen Brief an die Präsidentin des Zentralrats an die Öffentlichkeit gegangen, in dem ich die israelische Kriegspolitik gegen den Libanon verurteilt habe. Dergleichen schickt sich nicht.

    Der Zentralrat oder die jüdischen Gemeinden vor Ort – die unterstützen Israel. Sie sind vorn mit dabei, wenn es darum geht, kritische Veranstaltungen zu verhindern, wie unlängst jene in Frankfurt am Main vom »Koordinationskreis Palästina Israel«, KOPI, zum 50. Jahrestag der Besatzung. Vertreter jüdischer Gemeinden setzen sich auch nicht mit mir auf ein Podium, die boykottieren mich.

    Es verwundert, dass der Zentralrat immer wieder den Unterschied von Judentum und israelischer Staatsbürgerschaft unterstreicht und dennoch wie eine diplomatische Vertretung Israels agiert.

    Ja, darauf versuche ich auch immer wieder hinzuweisen. Wenn man zum Beispiel Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der »Wiedervereinigung« Jerusalems veranstaltet, obwohl diese völkerrechtlich nicht anerkannt ist und einer möglichen Lösung des gesamten Palästina-Problems entgegensteht, die darin bestehen könnte, dass Jerusalem die Hauptstadt für beide Volksgruppen wird.

    De facto schürt der Zentralrat Vorurteile gegen die Juden als Ganzes, indem er die Maxime ausgibt: Wir Juden stehen fest und unverbrüchlich zu Israel, egal, was es macht. Da ist es doch kein Wunder, wenn schlichte Gemüter die Juden als solche für die dortigen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich machen.

    Judenhass ist leider immer noch ein gesellschaftliches Problem, in Deutschland wie in anderen Ländern. Wie könnte dieser menschenfeindlichen Haltung sinnvoll auch publizistisch begegnet werden – anders als in besagtem Film?

    Ich finde, man muss sehr stark differenzieren und nach den verschiedenen Gründen für Antisemitismus suchen. Das ist keine einheitliche Krankheit, die die gesamte Menschheit überzieht. In Deutschland etwa ist der Antisemitismus der Rechten einfach Teil des Rassismus. Das sind dieselben Leute, die etwas gegen Muslime haben, und zwar meist noch entschiedener als gegen Juden im allgemeinen. Warum man da jetzt speziell einen Antisemitismusbeauftragten der Regierung brauchen würde, erschließt sich mir nicht. Zweitens: Der sagenhafte Antisemitismus der Linken – ich würde bestreiten, dass es den wirklich gibt. Das ist ein Propagandakonstrukt der Israel-Befürworter, um menschenrechtsorientierte Kritik abzuwürgen. Drittens existiert offensichtlich ein Antisemitismus unter Moslems. Dieser wird direkt befeuert vom Palästina-Konflikt, der eine berechtigte Empörung gegen Israel erzeugt, die leider verallgemeinert wird und umschlägt in einen allgemeinen Hass gegen die Juden. Die Palästinenser selbst kennen »die Juden« nur noch als Soldaten einer Besatzungsarmee, die sie einschüchtert und terrorisiert.

  • 2015 Award | Responsible Capitalism
    http://responsible-capitalism.org/2016/01/2015


    Ah, quelle belle cérémonie ! Deux ans plus tard Madame Botin gagne un prix encore plus select : On lui donne une banque pour un Euro symbolique. Normal, on ne donne (des banques) qu’au riches (qui en ont déjà).

    The FIRST Award for Responsible Capitalism 2015 was presented to Ana Botín DBE, Executive Chairman of Banco Santander.

    The Responsible Capitalism Advocacy Award was presented to Jochen Zeitz, Executive Chair of the B Team.

    The SME Dahrendorf Responsible Capitalism Award was jointly awarded to Ivy Wroe, Managing Director of Resin Surfaces Ltd, and John Vincent and Henry Dimbleby, Co-Founders of Leon.

    The awards were presented by Rt Hon. Sajid Javid MP, Secretary of State for Business, Innovation and Skills at a special ceremony held at Lancaster House in London.

    The Award for Advancing Responsible Capitalism in Emerging Markets was presented to Ian Harebottle, Chief Executive Officer of Gemfields on 18th April 2016, at a ceremony held at the House 0f Lords.

    Eine Großbank geschenkt / Zu Lust und Risiken des Kapitalverkehrs (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/312226.eine-gro%C3%9Fbank-geschenkt.html

    Ein Euro für eine Bank, die vergangene Woche an der Börse noch drei Milliarden wert war. Kein schlechter Deal sollte man meinen. Käufer ist der Banco Santander, die ohnehin größte Bank Spaniens. Objekt des Verkaufes ist der Banco Popular. Je nachdem, wie gerechnet wird, hatte die bisher die vierte bis sechste Position unter den größten Geldhäusern Spaniens inne. Verkäufer – und das ist das Neue – war formal eine EU-Institution, der »Single Supervisory Mechanism« (SSM, Einheitliches Überwachungssystem). In diesem Gremium sind die Bankenaufseher der EU-Staaten traut vereint und beschließen, was mit einer Bank in Not zu geschehen hat. Das Gremium war von der für EU-Großbanken zuständigen Europäischen Zentralbank (EZB) und deren Chefabwicklerin, der Deutschen Elke König informiert worden, dass der Banco Popular »nicht überlebensfähig« sei. Der SSM bot noch am Dienstag die Bank zum Sonderpreis von einem Euro dem spanischen Bankenplatzhirsch an. Der hatte 24 Stunden Zeit, um zu entscheiden, und willigte am Mittwoch ein.

    Positiv an dem Deal ist, dass nicht nur die Aktionäre des Popular bluten müssen. Immerhin sind die drei Milliarden Euro nur ein Schatten des früheren Börsenwertes, der einmal fast das Zehnfache dessen betragen hat. Gut ist auch, dass die Anleihegläubiger, deren Papiere zu 11,5 bzw. 8,25 Prozent verzinst wurden und damit explizit aktienähnliche Risikopapiere waren, nicht für ihren Verlust entschädigt wurden. Positiv ist außerdem, dass die faulen Kredite des Popular nicht, wie sonst üblich, vom Staat übernommen werden, sondern bei der Santander-Bank landen. Santander hat angekündigt, sieben Milliarden Euro frisches Geld von den Aktionären über eine Kapitalerhöhung hereinzuholen, um die übernommenen Bankgeschäfte abzusichern. All das ist üblich. Man muss die Chefin und zugleich größte Aktionärin der Santander-Bank, Ana Botín, nicht bedauern, dass sie nun den dortigen Kreditmarkt (und den südamerikanischen dazu) noch klarer beherrscht als zuvor.

    Die neue Bankenaufsicht in der EU scheint jedenfalls funktioniert zu haben, ganz so wie Pleiten bei Banken früher auf nationaler Ebene abgewendet wurden. Bevor eine solche eintritt, einen generellen Bankenrun auslöst, bei dem die Leute massenhaft ihre Guthaben abheben, wird das fragliche Institut einem stärkeren geschenkt – manchmal mit einer Staatsgarantie versehen. Schon Ende Mai haben augenscheinlich größere Gläubiger des Banco Popular ihre Guthaben abgezogen, so dass die Bank in Liquiditätsschwierigkeiten kam und am vergangenen Dienstag zahlungsunfähig zu werden drohte. Den von der EZB mit großem Pomp veranstalteten Bankentest hatte Popular gut bestanden. Ihre Kapitalausstattung war bis zum Ende zufriedenstellend. Die faulen Kredite von angeblich 37 Milliarden Euro schleppte Popular schon seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 mit. Warum gerade jetzt die Anleger ihr Geld bei der Bank abzogen, bleibt unklar. Die Aufsichtsbehörde EZB hat mit ihrer Aussage, die Bank sei »likely to fail« (nicht überlebensfähig), ihren Tod besiegelt. Die Allmacht der EZB als Bankenaufsicht ist zum ersten Mal klar und deutlich geworden.

    Ana Patricia Botín
    https://en.m.wikipedia.org/wiki/Ana_Patricia_Bot%C3%ADn

    Ana Patricia Botín-Sanz de Sautuola O’Shea, DBE (born 4 October 1960) is a Spanish banker. On 10 September 2014 she was appointed executive chairman of Santander Group,[3] the fourth generation of the Botín family to hold this role. Prior to this she was CEO of Santander UK, a role she held from December 2010.

    Banco Santander
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Banco_Santander

    Die Bank ist eine der 30 Großbanken, die vom Financial Stability Board (FSB) als „systemically important financial institution“ (systemisch bedeutsames Finanzinstitut) eingestuft wurden. Sie unterliegt damit einer besonderen Überwachung und strengeren Anforderungen an die Ausstattung mit Eigenkapital.
    ...
    Gemessen am Börsenwert ist sie das größte Unternehmen in Spanien und ist zudem die größte Bank der Eurozone. Ihren Erfolg verdankt die Bank der Geschäftsstrategie, den Kunden deutlich höhere Guthabenzinsen und deutlich geringere Darlehenszinsen als bei der Konkurrenz anzubieten. Santander steigerte den Nettogewinn im Jahr 2005 um 72,5 Prozent auf 6,2 Milliarden Euro. 2007 übernahm sie mit der Royal Bank of Scotland und Fortis die ABN AMRO. Die Gruppe hat mehr als 106 Millionen Kunden und rund 14.000 Zweigstellen in mehr als 40 Ländern. Die Bank beschäftigt rund 183.000 Mitarbeiter.
    ...
    Nach dem Tode ihres Vaters Emilio Botín am 9. September 2014, einem Juristen und Ökonom, der die Bank von 1986 bis zu seinem Tode geleitet hatte, wurde die 53-jährige Ana Patricia Botín von der Bank als seine Nachfolgerin benannt. Emilio Botíns Urgroßvater hatte die Bank 1857 gegründet. Damit wird die Bank in vierter Generation ununterbrochen von der Familie Botín geführt

    #Europe #Espagne #Santander #capitalisme

  • Meister der Montage / Josep Renau
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/310742.meister-der-montage.html

    17.05.2017 Meister der Montage
    Josep Renau schuf neben zahlreichen Plakaten auch bedeutende Wandbilder – einige davon in der DDR. Eine Erinnerung an den katalanischen Künstler anlässlich seines 110. Geburtstags


    Blatt aus der Folge »The American Way of Life« (1949), Foto-Siebdruck, 56,5 x 45,5 cm, Ausschnitt

    #DDR #art

  • Kampf gegen Uber-Macht / Konkurrenz platt machen: Taxifahrer in Südafrika wehren sich gegen Dumping durch US-Konzern (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/307197.kampf-gegen-uber-macht.html

    Nichts ging mehr am vergangenen Freitag morgen auf der R24, der wichtigsten Verbindungsstraße zwischen Johannesburg und dem internationalen Flughafen »O. R. Tambo«. Verzweifelt schleppten Reisende ihre Koffer zu Fuß in Richtung der Abflughallen, die Bilder gingen durch Südafrikas Medien. Grund für den Kollaps zur Hauptverkehrszeit in der Finanz- und Börsenmetropole war ein Protest von Taxifahrern gegen den Fahrdienst Uber. Diese sehen sich durch das US-Unternehmen zunehmend aus dem Markt gedrängt. Weil Südafrikas Regierung dagegen nichts unternimmt, eskaliert der Konflikt.

    »Uber bringt uns um«, erklärte Taxifahrer Abner Mashikinoya am Freitag im Gespräch mit dem Nachrichtenportal News24. Der Konzern sei nach Südafrika gekommen, »um die Branche kaputtzumachen«. Was der Johannesburger vermutet, legt nicht nur die Niedrigpreispolitik des Konzerns nahe. Auch die weltweiten Kernzahlen des Uber-Geschäfts lassen durchaus den Rückschluss zu, dass es dem Unternehmen nicht vorrangig um zeitnahe Gewinne, sondern (zunächst) um die Beseitigung der Konkurrenz geht. Bei 3,76 Milliarden US-Dollar (3,53 Milliarden Euro) Umsatz, so berichtete die Wirtschaftswoche am Montag online unter Berufung auf die aktuellsten Zahlen des Konzerns, habe Uber 2,2 Milliarden US-Dollar Verlust gemacht. Solange die Kapitalgeber den Kurs unterstützen, stört das kaum. Uber strebt nach langfristiger Marktdominanz, die Anleger spekulieren auf die – freilich rein imaginäre – Wertsteigerung des Dienstes.

    Leidtragende sind Taxifahrer wie Mashikinoya. »Wir können nicht einmal mehr unsere Kinder zur Schule schicken«, sagte dieser mit Blick auf die gesunkenen Einnahmen und die hohen Kosten für Schulgebühren und Lernmaterialien. »Es reicht, wir sind es satt, und wir sind wütend.« Unterstützung bekam Mashikinoya von Taxiverbandssprecher Reuben Mzayiya. »Uber ist illegal«, erklärte der im Gespräch mit dem Sender 702 Talk Radio. »Wenn man hier operieren will, muss man sich beim Verkehrsministerium registrieren und sämtliche Voraussetzungen erfüllen. Uber macht all das nicht. Es unterhält einfach eine Parallelstruktur und verlangt einen Bruchteil unserer Preise«, führte Mzayiya aus. Dahinter steckt neben der globalen Strategie, Fahrer lediglich über seine App zu vermitteln, aber nicht anzustellen, um so Dumpingpreise zu erreichen, zusätzlich ein hausgemachtes südafrikanisches Problem. Dort gilt für Taxifahrten nämlich ein von der Regierung festgelegter Mindestpreis pro Kilometer von derzeit 15 Rand (1,07 Euro). Da Uber jedoch als Charterdienst gilt, kann es diesen Tarif unterbieten – und den Taxifahrern daher im großen Stil Kunden abspenstig machen. »Ich würde da auch Uber nutzen, denn es ist billig«, gestand Mashikinoya offen.

    Südafrikas Regierung denkt derzeit nicht daran, den Forderungen nach einem Uber-Verbot nachzukommen. Ismail Vadi, Verkehrsminister der Provinz Gauteng, zu der Johannesburg gehört, befand noch am Freitag vor dem Verkehrsausschuss, dass »dieser Typ von technologischer Innovation und angebotenem Service durch diese Art von Unternehmen für die Gesellschaft wertvoll ist«. Der Politiker des regierenden African National Congress (ANC) erklärte zwar, dass die Taxibranche Lobbyarbeit betreiben könne, wenn sie damit nicht einverstanden sei. Den Protest vom Freitag, den die Polizei schließlich nach mehr als drei Stunden aufgelöst hatte, nannte er jedoch »illegal«. Die Taxifahrer haben ihrerseits weitere Blockaden angekündigt, sollte die Regierung nicht auf sie zukommen. Mashikinoya konnte sich ohnehin nur einen Grund für die Pro-Uber-Politik vorstellen: »Die Regierung weiß doch, dass sie Geld von Uber genommen hat, weil sie korrupt ist.«

    Doch die Wut darüber trifft in der Regel weder Regierungsbeamte noch die Konzernmanager, sondern vor allem die Uber-Fahrer. Erst Anfang Februar fielen Taxifahrer vor dem Johannesburger Bahnhof Rosebank mit Knüppeln über ihre Konkurrenten und deren Autos her. Ein Einzelfall war das nicht (in andern Ländern, die Uber im Zuge seiner neoliberalen Aggression beglückt hat, kam das auch schon vor, beispielsweise in Frankreich und den USA; Red.). Die Uber-Auftragnehmer verlangen vom Konzern daher besseren Schutz. Am Freitag versammelte sich eine Gruppe von ihnen vor dem Unternehmenssitz in Johannesburg. Doch die Firmenleitung lehnt Gespräche mit den eigenen »Fahrer-Partnern«, wie sie die auf dem Papier unabhängigen »Transportunternehmer« nennt, ab. Sicherheit sei ein wichtiges Anliegen für das Unternehmen, und man wolle, dass die »Partner« das Gefühl hätten, »mit uns jederzeit über alles reden zu können«, erklärte Uber-Südafrika-Sprecherin Samantha Allenberg in einer Stellungnahme gegenüber dem Nachrichtenportal eNCA. Doch »die Meinung dieser kleinen Gruppe« repräsentiere nicht die der über 4.000 Uber-Fahrer in Südafrika.

    Ähnlich arrogant wie gegenüber den eigenen Scheinselbständigen äußerte sich Allenberg auch zu den Protesten der Taxifahrer. Diese hätten »lediglich unterstrichen, warum Menschen sich immer häufiger für sichere, verlässliche Alternativen wie Uber entscheiden«, sagte die Sprecherin zu News24. Der Konzern biete seine »Technologie« aber gern auch den Taxifahrern an, führte sie zudem aus. »Viele Taxifahrer« hätten sich Allenberg zufolge sogar bereits bei Uber angemeldet – »um ihre Einkommen zu steigern«. Kapitulation mag manchen verzweifelten Fahrern tatsächlich als einziger Ausweg erscheinen, die Wut wird dadurch allerdings kaum gelindert werden. Weitere Proteste – und gewaltsame Übergriffe – sind so eine Frage der Zeit. Solange lediglich Fahrer auf andere Fahrer eindreschen, scheint Uber dies wenig zu stören.

    #Taxi #Uber #Südafrika

  • Kommando im Kopf / Beschäftigte vor allem von IT-Unternehmen organisieren ihre Arbeitsabläufe in wachsendem Maße selbst. Damit wird aus dem äußeren Befehl ein innerer, der Leistungsdruck steigt (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/305766.kommando-im-kopf.html

    Nicht schön für die Hochqualifizierten, mörderisch für Niedriglöhner. Zu Mindestlohnkonditionen müssen Taxifahrer Unternehmeraufgaben erledigen, Kunden auftreiben, Fahrzeuge managen, Abrechnungen erledigen und vor allem das volle finanzielle Risiko bei schlechtem Geschäft tragen. Die Chefs verstehen in der Regel ihre unternehmerische Aufgabe als eine Mischung aus Wagenbereitsteller, Kontrolleur und Abkassierer.

    Marcus Schwarzbach, Berater für Betriebsräte, ist Autor von »Work around the clock? Industrie 4.0, die Zukunft der Arbeit und die Gewerkschaften«, Papyrossa-Verlag, Köln 2016, 138 S., ­Euro 12,90.

    Technische Neuerungen verändern immer auch Arbeitsabläufe. Die Informationstechnologie (IT) ist dabei oft Vorreiterin für Entwicklungen in anderen Branchen. Die Propagierung von »Agilität« ist dafür ein bezeichnendes Beispiel. Richard Pascale, Vordenker der Unternehmensberatung McKinsey, hat diesen Ansatz entwickelt. »Agilität entstand als Reaktion auf langsame, bürokratische Organisationen«, lässt sich auf ­onpulson. de, einem Portal, das »Wissen für Unternehmer und Führungskräfte« bereithält, nachlesen. Agilität, das klingt nach Flexibilität und Geschwindigkeit. Es geht dabei immer um eine grundlegende Umgestaltung der Arbeitsabläufe. Agile Unternehmen beginnen, sich selbst »konsequent in allen Bereichen vom Kunden her zu denken«, sagt Stephan Fischer, Direktor am Institut für Personalforschung an der Hochschule Pforzheim.1

    Der Druck der Kunden wird auf die Beschäftigten übertragen. Bei Agilität gilt die IT-Branche als Paradebeispiel. Aber Elemente dieses Steuerungskonzeptes sind auch in anderen Bereichen zu erkennen. Nach dem Prinzip der »Servant leadership« soll die Führungskraft »damit den Reifegrad der Mitarbeiter erhöhen, um den Teams weitere Verantwortung übertragen zu können«, so Fischer im Beraterdeutsch. Das heißt, die Beschäftigten müssen sich in eigener Verantwortung direkt am Kunden orientieren. Das Arbeitsverhältnis soll zum Verhältnis »Dienstleister gegenüber Kunde« werden, um so scheinbar aus dem Arbeitnehmer einen »Unternehmer im Unternehmen« zu machen. Die Technik ermöglicht das Arbeiten in der Cloud, also ein Arbeiten unabhängig von Zeit und Raum. Auch das gehört zur Agilität.

    Wo und wann der Beschäftigte programmiert, die nächsten Projektschritte plant oder Abstimmungen mit Teammitgliedern der Abteilung vornimmt, ist seine Sache. Vorgaben erfolgen oft über Zielvereinbarungen. Bei Achim Mollbach von der Unternehmensberatung Kienbaum hört sich das so an: Das agile Unternehmen »ermutigt Mitarbeiter, aktiv und schnell individuelle Lösungen an der direkten Kontaktstelle zum Kunden zu entwickeln, anstatt auf zentrale Vorgaben zu warten oder durch zu viele und zu starre bürokratische Planungs-, Kontroll- und Reportingaktivitäten gelähmt zu werden«.2 Dieses beteiligungsorientierte Konzept ist jedoch problematisch, wenn die Ziele – wie so oft – zu hoch angesetzt werden.

    Statt direkten Arbeitsanweisungen zu folgen, organisieren die Beschäftigten einen Teil der Arbeitsabläufe selbst. Somit bestehen Handlungsspielräume, welche Mittel eingesetzt werden, um ein Ziel zu erreichen. »Mit Zielen können Sie ja wirklich einiges steuern. Sie können auch Mitarbeiter unter Druck setzen«, so ein Betroffener.3

    Disziplinierende Angst

    Abhängig Beschäftigte sollen also unter Leistungsdruck stehen, als wären sie Selbständige. Viele nehmen es zunächst als Befreiung vom bisherigen Prinzip »Befehl und Gehorsam« wahr, da sie auf den ersten Blick eigenverantwortlich Entscheidungen treffen können. »Wie der Alkohol kann auch diese Steuerung Hoch- und Glücksgefühle auslösen, die im Kern gesteigerte Macht- und Selbstwertgefühle sind«, sagt der Philosoph Klaus Peters. Sie folgen aus der scheinbaren eigenen Entscheidungsbefugnis. »Diese Symptome sind nicht etwa für Spinner oder Opportunisten reserviert, sondern sie gehören wesentlich zum System der indirekten Steuerung. Allerdings häufen sie sich bei Berufsanfängern, die noch ein unverbrauchtes Kraft- und Gesundheitsreservoir für eine Arbeit ohne Ende mitbringen«, so Peters.4

    Erst nach und nach und bei fortgeschrittener Arbeit an einem »Projekt«, wie es schönfärberisch heißt, erkennen die Beschäftigten, dass die Dokumentation der Arbeitszeit eine Absicherung dem Unternehmen gegenüber darstellt. Können nämlich die Ziele nicht erreicht werden, gibt es Druck. Es drohen Versetzungen auf schlechter bezahlte Stellen, Verlagerung von Aufgaben an andere Standorte oder Kündigungen. Der einzelne Beschäftige wird in eine Position versetzt, in der er nicht mehr vom Vorgesetzten angewiesen, sondern unmittelbar durch den Druck des Marktes gesteuert wird.

    Eine Studie der Haufe-Akademie, eines privaten »Anbieters für die betriebliche Qualifizierung von Menschen und Unternehmen«, macht die Entwicklung deutlich. Die Mehrheit der Befragten (77 Prozent) gibt an, »heute schon in einem Unternehmen zu arbeiten, das sie als eher selbstgesteuert wahrnehmen«.5

    Das Beispiel eines hochqualifizierten Angestellten, der von einem Konzertbesuch berichtet, verdeutlicht die wachsende Unfähigkeit, in der Freizeit überhaupt noch entspannen und von der Arbeit »abschalten« zu können: »Wenn man in allerletzter Minute da noch hinfährt, ist das halbe Konzert schon rum, ehe ich überhaupt mal beginne, mich auf die Musik zu konzentrieren, denn dies und jenes schwingt noch nach, und plötzlich ist man nicht bei Mozart, sondern beim Mineralölverbrauch in England.«6

    Ulf Kadritzke von der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin schildert in einer Studie die Problematik der Trennung von Arbeit und Privatleben. Fast jeder vierte befragte Beschäftigte weist auf Konflikte zwischen den betrieblichen Zeiterfordernissen und den Ansprüchen an die persönliche Lebensgestaltung hin. Die Hälfte der Angestellten leidet darunter, dass private Interessen den beruflichen Anforderungen untergeordnet werden.

    Auch Angstgefühle spielen dabei eine Rolle. Das Gefühl, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden, beispielsweise um die ehrgeizige Zeitplanung einhalten zu können, führt zu einem schlechten Gewissen. »Es geht um eine Situation, in die ein hochqualifizierter Softwareentwickler gerät, indem er unglücklicherweise gerade dann, wenn er in Urlaub fahren will, mit einem akuten und unaufschiebbaren Arbeitsproblem konfrontiert wird. Ein Arbeitskollege, der vermutlich eine höhere Position als der Betroffene innehat, repräsentiert dabei die Logik des Arbeitssystems. Der Gesamtkontext dieser Arbeitssituation führt dazu, dass der Betroffene zwar wegfahren, doch am Urlaubsort im Prinzip keinen Urlaub machen kann, da er immer ›online‹ zu sein hat.«7

    »Diese Angst macht krank und produziert ihrerseits genau das, was die sozialdarwinistische Hegemonie beabsichtigt: weitere Spaltungen in der Gesellschaft. Und die Gewinner von heute verausgaben sich und können morgen selbst in den Abgrund der Erschöpfung getrieben werden«, kritisiert Wolfgang Hien, Lehrbeauftragter der Universität Bremen.8

    »Der Motor dieser Psychodynamik ist die Angst – die Angst, als nicht leistungsfähig dazustehen, die Angst, das Projekt zu verlieren, die Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren, die Angst, den eigenen biographischen Entwurf zur Makulatur zu machen. Es ist nicht ein äußerer Befehl, sondern ein innerer. Das ist gegenüber der alten Kommandologik des Industriesystems der Unterschied«, sagt der Gesundheitswissenschaftler Hien. »Die Markt- und Projektlogik verlängert sich als unerbittliches Kommando ins Innere des Subjekts.« Und das in »Bereichen, die noch vor Jahren als kreativ und nicht entfremdet hochgelobt wurden, wie z. B. der IT-Arbeit«.

    Standardisierung und Kontrolle

    Wird agile Unternehmensführung häufig mit der Verlagerung von Verantwortung auf Beschäftigte verbunden, zeigen sich bei entsprechender Softwareentwicklung durchaus gegenläufige Tendenzen. Unter den Stichworten »lean« und »agil« erfolgt die Organisation von Kopfarbeit an einem »digitalen Fließband«. Welche neuen Formen der Arbeitsorganisation dabei entstehen und welche Folgen dies für die Beschäftigten hat, haben Wissenschaftler des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung erforscht. »Die Übertragung von Lean-Konzepten aus der Fertigung und der Einsatz von agilen Methoden aus der Softwareentwicklung sind zu einem neuen strategischen Trend in den Angestelltenbereichen geworden«, erklärt Andreas Boes vom ISF. Das Forscherteam hat in Betrieben Entwicklungen untersucht und dafür mehr als 200 Interviews geführt.9

    »Wir haben es hier mit einem neuen industrialisierten Entwicklungsmodell zu tun, das sich in der Softwareindustrie flächendeckend durchsetzt und zunehmend auch in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen klassischer Industrieunternehmen zum Einsatz kommt«, betont Boes. Das Prinzip, auch Kopfarbeit zu standardisieren, einer zeitlichen Taktung zu unterwerfen und sowohl das Expertenwissen als auch die individuellen Arbeitsergebnisse für alle transparent zu machen, verfolgen mittlerweile immer mehr Unternehmen. Deutlich wird: Es zeichnet sich eine grundlegende Wende in der Organisation von Arbeit und Wertschöpfung in den Büros der Angestellten ab.

    Die Softwareindustrie steht exemplarisch für diese Entwicklung. Die »agile« Projektmanagementsoftware »Scrum« führt in vielen Bereichen eher zu permanenter Kontrolle der Beschäftigten. Denn auch Abläufe in der IT können zunehmend – ähnlich der Entwicklung in der Automobilindustrie in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts – standardisiert werden. Einige Fachautoren sprechen in diesem Zusammenhang bereits von einer Industrialisierung der IT. Diese Standardisierung hat weitreichende Folgen. Beschäftigte sind einfacher zu überwachen, Serviceleistungen werden über das Internet zur Verfügung gestellt und können auch von kleineren Unternehmen ausgelagert werden.

    Scrum ist eine Software, die der Ausgestaltung von IT-Entwicklungsprojekten dient. Ein wichtiger Aspekt ist die gemeinsame Planung der Arbeitsaufgaben im Team. In einem sogenannten Sprint planning werden neue Aufgaben definiert, geschätzt und nach Prioritäten erfasst. Wissenschaftler sahen anfangs bei Scrum »Emanzipationspotentiale für die Beschäftigten«. Denn im Team wird gemeinsam über das Vorgehen gesprochen, es erfolgt ein Austausch über Probleme im Planungsprozess. »Der Schätzprozess soll die Arbeitsplanung des Teams demokratisieren. So soll es vor Überlastung durch das Management geschützt werden«, erläutert Stefan Sauer vom ISF München in der vom gewerkschaftsnahen Bund-Verlag herausgegebenen Zeitschrift Computer und Arbeit (2/2014).

    Am digitalen Fließband

    Arbeiten im Urlaub: Der Angestellte eines Unternehmens darf zwar in Urlaub fahren, aber unaufschiebbare Anforderungen verlangen, sich auch am ­Ferienort mit dem jeweiligen »Projekt« zu beschäftigen
    Foto: Hannibal Hanschke/Reuters

    Die Entwicklung geht jedoch in eine andere Richtung. Scrum ist für hochqualifizierte Beschäftigte »ein Verlustgeschäft; sie werden dann in einen durchgetakteten Arbeitsprozess eingebunden, der sie einem hohen Zeit- und Rechtfertigungsdruck aussetzt, ihnen keine Möglichkeiten bietet, über die Verausgabung ihrer Arbeitskraft mit zu verfügen. Wissensarbeit wird dann am »digitalen Fließband« organisiert, betont Andreas Boes vom ISF München.10 Enormer Druck entsteht einerseits wegen »der hohen Transparenzanforderungen«, denn im Planungsstadium müssen die Programmierer ihre Arbeitsweise offenlegen. Vor allem die Einschätzung, wieviel Zeit für einzelne Programmierschritte benötigt wird, setzt die Arbeitenden bei der Umsetzung unter Zeitdruck. Über Scrum werden detailliert Arbeitspakete erfasst, was der Planung dienen soll. Andererseits entsteht sozialer Druck innerhalb der Teams, denn es wird gemeinsam über das Vorgehen gesprochen, entsprechend erwarten Teammitglieder die Umsetzung. »Vor möglichen Unterauslastungen des Teams schützt neben der potentiell möglichen späteren Kontrolle durch Vorgesetzte schlichtweg der soziale Druck im Team«, sagt wiederum Sauer in Computer und Arbeit.

    Die IT-Entwicklung galt bisher als vergleichsweise wenig standardisiert. Durch Scrum kann jetzt zunehmend Druck auf die Beschäftigten ausgeübt werden. »Das ist mein Fließband«, erläutert ein Programmierer seine Erfahrungen mit Scrum. »Der SAP-Betriebsrat Ralf Kronig beklagt, dass eine ursprünglich ganzheitliche Arbeit bei SAP immer mehr in kleine standardisierte Module zerlegt und damit die Arbeit extrem verdichtet wird. Kronig spricht explizit von einer Re-Taylorisierung«, führt der Bremer Arbeitsforscher Wolfgang Hien aus.11

    Die Beispiele zeigen, dass die zukünftige Entwicklung der digitalen Arbeit nicht durch einen Dialog vorangetrieben wird, wie es Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles suggeriert. Eine klare Position für die Arbeit der Zukunft formulieren die Unternehmen durchaus öffentlich. Deutlich hat die Daimler AG in ihrem Beitrag zum »Weißbuch Arbeit 4.0« des Bundesarbeitsministeriums formuliert: »Flexible Beschäftigungsformen wie Zeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeit und selbständige Tätigkeiten ermöglichen den Unternehmen die notwendige Anpassungsfähigkeit in bezug auf ein volatiles Umfeld.«

    Wissenschaftsprojekte sollen Verschlechterungen aus Sicht der Beschäftigten scheinbar verschleiern. Das Bundesministerium für Wirtschaft fördert ein Forschungsprojekt zu »Social manufacturing« und Industrie 4.0. Bei Social manufacturing »wird die Interdependenz der Elemente Mensch, Technik und Organisation eines Produktionssystems in den Vordergrund gerückt«, erklärt Hartmut Hirsch-Kreinsen, Professor der Technischen Universität Dortmund. Er verspricht »weitgehend selbstbestimmtes informelles Arbeitshandeln« durch dieses Projekt.12 Die betriebliche Realität sieht anders aus – wie das Beispiel »Agilität« verdeutlicht.

    Was tun?

    Die geschilderten Entwicklungen sind vielen Betriebsräten der IT-Industrie bekannt und stellen den Ausgangspunkt der Überlegungen von Wilfried Glißmann, Betriebsrat bei IBM, und dem Philosophen Klaus Peters dar. Um sich von dem Negativ­image als »Kontrolleur der Belegschaft« lösen zu können, hat der Betriebsrat von IBM Düsseldorf gemeinsam mit der IG Metall und dem Philosophen Peters eine neue Kampagne entwickelt.

    Denn Gewerkschafter und Betriebsräte, die gegen diese Entwicklungen vorgehen möchten, müssen nicht nur dem Unternehmen, sondern auch den Beschäftigten gegenüber agieren. Die Belegschaft muss für das Thema sensibilisiert werden – und es muss verdeutlicht werden, dass es kein individuelles Problem, sondern durch die Unternehmenssteuerung und Personalplanung bedingt ist. Wichtig ist bei diesen Überlegungen, dass die IT-Spezialisten intuitiv das Dilemma spüren, in dem sie sich befinden. Nur wenige trauen sich aber, das Problem offen anzusprechen. Und erst recht nicht in der Betriebsöffentlichkeit. Keiner möchte im ständigen Kampf um Zielerreichung, Umsatz und Kundengewinnung Schwächen zeigen.

    Mit geeigneten Formen der Gegenmacht wird beim IBM-Betriebsrat seit Jahren experimentiert. Wiederholte Aktionsmonate sollen die Vereinzelung der einzelnen Arbeitnehmer durchbrechen. Im Rahmen einer »Monat der Besinnung« genannten Aktion hat der IBM-Betriebsrat die neuen betrieblichen Probleme systematisch herausgearbeitet: Erst wurden anonymisierte Erfahrungsberichte mit den veränderten Arbeitsbedingungen per E-Mail an die Belegschaft gesandt, dann wurden die neuen betrieblichen Probleme auf mehreren Diskussionsveranstaltungen systematisch herausgearbeitet.

    »Die Konstitution von Gegenmacht in den Unternehmen wird in Zukunft jedenfalls durch das Nadelöhr der Auseinandersetzung des einzelnen Arbeitnehmers mit der Ambivalenz seines eigenen Willens gehen müssen«, erläutert der Philosoph Klaus Peters. Deshalb wird nicht nur das Problem der zunehmenden Belastung am Arbeitsplatz angesprochen, sondern es werden auch Lösungsansätze genannt. Etwa durch Betriebsvereinbarungen. Nur so kann der Belegschaft klar werden, dass kollektiv Veränderung möglich ist.

    Die Mitbestimmungsrechte bieten Chancen zur Gegenwehr. Die Einbeziehung der Beschäftigten ist aber der entscheidende Faktor. Es gibt einen »Kampf um die Köpfe«. Die Beteiligung der Arbeitnehmer ist für Betriebsräte aufwendig, aber auch ein demokratisches Element. Der Betriebsrat agiert nicht nur als »Stellvertreter«, sondern stellt sein Vorgehen offensiv dar. Es stärkt auch seine Position dem Unternehmen gegenüber.

    Inzwischen haben die Unternehmensvertreter dies erkannt. So betont der Präsident des Bundesverbandes der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU), Alexander Zumkeller, eine Hauptforderung sei, das bei digitaler Arbeit bedeutsame »Mitbestimmungsrecht des Paragraphen 87 Absatz 1 Nummer 6 Betriebsverfassungsgesetz (Mitbestimmung bei Einführung von Technologien, die dazu bestimmt – nicht nur geeignet – sind, Leistung und Verhalten zu kontrollieren – mit entsprechendem Verwertungsverbot)« einzuschränken.13 Es bleibt also eine spannende Auseinandersetzung um die Arbeit der Zukunft – nicht nur in der IT-Industrie.

    Anmerkungen

    1 www.haufe.de/personal/hr-management/agilitaet/­dimensionen-der-agilitaet-agil-werden-in-sechs-schritten_80_378526.html

    2 Siehe www.pr-journal.de/lese-tipps/studien/16203-studie-­unternehmen-nicht-fit-fuer-veraenderungen-­topmanager-stehen-mehr-agilitaet-im-weg.html

    3 Thomas Breisig / Susanne König / Mette Rehling / Michael Ebeling: Sie müssen es nicht verstehen, Sie müssen es nur verkaufen. ­Berlin 2010, S. 310

    4 Siehe Klaus Peters: »Woher weiß ich, was ich selber will?«, www.labournet.de/diskussion/arbeitsalltag/peters.html

    5 Studie »Smart Workforce – Arbeitswelten der Zukunft«, www.haufe.de/personal/hr-management/agile-organisation-mitarbeiter-sollen-ans-steuer_80_366806.html

    6 Zit. n. Ulf Kadritzke: Hochqualifizierte Angestellte und Manager unter Druck, www.competence-site.de/content/uploads/6d/05/Arbeitszeit-von-Managern.pdf

    7 Wolfgang Hien: Kranke Arbeitswelt, Hamburg 2016, S. 83

    8 Ebd., S. 156

    9 Siehe www.boeckler.de/cps/rde/xchg/hbs/hs.xsl/63056_106349.htm

    10 Andreas Boes et al.: Arbeitswelt der Zukunft zwischen »digitalem Fließband« und neuer Humanisierung, in: Lothar Schröder / Hans-Jürgen Urban (Hrsg.): Gute Arbeit. Ausgabe 2016. Frankfurt a. M. 2015, S. 232

    11 www.verein-agl.de/eroeffnungsrede

    12 Hartmut Hirsch-Kreinsen / Peter Ittermann: Arbeit und Industrie 4.0 als »Social Manufacturing«, in: Schröder/Urban, a. a. O., S. 145

    13 www.haufe.de/personal/arbeitsrecht/bmas-kommentar-zum-weissbuch-arbeiten-40_76_388376.html

    #Arbeit

  • Treffen der »Radikalen« / 5. Konferenz der Betroffenen von Berufsverboten forderte »politische, gesellschaftliche und materielle Wiedergutmachung« ohne Einschränkungen (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/305695.treffen-der-radikalen.html
    L’infâme Berufsverbot n’est pas mort. Actuellement il se porte bien en Bavière où on l’a adouci en ne plus excluant les jeunes social-démocrates des postes dans la fonction publique. Les autre "gauchistes" sont obligés de demander un emploi dans des Länder où Die Linke fait partie des ouvernements. Une exposition retrace l’histoire du Berufsverbot.

    Ausstellung »›Vergessene‹ Geschichte«


    Seit Oktober 2015 tourt die Wanderausstellung »›Vergessene‹ Geschichte« durch Deutschland. Auf 20 Tafeln haben Betroffene die Historie der Berufsverbote nachgezeichnet. Sie schildern das gesellschaftliche Klima von der Weimarer Republik über die NS-Diktatur bis in die Bonner Nachkriegsjahre, das zum sogenannten Radikalenerlass führte. Am 28. Januar 1972 unter der Bezeichnung »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im Öffentlichen Dienst« beschlossen, wurde er in der Folgezeit massenhaft angBerufsverbotewandt. Eine der größten betroffenen Berufsgruppen waren (angehende) Lehrerinnen und Lehrer. Aber auch anderen Angestellten und Beamten konnte der Weg in den Job verwehrt werden, wenn sie beispielsweise verdächtig waren, Mitglied einer kommunistischen Gruppe zu sein oder auch nur eine entsprechende Veranstaltung besucht zu haben. Viele Unternehmen, die heute privatisiert sind, unterstanden damals noch direkt dem Staat, wie etwa die Post oder die Bahn. Auch deren Bewerber wurden daher überprüft.

    Wie umfangreich die Verbotsverfahren waren, macht eine Aufzählung von Hunderten Namen Betroffener deutlich, die noch unvollständig ist. An ihr wurde in Hannover auch klar, wie emotional das Thema für die Leidtragenden noch immer ist: Es entbrannte eine hitzige Debatte darüber, ob die Namen lesbar gezeigt werden sollten, wie von den Ausstellungsmachern intendiert, um Personen kenntlich zu machen und nicht vergessen zu lassen, dass immer auch ein Schicksal und eine Geschichte hinter solch einem Verfahren stehen, oder ob zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen eine Verpixelung besser sei, wie es die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen umgesetzt hat, als sie eine Kopie der Ausstellung anfertigen ließ.

    Mittlerweile gibt es die Ausstellung nämlich in vierfacher Ausfertigung, darunter einmal in englischer Übersetzung. An 17 Orten wurde sie schon gezeigt. Die nächsten sieben stehen auch bereits fest, etliche weitere sind angefragt. Allerdings wurden die Tafeln bis jetzt außer in Berlin in Deutschland nur im Westen gezeigt, da ihre Präsentation meist von Gruppen von Betroffenen oder Einzelpersonen organisiert wird. (cwr)

    Die Termine der Ausstellung »›Vergessene‹ Geschichte« sind unter berufsverbote.de vermerkt. Dort finden Sie neben einer ständig aktualisierten Liste der laufenden und anstehenden Veranstaltungen auch Hinweise, wie Sie die Präsentation selbst ausleihen können sowie Ideen für ein Begleitprogramm aus Veranstaltungen mit Zeitzeugen oder ähnliches.

    #Allemagne #discrimination_politique

  • Die Innenseite des Klassenkampfes / Pädagogische Dressurakte können seelische Schäden erzeugen, von denen der Rechtspopulismus profitieren kann. Einige Anmerkungen zur Sozialpsychologie des Faschismus in Vergangenheit und Gegenwart (junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/m/artikel/299328.die-innenseite-des-klassenkampfes.html

    Eines Tages erzählte mir ein Gefangener, er verspüre gelegentlich Lust, einem Bettler den Hut wegzutreten. Ich war schockiert und begann mich zu fragen, wie es sein kann, dass angesichts der Not eines Mitmenschen der eine den Impuls verspürt zu helfen, der andere aber Wut auf einen »Schmarotzer« entwickelt, der sein Brot nicht »im Schweiße seines Angesichts« verdient. Wie kommt es zu derart unterschiedlichen Reaktionen? Die Fragestellung weitete sich im Laufe der Zeit aus: Warum tendieren manche Menschen nach links, werden zu libertären Sozialisten, Kommunisten oder Anarchisten, und warum werden andere zu Rechten oder Faschisten? Ich bin im Kontext meiner Beschäftigung mit dem Spanischen Bürgerkrieg erneut auf dieses Problem gestoßen. Geht es lediglich um ideologische Prägungen, die meist in der Pubertät erfolgen und Weichen für die Entwicklung in die eine oder andere Richtung stellen? Der eine trifft in der sensiblen Phase der Orientierungssuche auf eine Gruppe Linker, der andere gerät an Faschisten. Solche Zufälle spielen sicher eine Rolle, aber ganz so einfach scheint es nicht zu sein. Die Entscheidung für die eine oder die andere Seite hat ihre triebmäßige Basis und wurzelt in psychischen Prozessen, die entweder lebendig mäandern und pulsieren oder eingefroren und erstarrt sind.

    »Früh in der Kindheit«, berichtet Theodor W. Adorno in seinem Buch »Minima Moralia«, »sah ich die ersten Schneeschaufler in dünnen schäbigen Kleidern. Auf meine Frage wurde mir geantwortet, das seien Männer ohne Arbeit, denen man diese Beschäftigung gäbe, damit sie sich ihr Brot verdienten. Recht geschieht ihnen, dass sie Schnee schaufeln müssen, rief ich wütend aus, um sogleich fassungslos zu weinen.« Der kleine Theodor reagiert zunächst ganz im Sinne der Erwachsenenwelt, deren Urteile und Vorurteile er sich zu eigen gemacht hat. Die Schneeschaufler trifft seine mitleidlose Wut. Dann aber besinnt er sich und beginnt zu weinen – aus Scham wegen seiner Anpassung und aus Mitleid mit den frierenden Menschen. Der Junge schlägt sich auf die Seite der gequälten Männer, in deren Leiden er sich wiedererkennt. Adorno kriegt die Kurve zum Menschlichen, weil er durch seine Mutter Liebe empfangen hat. Aus dieser erfahrenen Zuneigung hat er einen Kokon aus Urvertrauen um sich bauen können, der ihn schützt und gegen faschistische Versuchungen immunisiert. Glückserfahrungen der frühen Kindheit sind es, die uns ein Leben lang an- und umtreiben und beim Erwachsenen zum Ferment von politisch-libertären Rekonstruktionsversuchen und Utopien werden können.
    Faschismus der Gefühle

    Der Sozialpsychologe Peter Brückner schildert in seinem autobiographischen Buch »Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945« eine ähnlich ambivalente Szene. Er, der sich damals bereits als Antifaschist und Linker begriff, erschrak über eine Regung, die sich seiner angesichts eines elenden russischen Kriegsgefangenen bemächtigte, dem er 1943 begegnete. Obwohl er wusste, wie solche Menschen in deutschen Lagern behandelt wurden, empfand er angesichts des zerlumpten Mannes Abscheu. Begriffe wie »asiatischer Untermensch« schossen ihm durch den Kopf und färbten seine Wahrnehmung: »Obwohl ich – oder vielleicht gerade weil ich – glaubte, dergleichen Residuen des Faschismus bei mir nicht suchen zu müssen, hatten sie sich meiner Spontaneität bemächtigt.« Der Gefangene sprach ihn an. »Er sprach fließend deutsch. Es stellte sich heraus, dass er ein Filmregisseur aus Leningrad war. Man kann wohl sagen, dass ich Glück gehabt habe: dass er mich ansprach, und wie er das tat, durchbrach schlagartig den spontanen ›Sekunden-Mechanismus‹ der Wahrnehmung. Ich hatte Glück (…), weil man eine solche Lehre nicht wieder vergisst.«

    Man muss für solch ein Glück allerdings auch offen sein und die Differenzwahrnehmung zulassen. Ein wirklicher Faschist hätte es so weit nicht kommen lassen. Später hat Brückner diese Erfahrung auf den Begriff gebracht: »Wer nicht sichtlich unsereiner ist, steht sehr unfest in der Kultur.« Er spricht von einem »Faschismus der Gefühle – weit weg vom Kopf«. Mitunter werde unser aufgeklärt-tolerantes Erwachsenenbewusstsein von Regungen überrascht und manchmal auch überrumpelt, die plötzlich wie durch ein Steigrohr aus den Innenräumen unserer Kinderseele aufsteigen, in denen noch jede Menge faschistoides Gerümpel herumliegt, das unsere Nazivorfahren dort hinterlassen haben.

    Der autoritär erzogene und »zur Sau gemachte« Mensch wird eine Neigung davontragen, das, was er selbst unter Schmerzen in sich abtöten und begraben musste, aus sich herauszusetzen und dort – am anderen und Andersartigen – zu bekämpfen und zu vernichten. Das niedergedrückte und beschädigte Leben brütet über seine Kompensationen und sinnt auf Rache. Auf der Basis eines an seiner Entfaltung gehinderten, durch pädagogische Dressur partiell getöteten Lebens entwickelt sich eine Tendenz, sich am anderen schadlos zu halten und zu verfolgen, was einem lebendiger vorkommt: »Der da, der reißt sich nicht so zusammen wie ich!« Spielerisch-provokant hat diesen Mechanismus eine Berliner Punkerin entlarvt, die in den Anfangsjahren der Punkbewegung mit ihrem schrillen Outfit und bunten Haaren in ein Taxi einstieg und vom Fahrer gefragt wurde: »Wat bist’n du für eene?« Sie antwortete: »Gestatten, ich bin Ihr Trieb!«

    Ressentiments und Feindseligkeit kommen dem um sein Glück Betrogenen aus allen Poren. Auf Anzeichen von einem Mehr an Glück und Lebendigkeit reagiert er mit Härte und Grausamkeit. »Gleiches Unrecht für alle« avanciert zur Maxime seines ungelebten Lebens. Der Faschismus setzte und setzt bis heute dieses Ressentiment politisch in Gang, er war und ist psychodynamisch die Wiederkehr des Verdrängten: »Wenn die toten Wünsche auferstehen, werden sie verwandelt in die Masse der Umzubringenden«, schreibt der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit in seinem beinahe vergessenen Buch »Männerphantasien«.
    Affirmation oder Emanzipation

    In dem Maße, wie wir Objekt und Opfer solcher Erziehungsprozesse geworden sind, sind wir alle partiell Getötete und tragen in uns den Widerstreit des Toten mit dem Lebendigen aus. Ein Teil von uns ist durch haltende, schützende und wärmende Körper früher Liebesobjekte belebt und bewohnt, der andere durch Abwesenheiten, Strafen, Kälte und Verlassenheit unbewohnt, entlebendigt, anästhesiert, im Extremfall totgestellt. Zwischen diesen beiden in uns miteinander ringenden Prinzipien herrscht kein ruhiges, homöostatisches Gleichgewicht. Jeder Mensch muss sich entscheiden, welches von beiden die Oberhand über sein und in seinem Leben gewinnen soll. Entscheidet man sich nicht, so wird für einen entschieden: Der Überhang der gesellschaftlichen Objektivität, der aufgehäuften und zu Kapital gewordenen toten Arbeit wird dafür sorgen, dass im Zustand scheinbarer Balance das tödliche Prinzip den Sieg davonträgt. Affirmation ans Tote oder Emanzipation, auf diese existen­tielle Frage antwortet jeder mit seinem Lebenslauf. »Zwischen Achtung und Verachtung des Lebendigen verläuft die Trennungslinie«, schrieb Max Horkheimer in seinen »Notizen«, weniger zwischen der abstrakten politischen Entscheidung zwischen links und rechts. Geschichtliche Erfahrungen haben uns schmerzhaft darüber belehrt, dass auch vermeintlich linke Entwürfe in den Sog einer tödlichen und todbringenden Produktionsweise geraten können, wenn sie sich von der regulativen Idee der Emanzipation, verstanden als Erzeugung des Menschlichen, allzu weit entfernen. Diese Erfahrung mussten Kommunisten wie Alfred Kantorowicz in Spanien machen, als sich NKWD-Leute und stalinistische »Parteischranzen« breitmachten und die Atmosphäre vergifteten: »Die beste Sache wird oft von Menschen mitverteidigt, die man lieber auf der Gegenseite wüsste. Bedenklich ist, dass gerade solche neuerdings bei uns zum Zuge kommen, in den Stäben, den Bürostuben von Albacete, Valencia, Barcelona und – Moskau.«

    Halten wir fest: Es gibt in Gestalt des Toten oder Totgestellten in uns einen fortdauernden Faschismus weit unterhalb des Kopfes, einen Faschismus der Gefühle oder der Gefühllosigkeit, der uns zu einem lebenslangen Austrag des Kampfes nötigt. Das kann man die Innenseite des Klassenkampfes nennen.
    Verhasste Lebendigkeit

    Nun aber noch einmal zurück nach Spanien. Wo verlief dort jenseits und unterhalb der Ebene der Ideologien die Grenze zwischen Linken und Rechten? Der Schriftsteller André Malraux beschreibt, wie anarchistische Milizionäre Zigaretten an faschistische Gefangene verteilen, die auf einem öffentlichen Platz antreten mussten. Später sprechen zwei Protagonisten seines Romans »Die Hoffnung« über diese Szene und fragen sich, wie sie zu deuten ist. Einer vermutet: »Sie wollen denen da oben beweisen, dass sie kein Recht haben, sie zu verachten. Was ich da sage, klingt wie ein Spaß, aber ich meine es durchaus ernst. In Spanien scheiden sich die Rechte und die Linke dadurch, dass die einen für die Demütigung eine Vorliebe haben, die anderen sie verabscheuen. Die Volksfront stellt unter anderem die Gemeinschaft derer dar, welche die Demütigung verabscheuen. (…) Das Gegenteil von Demütigung (…) ist nicht die Gleichheit, sondern die Brüderlichkeit.«

    Aus den von Hans Magnus Enzensberger in »Der kurze Sommer der Anarchie« gesammelten Berichten über Buenaventura Durruti und die anarchistischen Milizen spricht trotz allen Ernstes und aller Kampfbereitschaft doch auch eine enorme Lebensfreude, eine Lust am Fest und an der Liebe. Die spanische Arbeiterklasse war wilder und auch gewalttätiger als die deutsche oder englische, hatte weniger Respekt vor dem Privateigentum und dem Staat. Sie war noch nicht domestiziert und zu einem Teil der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Die Köpfe der spanischen Tagelöhner und Arbeiter waren noch nicht vom kapitalistischen Geist kolonialisiert, ihre Körper waren noch nicht zu bloßen Arbeitsinstrumenten geworden. Michel Foucault hat daran erinnert, dass »das Leben und die Zeit des Menschen nicht von Natur aus Arbeit sind, sie sind Lust, Unstetigkeit, Fest, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden, Gewalttätigkeiten, Räubereien etc. Und diese ganze explosive, augenblickhafte und diskontinuierliche Energie muss das Kapital in kontinuierliche und fortlaufend auf dem Markt angebotene Arbeitskraft transformieren«. Der Psychologe Klaus Dörner hat diesen Vorgang als »größtes verhaltensmodifikatorisches Experiment aller Zeiten« beschrieben, ein weltgeschichtlicher Dressurakt, der dann gelungen ist, wenn die Peitsche des Aufsehers nicht mehr nötig ist und die Menschen ihr kapitalverwertendes Unglück als Erfüllung und Bestimmung erleben. Schließlich, heißt es bei Karl Marx, entsteht eine Arbeiterklasse, die »aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt«. Die Domestizierten benehmen sich manierlich, verzichten auf Gewalt, organisieren sich in Parteien und Gewerkschaften, die ihre Lage in der bürgerlichen Gesellschaft verbessern wollen, die sie als Ganze nicht mehr in Frage stellen. Die spanischen Arbeiter waren nicht geneigt, sich der Fabrikdisziplin und den anderen Verhaltenszumutungen der kapitalistisch-industriellen Produktionsweise zu unterwerfen und rebellierten gegen sie.

    André Malraux, Franz Borkenau und George Orwell beschreiben aus den Tagen und Wochen nach der Niederschlagung des Militärputsches in Barcelona eine überschäumende Begeisterung, Fröhlichkeit, revolutionären Enthusiasmus und gelebte Brüderlichkeit. In der Hitze des Kampfes legen die Menschen die Stacheln ab, die sie sonst auf Distanz halten. Sie entdecken im anderen den Menschen. Die revolutionäre Masse erlebt sich wie ein einziger großer lebendiger Körper. »Die Nacht war nichts als Brüderlichkeit, (…) immer wieder die gleichen erhobenen Fäuste, die gleiche Brüderlichkeit«, heißt es bei Malraux. Diese schloss im übrigen Frauen mit ein, die sich gleichberechtigt an den Kämpfen beteiligt hatten: »Alle in irgendeiner Weise Unterdrückten haben sich um uns gesammelt, kämpfen mit uns«, heißt es bei Malraux. Die größte Kraft der Revolution ist die Hoffnung, die Hoffnung auf ein menschenwürdiges und glückliches Leben, ein Leben ohne Herren und Knechte. »Das, was wirklich zählt – ist das etwa nicht das Glück? Wofür macht man denn die Revolution, wenn nicht, um glücklich zu sein?« fragt der italienische Regisseur und Publizist Piere Paolo Pasolini in seinen »Freibeuterschriften«.

    Angesichts dieser Lebendigkeit geht Faschisten »das Messer in der Tasche auf«. Der Anarchist ist im Inneren des Faschisten anwesend in Gestalt seiner verdrängten Begierden und unterdrückten Wünsche. Der Faschist hält in sich ein anarchistisches Double gefangen, das ins Freie möchte und lebendig sein will und dessen Gefangenschaft er verewigt, indem er gegen die Anarchisten draußen zu Felde zieht. »Äußeres weist innen auf Verschüttetes«, wie der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny einmal geschrieben hat. Wenn sich bei anderen Menschen Wünsche nach einem Mehr an Autonomie und Lust regen, geraten das Anpassungsgefüge und die Festigkeit der Triebverdrängung des Faschisten in Gefahr. Überall sieht er die Kellerratten der Revolution »aus der Tiefe« herausdrängen und das Land überfluten. Überall muss er »Sümpfe trockenlegen« und »Sauställe ausmisten«. Der Hass des Faschisten ist ein Hass auf Teile der eigenen Person, auf abgewehrte und mühsam in Schach gehaltene Triebwünsche und Begierden. Und vor allem Verachtung von und Hass auf Frauen, die die Faschisten aller Länder und Zeiten umgetrieben haben und bis heute um- und antreiben.
    »Umgekehrte Psychoanalyse«

    Vieles von diesem faschistischen Syndrom haben wir gerade im US-amerikanischen Wahlkampf wieder aufleben sehen. »Lock her up!« (Sperrt sie ein!), »Drain the swamp!« (Legt den Sumpf trocken!), »Close the borders!« (Schließt die Grenzen!), wurde da von Donald Trump und seinen Anhängern skandiert. Man müsste sich die Mühe machen, die Sprache des designierten US-Präsidenten zu analysieren, zu schauen, welche Metaphern und Bilder er verwendet. Den Faschisten erkennt man nicht zuletzt an der Sprache, die er verwendet. Die Parolen Trumps zielen in erster Linie darauf ab, das aus dem Lot geratene innere Gleichgewicht des »kleinen Mannes« wiederherzustellen – auf Kosten von allen, die nicht sichtlich »unsereiner« sind. Er liefert Viagra für das Selbstwertgefühl des verunsicherten »kleinen Mannes«, der im übrigen auch eine »kleine Frau« sein kann. In einer eigenartigen »Identifikation mit dem Aggressor« haben über die Hälfte der weißen Frauen für den Kandidaten der Republikaner gestimmt, obwohl dieser sie zuvor derb beleidigt hatte.

    Der Soziologe Leo Löwenthal hat Politiker vom Typus Trump im Rahmen der »Studies in Prejudice« des Frankfurter Instituts für Sozialforschung im Exil bereits 1944 beschrieben. Der von Löwenthal zusammen mit Norbert Guterman verfasste Teil der Studie heißt »Prophets of Deceit« (»Lügenpropheten. Eine Studie über die Techniken und Themen des amerikanischen Agitators«). Dort entwickeln beide in Ansätzen eine Theorie der faschistischen Agitation, die uns auch heute noch ein Verständnis des rechten Populismus, zumal des Trumpismus eröffnet. Sie beschreiben das Vorgehen der amerikanischen Agitatoren der 1940er Jahre als »umgekehrte Psychoanalyse«. Während die Psychoanalyse die Ängste des einzelnen aufklärt und bisher Unbewusstes ins Bewusstsein zu heben versucht, um ihn mündiger zu machen, will der Rechtspopulismus die Ängste aller bestärken, um sie unmündig zu halten. Ein Beispiel für diesen Vorgang: Statt die vagen Überfremdungsgefühle der Menschen in eine Kritik der real existierenden und von Tag zu Tag wachsenden kapitalistischen Entfremdung zu überführen, lenkt der Populist sie gegen die Fremden, an deren Präsenz es liegen soll, dass man sich in der Heimat nicht mehr geborgen und zu Hause fühlt.

    Löwenthal und Guterman schreiben: »Der Agitator geht genau den entgegengesetzten Weg (wie die Psychoanalyse, G. E.). Er bedient sich solcher populären Stereotypen nur, um die vagen Ressentiments zu verstärken, deren Ausdruck sie sind. Er benutzt sie nicht als Ansatzpunkt für eine Analyse, sondern vielmehr, als wären sie schon das Ergebnis von Analysen: Die Welt ist kompliziert, weil es Gruppen darin gibt, deren Absicht es ist, sie kompliziert zu machen. Er hetzt sein Auditorium zu sozialen Reaktionen auf, die denen des verfolgungswahnsinnigen Individuums gleichen, und er bringt es dahin vor allem durch ein endloses Breittreten der Verschwörungsidee. (…) Statt Vorschläge zu machen für eine bessere Ausnützung der Produktionsmöglichkeiten oder für eine gerechtere Verteilung des Sozialprodukts, unterhält der Agitator lediglich die Ressentiments gegenüber den Exzessen des Luxus. (… ) Nach seinen Enthüllungen sollen Pläne bestehen, dass immer neue Einwanderermassen in das Land kommen. Diese Fremden erscheinen dann als eine gefährliche Konkurrenz, ein räuberisches Element, verbündet mit den ›internationalen Bankiers‹. (…) Die Heimatlosigkeit des Flüchtlings wird das psychologische Äquivalent für unterdrückte Triebe des Zuhörers. Solch eine Gleichsetzung ist eine Vorbereitung für ein Loslassen verbannter Triebe gegen ein verbanntes Volk; eine psychologische Brücke ist geschlagen zwischen dem inneren Druck eines Ressentiments gegen die Verdrängung und des Ressentiments gegen ein heimatloses Volk. Wer kein Heim hat, verdient auch keines.« Der Agitator spreche davon, dass »Amerika gereinigt werden müsse, empfiehlt ein reinigendes Bad. (…) Oft spricht er von dem gegenwärtigen Zustand des Landes als von einem verwahrlosten Haus. Er beschwert sich darüber, dass die Feinde ›unser schönes Land in Unordnung gebracht haben‹, dass ›ideologische und intellektuelle Krankheitskeime‹ Amerika mit ihren Seuchen bedrohen und dass es Zeit für einen ›Hausputz‹ sei. Er wettert gegen diesen ›ganzen stinkenden Unrat‹ und betont die Notwendigkeit, ›das Land von dieser schmutzigen Bande zu säubern‹. Ebenso wie die ›Niedere Tiere‹-Metapher tritt die hygienische Metapher so häufig und in so konsistenten Zusammenhängen auf, dass sie nicht als zufällig beiseite geschoben werden kann. (…) Die Projektion der eigenen unterdrückten Triebe auf den Feind gemahnt die Zuhörer jedoch gleichzeitig daran, dass diese Triebe unanständig und abstoßend sind. So erzeugt die Projektion gleichzeitig Lustgewinn und Feindeinstellung.«

    Soweit die Studie über die »Lügenpropheten« aus dem Jahr 1944. Sind die Parallelen zur Gegenwart nicht erstaunlich und erschreckend? Man müsste sich die Zeit nehmen, Reden von Trump und anderen Rechtspopulisten nach dem Vorbild von Löwenthal und Guterman eingehend auf ihre unterschwelligen Botschaften zu untersuchen. Seit der Veröffentlichung von »Der autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil« weiß man, dass so etwas wie ein faschistisches Syndrom existiert, zu dem verschiedene »Symptome« gehören. Unter der Federführung von Adorno wurde die sogenannte Faschismus-Skala entwickelt. Das ist ein Fragebogen, der antidemokratische Einstellungen und Eigenschaften der autoritären Persönlichkeit erfassen soll. Der Rechtsradikalismus kann wechselnde Züge annehmen, aber dennoch zeigt sich, dass bestimmte Einzelseiten in seiner Physiognomie regelmäßig im Verein mit anderen auftreten. So ist, wer gegen Ausländer, Juden und andere Minoritäten wettert, in der Regel auch gegen Frauenrechte und für die Prügel- und Todesstrafe. Er verachtet das Parlament als »Quasselbude« und wünscht sich einen »starken Mann«, der »das Land mit harter Hand regiert«. Es existiert eine sozialpsychologische Komplementarität, die dafür sorgt, dass bestimmte gesellschaftliche Affekte sich mit anderen verbinden. Das ist bis auf den heutigen Tag nicht anders geworden und findet sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auch im gegenwärtigen Rechtspopulismus, wobei der Antisemitismus häufig nicht offen gezeigt wird.
    Kollektive Regression

    Die »umgekehrte Psychoanalyse« ist im Schwange und feiert nach wie vor ihre Triumphe. Statt das dumpf im psychischen Untergrund Schwelende und die frei flottierenden Ängste der Leute über sich selbst aufzuklären und ins Bewusstsein zu heben, wie es psychoanalytische und aufklärerisch-demokratische Praxis wäre, eignet sich der faschistische Agitator bzw. Rechtspopulist diesen Rohstoff so an, wie er bereitliegt, und setzt ihn für seine Zwecke in Gang. Er bedient wiederentflammte Spaltungsneigungen in »nur gut« und »nur böse« und rückt den verunsicherten Menschen einen Feind zurecht, den sie für ihr Unglück verantwortlich machen können. Da einer Erkenntnis der Psychoanalytikerin Melanie Klein zufolge alle Menschen das Stadium des frühkindlichen Spaltungsneigung, der »paranoid-schizoiden Position«, durchlaufen, bleibt die Neigung, widersprüchliche Situationen und seelische Spannungszustände auf diese Weise zu entschärfen, nicht nur bei den Menschen virulent, die aufgrund blockierter Reifungsprozesse auf dieses Entwicklungsstadium fixiert blieben, sondern auch bei »durchschnittlich-normalen« Erwachsenen. In Zeiten verbreiteter Verunsicherung und Desorientierung findet eine kollektive Regression auf archaische Mechanismen der psychischen Regulation statt. Urteils- und Differenzierungsvermögen bilden sich zurück, und es steigt das Bedürfnis nach entlastenden Vereinfachungen. Wer die simpelsten Polarisierungen liefert, hat nun die besten Aussichten, Gehör und Gefolgschaft zu finden. Wirkliche Aufklärung – unter striktem Verzicht auf alles Populistische ist dagegen anstrengend und schmerzhaft. Das ist der Grund, warum in Krisenzeiten, wenn die Menschen sich nach schnellen Lösungen sehnen, linke Aufklärungsversuche gegenüber den populistischen Vereinfachungen kaum eine Chance haben.

    Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der Edition des Georg-Büchner-Clubs erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Dort hat er soeben unter dem Titel »Es ist besser, stehend zu sterben als kniend zu leben! No pasarán!« auch ein Bändchen über den Spanischen Bürgerkrieg veröffentlicht.