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  • Liebender Vater des Tages: Dmitro Kuleba
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    Taxi zur Front

    14.1.2025 von Reinhard Lauterbach - Wer Latein gelernt hat, erinnert sich vielleicht noch an den Unterschied zwischen subjektivem und objektivem Genitiv: Amor patris kann sowohl die Liebe des Vaters gegenüber seinen Kindern bedeuten, als auch deren Gefühl ihrem Vater gegenüber. Die Ukraine, die neuerdings gern ihre Zugehörigkeit zum westlich-lateinischen Kulturkreis behauptet, hat jetzt ein schönes Beispiel des subjektiven Genitivs gegeben: Exaußenminister Dmitro Kuleba musste zugeben, dass er seinem heranwachsenden Sohn geraten hat, sich lieber nicht zur Armee zu melden, sondern erst mal zu studieren – Studenten sind nämlich bis zum Examen zurückgestellt. »An der Uni hast du doch auch Kurse in vormilitärischer Ausbildung«, soll Kuleba senior seinem patriotischen Filius gesagt haben. Der Hintergedanke ist klar: Bis du fertig bist, ist der Krieg vielleicht vorbei. Auch Politiker sind Menschen, das sei hier ohne jede Ironie festgehalten. Wenigstens gegenüber den eigenen Angehörigen, nicht zu verwechseln mit Staatsangehörigen.

    Der amor patriae – die Liebe zum Vaterland – als ein Schulbeispiel des objektiven Genitivs dagegen lässt in großen Teilen der ukrainischen Bevölkerung zu wünschen übrig. Und es ist nicht so, dass dies denen, die die Liebe zum Vaterland notfalls zu erzwingen haben, nicht bekannt wäre. An diesem Wochenende ging der Screenshot einer Taxibestellungsapp aus Odessa durchs Netz. Dort hatte das regionale Wehrersatzamt einen Kleinbus bestellt, um »Drückeberger zuzuführen«. Die Besteller versprachen dem Chauffeur nicht nur einen Gutschein über 59 Liter Benzin oder Diesel, sondern auch, den Fahrer »nicht anzurühren«. Was nicht selbstverständlich ist. Es sind schon Busfahrer mit zwei Schulklassen hinten drin während einer Pinkelpause in den Karpaten von der Armee mitgenommen worden, und Taxifahrer aus Odessa sind nicht blöd. Ob die bestellte Fahrt zustande kam, wurde nicht berichtet.

    #Ukraine #Krieg #Taxi

  • KI und Imperialismus
    https://www.jungewelt.de/artikel/491211.ki-und-imperialismus-designpreise-gewinnen-und-kriege.html

    Joint Venture : Elon und die Air Force (Colorado Springs, 7.4.2022)

    11.1.2025 von Dietmar Dath - Designpreise gewinnen. Und Kriege
    Wie ist der Imperialismus heute nicht nur sozial- und weltpolitisch, sondern auch wissenschaftlich-technisch als Destruktionsverhältnis organisiert?

    Der folgende Text ist die gekürzte Fassung eines Referats, das der Verfasser am 23. Dezember 2024 vor der Anton-Semjonowitsch-Makarenko-Gesellschaft in Freiburg-Munzingen gehalten hat. (jW)

    Ende 2024 wurde es einigen Beschäftigten bei Open AI endlich mulmig. Die Folgen von Chat-GPT und anderen Erzeugnissen des Hauses hatten ihnen noch nicht das Gewissen gezwickt. Jetzt aber kündigte die Firmenleitung eine Partnerschaft mit dem Militärausrüster Anduril Industries an. Teile der Belegschaft murrten also. Es half nichts: beschlossene Sache.

    Eine ältere Formulierung in den Open-AI-Nutzungsbedingungen hatte den Gebrauch der eigenen Produkte auf dem Feld »military and warfare« noch ausgeschlossen, nun aber hieß es aus der Chefetage, man wolle gemeinsam mit Anduril dafür sorgen, dass keine feindlichen Maschinen amerikanischem Militärpersonal Ungelegenheiten machen könnten. Sam Altman, das öffentliche Gesicht von Open AI, bekannte sich pathetisch dazu, Menschen helfen zu wollen, die ihr Leben riskierten, um »unsere Familie und unser Land« zu schützen.

    Man kann die Verbindung zwischen Politik, Krieg und dem Stand der Technik, die Imperialismus heißt, auch weniger patriotisch beschreiben. In den Aufzeichnungen, die Lenin zwischen 1912 und 1916 verfasste, um seine große Abhandlung über den Imperialismus vorzubereiten, steht die hilfreiche Bemerkung: »Der Sozialchauvinismus ist ein ebenso unvermeidliches Produkt des Imperialismus wie der drahtlose Telegraph.«

    Wenn man weiß, dass mit »Sozialchauvinismus« die (hier und da notdürftig sozialistisch verhüllte) aggressive Vaterlandspropaganda der moralisch zusammengebrochenen Zweiten Internationale gemeint war, dann kann man dem Satz ein etwas detailreicheres und verwickelteres Update für 2025 entlocken: Die zunehmend kriegsaffinere Ideologie der bürgerlichen »international rules-based order«, besonders laut vertreten beim Establishment-Linksliberalismus, von den US-Demokraten bis zu den deutschen Grünen, ist ein ebenso unvermeidliches Produkt des Imperialismus wie die Digitalisierung (inklusive künstlicher Intelligenz).

    Kriege werden in Wirtschaftszusammenhängen ausgebrütet, nicht in Regelstreitigkeiten, deswegen ist Donald Trumps Verachtung für Regeln keine Garantie, dass er die Kriege bleibenlassen wird, die Obama und Konsorten mit Regelverstößen des Feindes zu rechtfertigen pflegen. Ideologie macht nur Geräusche zum falschen Produktionsverhältnis, Politik gibt dann die tödlichen Mittel frei.

    Wenn also etwa die NATO-Leitung sich auf die Aufgabenliste schreibt, man wolle bald mal nachsehen, ob sich unbemannte intelligente Boote eignen, Untersee-Internetkabel vor Anschlägen zu schützen, und wenn Admiral Pierre Vandier, zuständig für »Concepts and Transformation« an genau dieser Front, dazu bereits vorhandene KI-kompatible Einheiten ausbauen will, dann passiert das eben in Wirtschaftszusammenhängen, also auf dem Spielfeld von Open AI, Microsoft und Google. Die Aufwertung der Wehrhaftigkeit des Gemeinwesens ist nämlich nur die dialektische Kehrseite der Entwertung von allerlei zivilen Qualifikationen, zum Beispiel derjenigen promovierter Arbeitskräfte, die sich auf einmal in Hilfsarbeitsdienstleistungspools wiederfinden. Es gibt Betriebe, die nichts anderes leisten als die Organisation solcher Schieberei. Ihre Namen kennt jedoch im Gegensatz zu denen von Open AI, Microsoft und Google kaum jemand. Einer heißt Centaur Labs, Anbieter der Arbeitskraft akademischer Koryphäen zur bedarfsgerechten Fütterung von KI-Software im medizinischen Bereich. Sehr viel »intelligente« Software lässt sich ohne derartige menschliche Assistenz gar nicht profitabel nutzen – »custom tooling and experts-in-the-loop for machine learning and generative AI model evaluation« heißt diese Assistenz bei einer weiteren Firma aus diesem neuen Wirtschaftszweig, die sich »iMerit« nennt. Der Wortbestandteil »merit« im Firmennamen meint »Verdienst«, aber nicht im Sinne von Entgelt. Gemeint ist »Wert der Leistung«, wie in »Meritokratie«. Herrschen soll das Verdienst indes gerade nicht (»-kratie« kommt von »kratein«, herrschen), denn dafür gibt’s schon Monopolbosse.

    Die Radiologin, der Festkörperphysiker, der roboterkundige Massenmörder mit Abschluss bei einer Heeresakademie: nach dieser Art Fachkraft gieren Investitionsinstanzen, die das KI-Geschäft befeuern. Das gesamte Digitalwesen ist wagniskapitalgetrieben. Figuren wie Raj M. Shah, ehemals Direktor der »Defense Innovation Unit« im Pentagon, die heute mit Spießgesellen das Unternehmen Shield Capital steuert, ködern »Angel Investors«, die dann ihrerseits Startup-Firmen wie den Rüstungs-Ideenzünder Vannevar Labs züchten. Dieser Betrieb heißt nach dem Ingenieur Vannevar Bush, einem der Väter des Manhattan-Projekts, also der Atombombe, dessen 1945 lancierter Bericht »­Science, the endless Frontier« den US-Kongress zur Schaffung der National Science Foundation bewegte, die der Digital Libraries Initiative in Stanford auf die Beine half, bei der Sergey Brin und Larry Page die Algorithmen entwickelten, aus denen Google wurde. Ein Stand entsteht: Schon Brins Vater war Informatiker an der Michigan State Uni gewesen, als dort allerlei Raketenballistik ausgetüftelt wurde, und seine Mutter gehörte zur NASA-Belegschaft.
    Staat und Kapital verschaltet

    Rasch nähert sich der Imperialismus in Sachen Erblichkeit von Funktionsposten heute feudalen Verhältnissen an. Vergessen ist die »vertikale soziale Mobilität« (heißt: auch armer Leute Kinder können interessante Jobs ergattern), ein Hauptanliegen sozialliberaler Bildungspolitik während der letzten großen westlich-nördlichen Modernisierungen vor einem halben Jahrhundert. Die aktuelle Produktivkraftentwicklung verschaltet Staat und Monopolkapital mit erheblich größerem Wirkungsgrad als ehedem, von der Halbleiterindustrie bis zur Elektromobilität – wer ernsthaft meint, Elon Musk suche erst jetzt die Nähe zum Staat, dessen Sozialsperenzchen er für seinen erfolgreichen Kandidaten zusammenstreichen soll, ignoriert den 500-Millionen-Dollar-Kredit des Energieministeriums, ohne den Tesla nicht ins Rollen gekommen wäre.

    Während Musk sein Showmanship ausübt, vernetzt der im Schatten solcher Show wirkende Raj M. Shah technische Expertise-Kader mit politischen Strategie-Cracks, über Organisationen wie die »Tech Track 2«-Initiative bei der Hoover Institution, einem scharf reaktionären Thinktank, dessen Aktivitäten in den bürgerlichen Medien genau wie Shah eher wenig Licht abkriegen, im Gegensatz zum »Project 2025«, das von 2022 an bei der Heritage Foundation als Blaupause für einen autoritären Rollback in die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde, mit dem strukturfunktionalen Zweck der Beseitigung binnenstaatlich-verwaltungsstruktureller Widerstände gegen faschistoides Durchregieren der entschlossensten Kapitalfraktionen. So was wie das »Project 2025« alarmiert Linksliberale, aber »Tech Track 2« will viel mehr, nämlich Russland und die VR China kleinkriegen, und morgen die ganze Welt. Im Handbuch für dieses Programm »Unit X: How The Pentagon and Silicon Valley are transforming the Future of War« (2024), gemeinsam verfasst von Shah und einem Tech-Berater des National Security Council unter Drohnen-Obama namens Christopher Kirchhoff, erklären die beiden, das geopolitische Ziel sei nur zu erreichen mit den besten Köpfen, und zwar im Verteidigungsministerium wie im Silicon Valley. Vermittlungseinrichtungen sollen dabei helfen, zum Beispiel In-Q-Tel, der Venture-Capital-Arm der CIA. Wie bitte?
    Lenins Klarheit

    Ja: Dieser fürchterliche Geheimdienst besitzt einen Kapitalmanagement-Flügel. Überraschen kann das nur Menschen, die keinen Begriff vom Monopolkapitalismus haben, nicht mal in Form von Lenins schöner Eselsbrücke »Heute Minister, morgen Bankier; heute Bankier, morgen Minister!«

    Gemessen an Lenins Klarheit war selbst die berühmte Abschiedswarnung des Präsidenten Eisenhower im Jahr 1961 vor »unwarranted influence« (also: ungerechtfertigtem Einfluss) des »military-industrial complex« ein Stochern im Nebel, genau wie das Gerede von Uni und Medien über »Industriegesellschaft« statt »Imperialismus«. Welche Vielfalt der Erscheinungen wird dem Hirn zugemutet: »Neoliberalismus«, dann »Globalisierung«, dann »Finanzmarktkapitalismus«, dann »Digitalkapitalismus«, immer werden diese Namen gebastelt unter Hypostasierung einzelner Aspekte des imperialistischen Gesamtprozesses. Kritik wird so auf geordnet kritisch-reformistische Bahnen abgeleitet. Sofern nämlich etwa »Finanzparasiten« und deren Übermacht übers »schaffende Kapital« (um gleich den Nazi-Ausdruck zu nennen, der dieses ganze dumme Zeug ideal zusammenfasst) das Problem sind, muss man ja lediglich Steuerinstrumente in Stellung bringen. Sofern Robert Habeck, wie die Black-Rock-Merz-CDU und die AfD ihm vorwerfen, bloß Exekutor einer obskuren »Klima-Ideologie« ist, obgleich er dazu ansetzt, das Wohneigentum der letzten paar Kleinbesitzenden per Mehrfach-Umbaubelastung im Nachhaltigkeitskorsett zu liquidieren, interessiert uns eben auch nur, was dieser Onkel subjektiv in der Rübe hat, und wir können vornehm davon schweigen, dass er diesen Rübeninhalt nur als Knecht der Monopole ausagieren darf (denn der Kleinbesitz der Ruinierten wird an »private equity« verkauft, wenn die Nummer klappt). Wo man den Typus Habeck derart missdeutet, wird er in der Phantasie wieder gut, sobald der empirische Habeck sich besinnt und im Wahlkampf mit der Parole »Milliardärssteuer« auf Dummenfang geht. Hurra, er hat die »Klima-Ideologie« im Sinne eines sozialen Gewissens einzuschränken gelernt!

    Der Milliardär, der härter besteuert werden soll, könnte ganz aufrichtig schimpfen: Woher soll ich’s nehmen, wenn die vorhandenen Produktionsverhältnisse nicht mal mehr auf dem Sektor »Innovationen« eine Profitrate hergeben, die sich halbwegs sehen lassen kann, wie früher, im Eisenbahnräuberkapitalismus? Per Staatsgewalt und Gewaltstaat lässt sich allerdings doch noch ein bisschen an den Profiten drehen, nämlich zum Beispiel durch Rüstung, und deshalb erklärte dann Noam Perski vom Big-Data-Unternehmen Palantir im Dezember 2024 auf dem ersten »Defense Tech Summit« der Uni von Tel Aviv, »kein moderner Krieg« könne mehr ohne die richtige Software gewonnen werden (die Rolle der Infanterie in Syrien hin oder her).

    Software ist tatsächlich, wie Perski in jener Ansprache predigt, das »most malleable« Waffenmaterial, also: das formbarste. Es kann dabei spektakulär nach hinten losgehen, wie die Arroganz der Datenfirmenchefs lernen könnte, wenn diese Leute zum Beispiel ein Ohr dafür hätten, wie die Hege- und Pflegetruppen bei Open-Source-Programmen derzeit von wertlosen Fehlerwarnungen überflutet werden, die KI-Systeme unablässig abfeuern. Unter technisch-naturwissenschaftlich geschulten Leuten erheben sich aber zunehmend Stimmen wie die des »Intellectual Dark Web«-Mitbegründers Eric Weinstein für neue digitalisierte Waffenproduktion. Dieser Mann ist von Haus aus mathematischer Physiker, außerdem Geldmanager für Trumps Strippenzieher Peter Thiel und absolut kein Dummkopf. Neuerdings fordert er die Abschaffung von juristischen Sicherheitsvorkehrungen, die in den USA bislang dafür gesorgt haben, den Einfluss des Militarismus auf die avancierteste Forschung einzuschränken. Weinstein verlangt, man solle jetzt vor allem die »Mansfield Amendments« loswerden, Bestimmungen, die a) militärischer Finanzierung von Forschungsprojekten Grenzen setzen und b) auch die indirekte Verfilzung der zwei Sphären erschweren.
    Es kennt meinen Namen

    Als die Militärs uns, den Forschungsfachleuten, noch näherstanden, so erzählt Weinstein jetzt allen Podcasts, die es hören wollen, haben sie uns meistenteils in Ruhe gelassen, wir hatten allenfalls eine Art Bereitschaftsdienst, wurden also gefragt, falls mal was los war, da müssen wir wieder hin, und wichtiger als Breitenbildung ist, dass diejenigen, die in Physik, Mathe, Biologie Neues und Außergewöhnliches zustande bringen, im Zivilen wie Militärischen zeitgemäße Formen von intellektuellen Besitzrechten beanspruchen können, auch für Grundlagenforschung, nicht nur bei Sachen, für die man Patente anmelden kann.

    Wenn Herr Weinstein das wirklich glaubt, dann glaubt er wohl auch, dass arbeitslose Reservearmeen von Niedrig- und Unqualifizierten eine Menge Spaß beim Rumsitzen als Opportunitätskostendarsteller und Lohndrücker haben. Es wird Weinsteins imaginären Eliten auf diesem Kurs nicht besser gehen als dem von Simon Pegg gespieltem Techniker Benji Dunn in den »Mission: Impossible«-Filmen, der in »Dead Reckoning« (2023) seinen Schock angesichts der Reichweite der Verfügung künstlicher Intelligenz über die lebendige Arbeit in die entsetzten Worte kleidet: »It knows my name!«

    Ja, dein Name steht auf der Speisekarte der KI, die braucht viel Eiweiß für Künstliche Neuronale Netze insgesamt, für konkrete, bedarfsgerechte Versionen wie RNNs (Recurrent Neural Networks), LSTM-Networks (Long Short-term Memory) und schließlich für die Transformer-Architekturen, die seit 2017 das Spiel grundsätzlich umgekrempelt haben. Die nächsten Gänge sind bekannt: Quantencomputer, Kühlsystemfragen, Verschlüsselungswettläufe, Quantensensorik fürs Messen von Strahlung und Kräften, unter Wasser, im Erdinnern, für die Zielerfassung, dann Energie- und Rohstoffsicherung für all dies und so weiter. Die Eigengesetzlichkeit der Hardware- und Softwareneuerungen ist dabei das eine. Die Aneignung von Lösungen sämtlicher Probleme, die sie schaffen, das andere. Nämlich unter den versauten Gebrauchswertbestimmungen der monopolkapitalistischen Klassengesellschaft ins irrationale Belieben von Instanzen gesetzt, die nur fragen: Läuft das Programm auf dieser oder jener Maschine richtig? Aber nicht: Ist es das richtige Programm, ist das die richtige Maschine für uns Menschen?

    Die Irrationalität des Arrangements wird verschleiert mittels Systemrationalitätsbehauptungen, deren Plausibilität mit Erfindungen wie den Künstlichen Neuronalen Netzen und insbesondere der Transformer-Architektur einen fatalen Plausibilitätsschub bekommt: »Autonome Maschine« wird ein glaubhafter Begriff, gerade auch in dem spezifischen Sinn der Definition des Internationalen Roten Kreuzes für Waffenkontrollbelange: »Autonom« ist nach dieser Bestimmung eine militärische Vorrichtung, die erstens selbständig Angriffsziele aussucht und diese zweitens ohne direkten Befehl angreift.
    The First AI War

    Am 16. Dezember 2020 gaben die USA bekannt, dass zum ersten mal (wenn’s stimmt …) ein KI-Sy­stem die komplette Kontrolle über das Sensor- und Navigationssystems eines U-2-Dragon-Lady-Spionageflugzeugs übernommen hatte. Das Programm suchte nach Raketenabschussrampen des Gegners und wertete Radaraufnahmen aus. Dem Piloten aus Fleisch und Blut blieb nur noch das Erkennen angreifender Flugzeuge und gegebenenfalls die Reaktion darauf. Eine Maschine attackiert, der Mensch darf sich gerade noch verteidigen – die Schwelle, die da überschritten wird, macht Geräte zu etwas, das nicht einfach »funktioniert«, sondern zum Beispiel »lauert« wie die in ihrem Einsatzgebiet herumschwebenden »Harpy«-Drohnen des israelischen Militärs. Der Waffenexperte Zachary Kallenborn schrieb schon 2021 einen Alarmaufsatz namens »Israel’s Drone Swarm over Gaza schould worry everyone« und nannte das, was ihn da umtrieb, den »first AI war«: den ersten KI-Krieg. Wo eine Maschine autonom agiert und attackiert, zeigt sich der Anteil der menschlichen Arbeit (nämlich: des falschen Produktionsverhältnisses) an der Entmenschlichung des Menschen als katastrophenförmiger Übergang vom naturgeschichtlichen zum produktionsgeschichtlichen Aggressionsmuster.

    So sehr gewisse Gelehrte der Welt mit sozialdarwinistischem Gedankenlärm in den Ohren liegen, der die Destruktivität der herrschenden Unordnung als »Kampf ums Dasein« (und also als naturgegeben) verkaufen soll, so ungern hört man in der sogenannten »Soziobiologie« (wie auch der seriösere Teil entsprechender Forschungen seit Edward O. Wilsons in der Tat unerschöpflich anregendem Hauptwerk gleichen Namens aus dem Jahr 1975 heißt) etwas über die energetischen Kosten-Nutzen-Rechnungen, die unsereins von Natur aus gerade nicht aggressiv, sondern eher defensiv macht. Als Lebewesen darf ich mich in der Knappheitslandschaft der Naturressourcen nämlich auch dann immer nur soweit anstrengen, wie ich eben muss, um meine Nahrungsquellen, mein Territorium und meine Fortpflanzungsaussichten zu schützen, wenn ich ein sehr böser Affe bin. Falls ich nämlich vor lauter Bosheit andauernd konspezifisch oder außerhalb meiner Art unprovoziert irgendwas oder irgendwen angreife, wird mir bald die Puste ausgehen.

    Maschinen jedoch, die von Selbsterhaltung und Reproduktion nichts wissen müssen (aber können, wenn man’s reinprogrammiert), sind an diese Prämissen nicht von vornherein gefesselt. Wenn wir die Kriegführung jetzt Automaten überlassen, weil wir mit ihrer Rechengeschwindigkeit nicht mithalten können, ändert sich folglich eine erdgeschichtliche Biosphären-Tiefenkonstellation: Unprovozierte Aggression wird vom Nachteil zum potenziellen Vorteil im Entwicklungsgang.

    Wir unterstehen heute ökonomischen Abläufen, in denen mit ungeheurem Aufwand sehr vieles produziert wird, was für die Mehrheit der Menschen keinerlei Gebrauchswert hat, zum Beispiel Warenwerbung (inklusive Manipulation und suchterzeugende Attribute der Waren selbst) oder Mordwerkzeug. In Simon Stålenhags illustriertem Roman »The Electric State« hängt über einer tristen spätimperialistischen Steppenlandschaft ein Schild, auf dem steht, worauf irgend so eine Computerkram-Firma besonders stolz ist: »Winning design awards. And wars.«

    Dietmar Dath ist Referent auf der 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am kommenden Sonnabend in Berlin. Infos unter jungewelt.de/rlk

  • JVA Tegel: »Innerhalb der Mauern herrschen eigene Gesetze«
    https://www.jungewelt.de/artikel/491371.jva-tegel-innerhalb-der-mauern-herrschen-eigene-gesetze.html

    Katharina Schoenes - Berlin: Zahlreiche Missstände in JVA Tegel. Gefangener schickt Beschwerde an Justizsenatorin. Ein Gespräch mit Andreas Krebs

    Im Dezember haben Sie als Vertrauensperson der Gefangenen der Teilanstalt II in der JVA Tegel in Berlin ein Schreiben an die Justizsenatorin gesendet, um auf Missstände in der JVA aufmerksam zu machen. Um welche Missstände geht es?

    Es sind unterschiedliche Dinge, zuerst aber die mangelhafte medizinische Versorgung. Ich kann davon aus eigener Erfahrung berichten, höre das aber auch ständig von Mitgefangenen. Und sogar die Stationsbeamten beklagen das. Ich sehe selbstverständlich, dass die Ärzte hier überfordert sind. Aber die Leute einfach abzuspeisen, mit gravierenden Problematiken, das geht gar nicht.

    Wie äußert sich das konkret?

    Ein Gefangener, dem es nicht gut geht, muss von sich aus einen Antrag stellen, mit der Bitte um eine Krankmeldung. Die wirft er am frühen Morgen in den Postkasten der Arztgeschäftsstelle. Das kann dieser Gefangene über Monate hinweg machen. Kein Sanitäter oder Arzthelfer wird in dieser Sache hellhörig, niemand. So war es zum Beispiel in meinem Fall. Drei Monate habe ich jeden Tag einen Antrag durch Bedienstete, durch Mitgefangene abgeben lassen, weil ich nicht laufen konnte. Und kein einziges Mal wurde ich von einem Arzt geholt. Erst als mein Anwalt mit einer Strafanzeige gedroht hat, wurden sie tätig. Das geht nicht! Wenn sich jemand einige Tage krankmeldet, weil er eine kurze Auszeit braucht, ist das in Ordnung. Aber über einen längeren Zeitraum hinweg muss irgend jemand der Sache nachgehen.

    Welche anderen Probleme gibt es?

    Während des Hofgangs kann man nicht auf Toilette gehen. Mangelnde Sportmöglichkeiten sind ein weiteres Thema, die Gefangenen können nur Ausdauerübungen ausführen, Kraftsport überhaupt nicht. Dann das Essen – das Essen ist wirklich unter aller Kanone. Oft sind die Soßen nicht richtig durchgekocht, und viele Gefangene nehmen sich nur die Kartoffeln oder Nudeln, um sich damit selbst etwas zuzubereiten. Ich habe auch beobachtet, dass gewisse Beamte das Essen vorgekostet haben und den Kopf darüber schütteln. Hinzu kommen die Drogen. Die Leute fallen reihenweise um oder drehen durch. Mir wurde von den Bediensteten mal hinter vorgehaltener Hand gesagt, das sei so gewollt, denn dann herrsche Ruhe. Moderner, liberaler Strafvollzug sieht für mich anders aus.

    VVN-VdA

    Über Missstände in der JVA Tegel wurde schon häufig berichtet. Immer wieder geht es um veraltete Sanitäranlagen, enge Zellen, Gewalt zwischen Gefangenen und Drogen. Haben die Probleme sich noch zugespitzt oder ist es ein Dauerzustand?

    Es ist eindeutig ein miserabler Dauerzustand. Wir haben uns mit einigen Gefangenen zusammengesetzt und gesagt, diese Punkte schildern wir einmal. Ob wir dadurch etwas bewirken, wissen wir nicht. Wir versuchen es auf vielen Wegen, wir suchen etwa das Gespräch mit Stationsbeamten. Aber die normalen Stationsbeamten können uns nicht helfen, sie sind der Situation genauso hilflos ausgeliefert. Und die Anstaltsleitung ignoriert die Probleme.

    Rechnen Sie mit Schikanen, weil Sie Probleme in der JVA öffentlich gemacht haben?

    Definitiv. Aber ganz ehrlich: Es ist mir egal. Ich nehme das gerne in Kauf, denn es geht um unsere Rechte. Und dann höre ich, Berlin sei ein liberales Bundesland. Wo soll es hier liberal zugehen?

    Wie sind die Verhältnisse in der JVA Tegel im Vergleich zu anderen Haftanstalten?

    Ich habe viele Haftanstalten in anderen Bundesländern erlebt – das ist kein Vergleich mit hier. Man darf nicht vergessen: eingesperrt ist eingesperrt. Aber in Tegel sind die Probleme weitaus gravierender als in anderen Bundesländern, auch in Sachen Korruption.

    Gab es bereits eine Reaktion der Justizsenatorin?

    Nein, es gab keine Reaktion. Wer uns unterstützen will, sollte Druck auf den Senat ausüben, denn dort werden die Entscheidungen getroffen. Und es ist wichtig, das System zu hinterfragen. Die Bevölkerung draußen nimmt an, die Gefangenen sind hinter Schloss und Riegel, die Allgemeinheit ist davor geschützt, alles ist schön und gut. Aber innerhalb der Mauern herrschen eigene Gesetze.

    Andreas Krebs ist Gefangener in der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel

    #Allemagne #prison #Berlin

  • Berufsverbote 2.0 : »Dieses politische Klima wirkt« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/491047.berufsverbote-2-0-dieses-politische-klima-wirkt.html


    10.000 Betroffene des »Radikalenerlasses« demonstrierten 1978 (Dortmund, 11.2.1978)

    Depuis l’interdiction du parti communiste allemand en 1956 les fonctionnaires et employés de gauche risquent le licenciement. Le délit inofficiel d’anticapitalisme est sanctionné avec chômage et pauvreté. La persécution n’a jamais cessé. Dans le contexte des préparatifs à la guerre les activités et propositions de lois liberticides se multiplient.

    La ministre de l’intérieur SPD vient d’introduire le licencierment d’employés de la fonction publique par simple décision administratibe. D’après elle ça conrribue à la lutte antitertoriste.

    4.10.2024 von Gitta Düperthal - Repressionen gegen Linke bis hin zu Berufsverboten nehmen zu und werden auch im Wahlkampf gefordert. Ein Gespräch mit Werner Siebler

    Sie kritisieren, dass wieder Berufsverbote geplant sind. Welche Parteien machen sich im Wahlkampf dafür stark?

    Die selbsternannte »Fortschrittskoalition« Ampel erweiterte weder demokratische Rechte, noch rehabilitierte sie Betroffene des »Radikalenerlasses« der 1970/80er Jahre. Sie befeuerte gar einen Wettbewerb des Demokratieabbaus. Jetzt im Wahlkampf werfen nahezu alle Parteien in ihren Programmen Linke mit Rechten und Neonazis in einen Topf und setzen sie mit Terroristen gleich, gemäß der sogenannten Hufeisentheorie. Bundesinnenministerin Nancy Faeser ermöglichte im Disziplinarrecht 2024 Entlassung aus dem öffentlichen Dienst ohne gerichtliche Entscheidung. Erst nachdem sie rausgeflogen sind, können Betroffene dagegen klagen. Zwar betonte man seitens der SPD als Anlass den »Rechtsextremismus«, das Gesetz aber betrifft alle sogenannten Verfassungsfeinde. Wenn die CDU in ihrem Programm diese Form der Entlassung per Verwaltungsakt ablehnt, ist zweifelhaft, ob es ihr dabei um den viel beschworenen »Schutz der Demokratie« geht. Vielleicht will sie Rechte bei Polizei und Bundeswehr vor Entlassung schützen, da dies ihre eigene Klientel betreffen könnte. Die AfD fordert vor allem radikaleres Vorgehen gegen vermeintliche Linksextremisten, teils mit derselben Wortwahl wie nahezu alle anderen Parteien. Der kritiklose Umgang der Grünen mit den Geheimdiensten überrascht: Wie vehement sie sich für einen neuen »Radikalenerlass« einsetzen!

    Was genau erstaunt Sie?

    Im Entwurf des Grünen-Bundesvorstands vom 17. Dezember vergangenen Jahres heißt es unter der Überschrift »Für ein entschiedenes Vorgehen gegen Extremismus und Terror«: Die Nachrichtendienste müssten »angemessen ausgestattet«, der »Verfassungsschutz« so aufgestellt sein, dass er »besser als bisher die Demokratie vor Angriffen schützen« könne. Der aber hat Verfassung und Meinungsfreiheit noch nie geschützt, maßte sich gar unzulässige Pressezensur an; setzte etwa die Zeitung junge Welt auf den Index, um ihre Verbreitung zu erschweren. Die Grünen sind auf den reaktionären Kurs eingeschwenkt, mit Ausnahme, das allgemeine Gleichstellungsgesetz stärken zu wollen – auch gegen berufliche Diskriminierung. Im Widerspruch dazu, dass sie Demokratieabbau forcieren wollen!

    Hat man also gar keine Wahl?

    Schon. Während alle Parteien fordern, die Geheimdienste weiter auszubauen und mit mehr Kompetenzen zu versehen, hebt sich Die Linke kritisch hervor. Sie stellt den sogenannten Verfassungsschutz infrage, will ihn durch eine unabhängige Beobachtungsstelle »Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« ersetzen. Das V-Leute-System des Inlandsgeheimdienstes und seine Verstrickungen mit der extremen Rechten müssten »aufgedeckt und beendet« werden.

    Warum beschäftigt Sie der »Radikalenerlass«?

    Ich selber wurde vor 40 Jahren per Verwaltungsakt als auf Probe verbeamteter Briefträger bei der Post entlassen. Die Gründe damals: meine Kandidatur für die DKP, Vorträge bei der marxistischen Arbeiterbildung und eine Reise in die DDR.

    Sie kritisieren, dass seit 2023 Berufsverbote gegen Linke wieder zunehmen – inwiefern?

    Klimaaktivistinnen und -aktivisten wird die Einstellung verweigert, etwa in München als Schullehrerin, in Jena als wissenschaftliche Hilfskraft an der Uni. Die Beschäftigung des Wissenschaftlers Benjamin Ruß an der TU München wird abgelehnt, weil er »marxistische Auffassungen« habe. Ausschlusskriterium: »Antikapitalismus«. Drei Erzieherinnen in Berlin sind wegen Palästina-Solidarität entlassen; weiterhin ein Museumspublikumsbetreuer in Frankfurt am Main. Dieses politische Klima wirkt. Vermehrt gehen private Unternehmen mit Gewerkschaftsbashing gegen Beschäftigte vor.

    Was fordern Sie von Bundesregierung, Bundestag, Landesregierungen und -parlamenten?

    Es darf keine neuen »Radikalengesetze und -erlasse« geben. Bereits erfolgte gesetzliche Maßnahmen dazu müssen zurückgenommen werden. Die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, gilt es einzuhalten: Politische Überzeugungen dürfen nicht zu Berufsverboten und Existenzvernichtung führen. Die Betroffenen in den 1970/80er Jahren sind zu rehabilitieren und zu entschädigen!

    Werner Siebler ist aktiv im »Bundesarbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte«.

  • Literaturgeschichte und Exil : The Hard Way
    https://www.jungewelt.de/artikel/490879.literaturgeschichte-und-exil-the-hard-way.html

    Sitz des Aurora-Verlags und Treffpunkt der Exilierten in New York. Wieland Herzfelde (1896–1988) im Seven Seas Book and Stamp Shop in Manhattan, 23. Straße, Ecke Broadway (Aufnahme von 1944)

    A propos des problèmes autour de la fondation d’une édition littéraire en exil

    31.12.2024 von Ronald Weber - Im US-Exil standen viele Emigranten vor dem Nichts. Wieland Herzfelde und der lange Weg zum Aurora-Verlag

    Sitz des Aurora-Verlags und Treffpunkt der Exilierten in New York. Wieland Herzfelde (1896–1988) im Seven Seas Book and Stamp Shop in Manhattan, 23. Straße, Ecke Broadway (Aufnahme von 1944)

    Das muss ein trauriges Neujahrsfest gewesen sein. Der Philosoph Ernst Bloch, der im US-Exil zu einem der engsten Freunde des Malik-Verlegers Wieland Herzfeldes wurde, war außerhalb Manhattans in New Hampshire auf einem Landgut, wo eine reiche Dame mittellose Emigranten durchfütterte. John Heartfield, der Bruder und Vertraute, hatte in London zurückbleiben müssen. Und auch der Schriftsteller Oskar Maria Graf, der im Herbst 1938 Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um den Verlegerfreund aus der nach dem Münchner Abkommen plötzlich von den Nazis umzingelten Tschechoslowakei herauszubekommen, scheint keine Zeit gehabt zu haben. Nur die Familie war beisammen: Trude Herzfeld und der 14jährige Sohn George.
    Nötiger als je

    »Ach, liebe, liebe Freunde, wann werden wir wieder so gemütlich zusammenhocken wie einst im unvergesslichen Prag und Brünn!« hatte Graf zu Beginn des Jahres geschrieben, und hinzugesetzt: »Man hat das hier nötiger als je!« Und dabei war schon die ČSR kein Zuckerschlecken gewesen. Aber dort hatte man wenigstens deutsch verstanden, war die Heimat nah gewesen. Schmerzlich nah. Nun war sie schmerzlich weit. Wie der Verlag. Wie die Partei, der Herzfelde seit 1919 angehörte.

    Die politischen Ereignisse in Europa taten ihr übriges, um die Perspektive zu verschatten. Am 1. September 1939 war die Wehrmacht in Polen eingefallen. Mit dem »unvergesslichen Prag und Brünn« hatten die Nazis bereits vorher Schluss gemacht. Das Land, von dem aus Herzfelde gemeinsam mit vielen anderen ab 1933 gegen den Faschismus gekämpft hatte – als Organisator und Mitherausgeber der Exilzeitschrift Neue Deutsche Blätter und Texter der Fotomontagen John Heartfields – war im März 1939 zum Reichsprotektorat erklärt worden. Dass es dabei nicht bleiben würde, dass auch Frankreich in Gefahr war, wo viele Exilanten lebten und Tausende, die nach dem Sieg der Faschisten im Spanischen Krieg ins Nachbarland geflohen waren, in Lagern gefangen gehalten wurden, konnte man sich an fünf Fingern abzählen.

    Auch beruflich sah es schlecht aus. In den Vereinigten Staaten war der kommunistische Verleger Wieland Herzfelde ein Nobody. Wer kannte hier schon den Malik-Verlag? Sicherlich, es gab eine große deutschsprachige Gemeinde. Aber die fast fünf Millionen »German Americans« waren bestenfalls sozialdemokratisch eingestellt, eher konservativ; ein nicht eben kleiner Teil neigte zu Hitler. Man las Gerhart Hauptmann, Ernst Wiechert oder Erwin Guido Kolbenheyer. Von den Exilautoren hatten eigentlich nur die Namen Franz Werfel und Thomas Mann einen Klang. Schon Heinrich Mann war unbekannt, gar nicht zu reden von Brecht. An wen also sollte man hier Bücher verkaufen? Denn das wollte Herzfelde ja zweifelsohne. So hatte er es im Februar von London aus seinem Bestsellerautor Upton Sinclair mitgeteilt, und auch in einem später nicht publizierten Interview, das er kurz nach seiner Ankunft am 31. Mai 1939 der New York Times gegeben hatte, ließ er keinen Zweifel daran, dass es mit dem Malik-Verlag weitergehen sollte. Zumal es keine Konkurrenz gab, denn in den USA existierten zwar zahlreiche deutschsprachige Zeitungen, aber abgesehen von bibliophilen Kleinstunternehmen kein Verlag, und die Zahl der in die Vereinigten Staaten geflohenen deutschsprachigen Schriftsteller war groß.

    »Es ist Arbeit (…) für Dich in Hülle und Fülle da, auch einiges Geld für die ersten Monate«, hatte Graf im November 1938 mitgeteilt. Aber gerade an letzterem fehlte es. Herzfelde selbst war vollkommen mittellos. Ihm fehlte sogar das Geld, um Sinclair in Kalifornien zu besuchen und dort Geldgeber für ein neues Verlagsunternehmen aufzutun. Und auch die Bemühungen an der Ostküste blieben erfolglos. Weder Julian Gumperz noch Felix Weil, beide Sprösslinge reicher Familien, die in den 1920er Jahren eng mit dem Malik-Verlag verbunden gewesen waren, halfen. In den USA versagte Herzfeldes vielfach erprobte Kunst der Kreditbeschaffung. »Ich war bei vielen Verlegern und Literaten; sie sind alle freundlich zu mir und – überhaupt nicht an meinen Problemen interessiert«, schrieb Herzfelde am Silvesterabend 1939 an Sinclair. Kurzum: Es gab keine Leser, und es gab keine Geldgeber.

    Gegenüber Sinclair hatte Herzfelde betont, dass es vor allem der Nazikrieg sei, der seine Verlagspläne nahezu unmöglich mache. Entscheidender für den Misserfolg bei der Geldbeschaffung aber dürfte der in den USA grassierende Antikommunismus gewesen sein, der auch in der mehrheitlich sozialdemokratisch geprägten deutschen Exilgemeinde vorherrschte. Denn wer Herzfelde kannte, wusste, dass er ein »Roter« war. Hinzu kam der Streit um den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, der in den USA allgemein als ein Bündnis von Faschismus und Kommunismus aufgefasst wurde und die Kommunisten im Exil auf eine harte Probe stellte. Es sei gewesen, »als wären einem die Beine unterm Leib weggeschlagen worden«, schreibt Stefan Heym, seinerzeit in New York Chefredakteur des kommunistisch orientierten Deutschen Volksechos, in seinen Erinnerungen. Für Herzfelde indes war die Sache klar: Mit dem Münchner Abkommen hatten die Westmächte beabsichtigt, Hitler auf die Sowjetunion zu hetzen. Angesichts des Unwillens Frankreichs und Großbritanniens, sich mit Moskau zu einigen, hatte Stalin versucht, sich mit dem Nichtangriffspakt Zeit zu verschaffen. Das taktische Manöver als ein Kriegsbündnis anzusehen, lehnte er ab, ebenso die Verurteilung der Sowjetunion, die nun allerorten gefordert wurde. In der sozialdemokratischen Presse wurde er deshalb gemeinsam mit Ernst Bloch als moskauhöriger Kommunist angegriffen.
    Streit und Spaltung

    Als sich die Polemik im Herbst 1939 auch gegen die im Jahr zuvor als Fortsetzung des Schutzverbands deutscher Schriftsteller in New York gegründete German American Writers Asso­ciation (GAWA) richtete, in der heftig um eine Stellungnahme zum Hitler-Stalin-Pakt gestritten wurde, kam es zum Eklat. Der Ehrenvorsitzende Thomas Mann distanzierte sich zwar von dem Vorwurf, der Verband sei eine »Agentur Stalins«, und erklärte, es sei ihm gleich, welche politischen Überzeugungen seine Kollegen hätten, schließlich sei die GAWA unpolitisch. Zugleich forderte er aber intern den Ausschluss Blochs und Herzfeldes. Das nun wollte der mit beiden befreundete Vorsitzende der GAWA, Oskar Maria Graf, auf keinen Fall. Um weiteren Schaden von der durch Austritte geschwächten und nahezu arbeitsunfähig gewordenen Organisation abzuwenden, löste Graf die GAWA 1940 auf. Das war ein herber Schlag, denn der Verband hatte in der Flüchtlingshilfe eine wichtige Rolle gespielt.

    Auch für Herzfelde war die GAWA nützlich gewesen. Auf die Vermittlung Grafs hin überließ ihm im Sommer 1939 Margret Tjader-Harris, eine enge Vertraute Theodor Dreisers und Herausgeberin der Kulturzeitschrift Direction, die Redaktion eines Heftes, um der US-Leserschaft die exilierte deutsche Literatur vorzustellen. Das Heft – auf dem Cover die auf ein Bajonett gespießte Friedenstaube, eine Montage Heartfields – erschien im Dezember 1939 mit Beiträgen von Bloch, Brecht und Graf, Ferdinand Bruckner, Klaus Mann, Berthold Viertel, auch einen Text von Erich Mühsam, den die Nazis im KZ Oranienburg umgebracht hatten, nahm Herzfelde auf. In einem einleitenden Aufsatz gab er einen Überblick über den Status quo der deutschsprachigen Exilliteratur. Eine Fortsetzung aber fand die Arbeit nicht.
    Wirklich Emigrant

    In der folgenden Zeit wurde das Vorhaben, den Malik-Verlag in den USA weiterzuführen, mehr und mehr zu einem weit entrückten Traum. Was nun anstand, hat Herzfelde rückblickend selber als »den hard way« bezeichnet: wechselnde Anstellungen und Gelegenheitsarbeiten ohne dauerhafte Perspektive. So arbeitete Herzfelde zeitweise dem Dokumentarfilmer Joris Ivens zu, schrieb Skripte für nie gedrehte Dokumentarfilme, layoutete das kurzfristig erscheinende, linksliberale Wochenmagazin Friday (Untertitel: »The Magazine That Dares to Tell the Truth«), redigierte für Oxford University Press einen Band mit Bildern von Paul Klee und verkaufte als Vertreter kleinformatige Reproduktionen italienischer Meister von Tür zu Tür. Letzteres mit geringem Umsatz: »Alle Besuche diese Woche erfolglos. Abscheulich, eine Arbeit zu tun, von der man im voraus weiß, dass sie erfolglos sein wird«, vertraute er im April 1940 seinem Tagebuch an. Dort findet sich auch eine Aufstellung der täglichen Ausgaben: »für Haushalt, George, Wäsche etc. 1.60 Dollar täglich (…), für Fahrgeld, Cigaretten, Zeitungen –.40. Verdammt wenig – immerhin 60 Dollar im Monat. Ebensoviel brauchen wir für Miete, Licht, Gas, Telefon.« Das entsprach noch nicht einmal der Hälfte des amerikanischen Durchschnittsverdienstes. Angesichts dieser Misere fühlte sich Herzfelde zum ersten Mal »wirklich als Emigrant«, wie er Willi Bredel schrieb.

    Gleichwohl blieb Herzfelde auch in dieser Zeit nicht untätig. Ohne Verlag wurde der im Zuge der Novemberrevolution in die Rolle des Verlegers Hineingedrängte wieder zum Schriftsteller. Neben zahlreichen Gedichten, darunter das trotz aller Umstände unbedingt optimistische »I shall witness the day«, verfasste er im Sommer 1940 in Reaktion auf den Westfeldzug der Wehrmacht das Theaterstück »Der Anfang vom Ende«, das im Mai 1940 in Frankreich spielt. Zu einer Aufführung kam es aber nicht, auch wenn sich der Lektor der Theatre Guild, John Gassner, positiv äußerte und Erwin Piscator in Aussicht stellte, es im Rahmen seines »Dramatic Workshop« an der New School for Social Research aufzuführen. Ob es sich dabei nur um das leichthin gegebene Versprechen eines alten Freundes handelte – ­Piscator, der Herzfelde 1916 an der Front kennengelernt hatte, gehörte zum frühen Kreis um den Malik-Verlag – oder um eine ernsthafte Absicht, lässt sich aus der Rückschau nicht feststellen. Der Regisseur Berthold Viertel, mit dem Herzfelde bald eng zusammenarbeiten sollte, meldete jedenfalls Zweifel an und wollte das Stück »nur als erste Skizze« gelten lassen, der das Dramatische fehle. Es wartet bis heute im Archiv der Akademie der Künste in Berlin auf seine Veröffentlichung.

    Veröffentlicht und seitdem vielfach neu aufgelegt wurden hingegen die autobiographischen Erzählungen, die Herzfelde seit dem Sommer 1941 verfasste, beginnend mit dem »Kaufmann aus Holland«, in dem er die Begegnung mit George Grosz im Sommer 1915 schildert, gleichsam die Urszene der Berliner Nachkriegsavantgarde rund um den Malik-Verlag. Herzfelde versammelte diese literarisch verdichteten Erzählungen später in dem Band »Immergrün«, der den Verleger als zugleich begabten Schriftsteller ausweist.
    Tribüne für freie deutsche Literatur

    Mit dem Überfall der Wehrmacht auf die So­wjetunion am 22. Juni 1941 war dann tatsächlich der »Anfang vom Ende« eingeleitet. Gegen die UdSSR, davon war Herzfelde überzeugt, konnten die Nazis nicht gewinnen. Zugleich sorgte die gewaltsame Aufkündigung des Nichtangriffspakts auch für ein Ende der Lähmung, die große Teile des kommunistisch orientierten Exils befallen hatte. Im Herbst kam es zu ersten Gesprächen über die Gründung einer kulturpolitischen Organisation der deutschen Emigration, die sich bald unter dem Namen »Arbeitsgemeinschaft ›Die Tribüne‹. Für freie deutsche Literatur und Kunst in Amerika« konstituierte. Daran beteiligt waren neben Herzfelde unter anderem: Friedrich Alexan, Ferdinand Bruckner, Paul Dessau, Oskar Maria Graf, Stefan Heym, Otto Sattler und Berthold Viertel, wobei vor allem dem bereits 1905 in die USA ausgewanderten und gut vernetzten linken Sozialdemokraten Sattler eine wichtige Rolle zukam. Die »Tribüne« führte bis zu ihrer Auflösung 1945 mehr als dreißig Veranstaltungen durch, darunter zahlreiche Autorenabende mit musikalischen Darbietungen und Lesungen, Feierstunden zu Heinrich und Thomas Manns sowie Goethes Geburtstag, aber auch politische Veranstaltungen wie eine »Kundgebung gegen Rassenverfolgung und Intoleranz« oder eine Gedächtnisfeier zu Ehren getöteter Antifaschisten.

    Der Erfolg der »Tribüne«, deren Veranstaltungen eine große Anziehungskraft auf die Kreise des Exils ausübten, erweckte bei Herzfelde erneut die Hoffnung auf einen Verlag, Gedanken, die ihn bis in seine Träume hinein begleiteten. So heißt es im Tagebuch mit Eintrag vom 18. Januar 1941:

    »Ein Traum hat mich heute glücklich gemacht. (…) Ich hielt die gedruckten und gefalzten Bogen der deutschen Ausgabe des ersten Werkes von Graf in den Händen, das englisch hier erschienen ist, ohne deutsch publiziert worden zu sein – des kürzlich erschienenen Buches ›Life of My Mother‹ (…). Mit der zärtlichen Aufmerksamkeit, die nur ein sachkundiger Verleger einem solchen fast fertigen Buch entgegenbringen kann, untersuchte ich immer und immer wieder die Ausführung der Arbeit: Papier, Druck, Satzspiegel. Ich genoss mit dem Tastgefühl meiner Hände und mit den Augen den fast fertigen Band – den ersten, den ich in New York hergestellt hatte.«

    Mit der »Tribüne« stand nun nicht nur eine organisatorische Plattform zur Verfügung, von der aus eine erneute Verlagsgründung in Angriff genommen werden konnte, auch die finanzielle Situation hatte sich verbessert. Als das Ehepaar Herzfelde den Sohn George im September 1938 in Prag in ein Flugzeug in die Schweiz gesetzt hatte, trug dieser die wichtigste Kapitalanlage der Familie bei sich: eine Briefmarkensammlung, die Vater und Sohn in den Jahren des Exils beträchtlich erweitert hatten. Im Sommer 1941 übernahm Herzfelde in Manhattan ein Geschäft für Glückwunschkarten, in dem er auch die Briefmarken verkaufte. Das sorgte, verbunden mit dem Einkommen von Ehefrau Trude, die als Kindermädchen und in einer Großbäckerei arbeitete, für ein halbwegs konstantes Einkommen. Als schließlich der Sohn als professioneller Eiskunstläufer ebenfalls zum Familieneinkommen beitrug, sah Herzfelde sich wieder in der Lage, »mit dem Verlegen deutscher Literatur zu beginnen«, wie er im Mai 1943 freudig Upton Sinclair mitteilte.
    Irritierende Diplomatie

    Einen ersten Versuch hatte er bereits im Sommer 1942 unternommen. Auf den Erfolg der »Tribüne« aufbauend sollte ein gleichnamiger »Gemeinschaftsverlag« entstehen. Herzfelde wollte dafür verantwortlich zeichnen, die Auswahl der Manuskripte aber sollte »im Einvernehmen mit hier lebenden Kollegen, wie Viertel, Graf, Bruckner, Alexan« erfolgen, wie es in einem Rundschreiben hieß. Bald schon erweiterte sich der Kreis; hinzu kamen Brecht und F. C. Weiskopf, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Stefan Heym und der österreichische Lyriker Ernst Waldinger. Finanziert werden sollte der Verlag durch das Zeichnen von 1.000 Anteilen à zehn US-Dollar. Die Besucher der »Tribüne«-Veranstaltungen, die Herzfelde mittels eines »Freundeskreises der Tribüne« als »Lesergemeinschaft« zusammenzufassen beabsichtigte, sollten einen gewissen Mindestabsatz garantieren. Die ersten Veröffentlichungen waren bereits für den Herbst geplant.

    Das klappte freilich nicht. Es dauerte noch bis zum April 1944, bis Herzfelde den Verlag offiziell eintragen lassen konnte, dann allerdings unter dem Namen »Aurora«. Die Gründe dafür liegen in der gewählten Organisationsform. Angesichts der Situation, dass viele der exilierten Schriftsteller in den USA für die Schublade schrieben und nach Publikationsmöglichkeiten suchten, war es naheliegend, aus den Reihen der Autoren heraus einen Gemeinschaftsverlag zu gründen. Das aber bedeutete, dass man sich bei allem und mit allen abstimmen musste, was zusätzlich durch die langen Kommunikationswege zwischen der West- und der Ostküste – wo Brecht, Feuchtwanger und Mann, zeitweise auch Viertel, wohnten – erschwert wurde. Eine »irrtierende Diplomatie«, wie Herzfelde in anderem Zusammenhang einmal die Tätigkeit des Verlegers zusammengefasst hat. Der intensive Briefwechsel mit Berthold Viertel gibt Aufschluss über die Probleme und Missverständnisse, die aus dem Weg geräumt werden mussten, bis im Frühling 1944 endlich mit dem »money drive« begonnen werden konnte. Vor allem ein bereits ein Jahr zuvor vorgelegter Entwurf für einen Briefkopf, der die Gründungsmitglieder als »Literarische Leitung« auswies, sorgte für Ärger. Zwischenzeitlich wurde auch das ganze Unternehmen wieder in Frage gestellt. Am Ende einigte man sich auf die Formulierung »gegründet von«. Ausgeschieden waren in der Zwischenzeit Friedrich Alexan und Stefan Heym; dazugestoßen waren: Ernst Bloch und Alfred Döblin. Auch um Carl Zuckmayer hatte man sich bemüht, aber der lehnte ab.

    Strittig war auch der Name. Brecht und Feuchtwanger waren unzufrieden mit der Bezeichnung »Tribüne«. Brecht schlug schließlich »Aurora« vor und verfasste zur Bestärkung eigens ein Gedicht, das sowohl auf den berühmten Panzerkreuzer, der 1917 mit einem Schuss das Signal zum Sturm auf das Winterpalais und damit den Beginn der Oktoberrevolution gegeben hatte, wie auf die »Morgenröte« als Ausdruck der Hoffnung anspielt: »Dies Frührot kam, (…) / Als es noch Nacht war, es war so geschwind!« Herzfelde, der auf den Namen an sich wenig Wert legte, war zufrieden, zumal das zwischenzeitlich von ihm entworfene Signet, ein stilisiertes »D« und »T«, durch eine Drehung auch als Schiff durchging.

    Dem zentralen Problem eines jeden Autorenverlags, nämlich die Entscheidung darüber, welche Bücher hergestellt werden – naturgemäß will ja jeder Schriftsteller sein eigenes Buch als erstes publizieren – versuchte man durch einen Arbeitsausschuss, den sogenannten Dreierausschuss, zu begegnen. Allein dieses Gremium, dem Herzfelde, der den Verlag auch offiziell repräsentierte und das alleinige ökonomische Risiko trug, sowie Waldinger und Weiskopf angehörten, sollte über die Annahme und Ablehnung von Manuskripten entscheiden; zusätzlich sicherte sich Herzfelde, der darauf bestand, nichts zu verlegen, »was ich nicht selbst gutheiße«, ein exklusives Vetorecht zu, das die beiden anderen Mitglieder des Ausschusses nur gemeinsam beanspruchen konnten. Um absehbare Streitigkeiten abzuwenden, hieß es in der Satzung zudem: »Der Aurora-Verlag hat nicht die Pflicht, jedes literarische Werk seiner Gründer zu publizieren.«

    Als im Frühjahr 1945 der erste Aurora-Band mit Erzählungen von Oskar Maria Graf (»Der Quasterl«) bereits beim Setzer lag, meldete sich die Firma Schoenhof’s Foreign Books aus Cambridge. Der Leiter des deutschsprachigen Programms, Paul Müller, »dessen Erfahrungen in deutschen Konzentrationslagern ihn besonders befähigten, unsere Bemühungen zu schätzen«, wie Herzfelde später schrieb, bot an, den Generalvertrieb für Aurora zu übernehmen und im Gegenzug Herstellung und Autorenhonorare zu bezahlen. Damit war der Verlag schlagartig auf eine solide finanzielle Grundlage gestellt. In der Folge erschienen rasch zwölf Titel, darunter Brechts »Furcht und Elend des Dritten Reiches« und Anna Seghers’ »Ausflug der toten Mädchen«.

    Es hatte sechs Jahre gedauert, bis Wieland Herzfelde wieder als Verleger tätig sein konnte, wenn im Fall von Aurora auch nur »ehrenamtlich, d. h. unbezahlt«, wie es in der Satzung hieß. »Er ist stolz auf seinen neuen Aurora-Verlag; es ist wie vor 30 Jahren: der ganze Verlag in einem Zimmer«, berichtete George Grosz an John Heartfield. Die Arbeit nahm Herzfelde für die nächsten Jahre ganz ein, denn er beschränkte sich keineswegs darauf, die Manuskripte zum Druck zu bringen, sondern arbeitete als Lektor auch intensiv mit den Autoren, während er zugleich sein Briefmarkengeschäft weiterführte: »tagsüber Buch- und Markenhandel, nachts Verlag«, beschrieb er sein Leben im April 1946 kurz nach seinem 50. Geburtstag gegenüber seinem Bruder.
    6.000 Dollar Schulden

    Zu dem Zeitpunkt war allerdings schon klar, dass sich Schoenhof’s Foreign Books aus dem Vertrag mit Malik zurückziehen wollte. Die Verkäufe hatten nicht den Erwartungen entsprochen. Man einigte sich auf die Finanzierung von noch drei Büchern. Am Ende waren es nur zwei: Grafs Roman »Unruhe um einen Friedfertigen« und das seit langem geplante Lesebuch für deutsche Kriegsgefangene »Morgenröte« mit demokratischen Texten aus Vergangenheit und Gegenwart. Eine seit dem Frühjahr 1945 von F. C. Weiskopf und Kurt Pinthus erarbeitete Literaturgeschichte des Exils konnte ebenso wenig mehr erscheinen wie Bände mit Grafiken von Grosz und Heartfield und Herzfeldes eigener Erzählband »Immergrün«.

    Mit dem Ende des Schoenhof-Deals ging auch die kurze Geschichte des Aurora-Verlags zu Ende. Herzfelde musste seine Hoffnungen auf eine Verlagerung nach Deutschland und einen Ausbau der Produktion in Österreich und Ostberlin, wo er mit dem A.-Sexl- und dem Aufbau-Verlag kooperierte, begraben. Hinzu kamen Schulden und Steuerverpflichtungen im Umfang von 6.000 US-Dollar, für die der Verleger persönlich haftete. Ein Desaster, denn längst saß man auf gepackten Koffern. Herzfelde wollte zurück nach Deutschland und in der sowjetisch besetzten Zone beim Aufbau des Sozialismus mithelfen. In New York zu bleiben, war für ihn nie in Frage gekommen, und die antikommunistische Welle, die nach Ende des Weltkriegs durch die USA rollte, legte ohnehin nahe, zu gehen. Im September 1948 verkaufte Herzfelde sein Briefmarkengeschäft. Schuldenfrei bestieg er am 8. April 1949 zusammen mit seiner Frau und Ernst Bloch den polnischen Dampfer »Batory«. Die Universität Leipzig hatte ihn in der Zwischenzeit als Professor für Soziologie der neueren Literatur berufen.

    Noch im selben Jahr erschien in der 1948 initi­ier­ten Aurora-Bücherei beim Ostberliner Aufbau-Verlag, die alle zuvor in New York erschienenen Titel übernahm, der Band »Immergrün«, gewissermaßen als Abschluss der Emigration. Herzfelde, der 1988 hochbetagt starb, kümmerte sich in der DDR engagiert um das Erbe des Malik-Verlags und das Werk von John Heartfield. Als Verleger wurde er nie wieder tätig.

    Ronald Weber ist Leiter des Themaressorts dieser Zeitung. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 25. Mai 2024 über den Schriftsteller Erich Hackl: Erfindung einer Tradition.

    #exil

  • Welle der Repression : Über 4.000 Verfahren
    https://www.jungewelt.de/artikel/491202.welle-der-repression-%C3%BCber-4-000-verfahren.html

    Depuis le mois d’octobre 2023 la ville de Berlin a persécuté 4200 fois des personnes qui se sont prononcés contre la guerre à Gaza. La police du Land (LKA) a établi une commission qui ne s’occupe que des « délits concernant le proche orient ».

    31.12.2024 Annuschka Eckhardt - Berliner Behörden gegen Palästina-Bewegung

    Während in Nordgaza kein einziges funktionierendes Krankenhaus mehr steht, diffamiert die Berliner Polizeipräsidentin die hiesige Solidaritätsbewegung. Im Kontext des Kriegs in Gaza seien der Berliner Polizei inzwischen rund 100 bis 200 Menschen bekannt, die das Geschehen bei Demonstrationen bestimmten, sagte Barbara Slowik Meisel am Montag der dpa. »Es geht um Menschen, die konkret agitieren und aufstacheln«, so Polizeipräsidentin. Das seien Menschen, die »propalästinensisch sozialisiert sind, aber auch Menschen aus dem linksextremistischen Spektrum oder Jugendliche, die die Auseinandersetzung mit der Polizei suchen«, behauptete die 56jährige aus Berlin-Zehlendorf.

    Seit Oktober 2023 habe die Staatsanwaltschaft rund 4.200 Verfahren in dem Zusammenhang erfasst. In knapp 1.560 Fällen (Stand: 19. Dezember) gehe es dabei um Straftaten bei palästinasolidarischen Demonstrationen. Das verwundert wenig, denn Menschen, die friedlich gegen den Genozid protestieren und Kritik an der ultrarechten israelischen Regierung üben, werden von den staatlichen Stellen mit Repression überhäuft. Regelmäßig kursieren Videos im Netz, auf denen Berliner Polizisten Kinder und Jugendliche blutig schlagen, auf den Boden drücken oder von ihren Eltern separieren, die von ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht haben.

    Iris Hefets, Vorstandsvorsitzende des Vereins »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«, wurde bislang viermal auf Demonstrationen von Berliner Polizisten festgenommen. Ihre Schilder mit den Aufschriften: »Als Israelin und Jüdin: Stoppt den Genozid in Gaza«, »Jews against Genocide«, »Seit 100 Jahren warnen Juden: Der Zionismus tötet«, wurden konfisziert. »Alles wurde durch eine neu gegründete Abteilung im LKA zu ›Nahostdelikten‹ durchgesetzt. Doch die Anzeige wegen Volksverhetzung wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt«, erzählte Hefets am Montag gegenüber junge Welt. Die Polizisten könnten ihre Handlungen nicht erklären, sie folgten lediglich Befehlen von oben. »Ich bin das kleinste Opfer hier, da ich noch nicht von Polizisten brutal mitten in der Demonstration entführt und geschlagen wurde, wie es vielen jungen Menschen, die muslimisch gelesen werden, passiert«, so Hefets.

    #Allemagne #Berlin #Palestine #répression

  • Deutschland: Gebaute Zeitenwende
    https://www.jungewelt.de/artikel/489552.deutschland-gebaute-zeitenwende.html


    Am Vorabend des Weltkriegs: Wilhelm zwo und seine Söhne vorm Berliner Schloss (13.1.1913)

    Heinz Emigholz - Schlachthäuser der Moderne (2022)
    https://rbbmediapmdp-a.akamaihd.net/content-de/83/bf/83bfd6bb-9d5e-4c7a-993a-d430fbfc63ca/83bfd6bb-9d5e-4c7a-993a-d430fbfc63ca_hd1080-avc720.mp4


    https://www.ardmediathek.de/video/dokumentation-und-reportage/schlachthaeuser-der-moderne/rbb/Y3JpZDovL3JiYl9hM2Q0NWY3Ni0wYWZjLTQzNmEtYjA2Yi0wOWJiMjBhY2FlNDdfcHVibGl

    Video verfügbar : bis 26.05.2025 ∙ 23:59 Uhr

    Video download :
    https://mediathekviewweb.de/#query=Schlachth%C3%A4user%20der%20Moderne

    11.12.2024 von Stefan Ripplinger - Wie kein anderes Gebäude in Deutschland steht das Berliner Stadtschloss für den Willen des Bürgertums, imperialistische Kriege zu führen

    Bevor sich das deutsche Bürgertum »kriegstüchtig« meldete, errichtete es sich ein Denkmal der Kriegstüchtigkeit: das als »Humboldt-Forum« rekonstruierte Berliner Stadtschloss. Bereits im Sommer 1990, die DDR bestand de iure noch, brachte ein Wendehals namens Günter Stahn, damals Leiter des Ostberliner Büros für Städtebau, die Idee ins Spiel, das 1950 auf Befehl von Walter Ulbricht gesprengte Gebäude neu zu errichten. Die Presse – neben den Springer-Blättern seien Spiegel (3.9.1990), Taz (26.10.) und FAZ (30.11.) genannt – zeigte sich von dieser politischen Regression entzückt, und am 4. Juli 2002 beschloss der Bundestag mit fast Zweidrittelmehrheit den Wiederaufbau. Der Beschluss habe, wie Rainer Haubrich (»Das neue Berliner Schloss«, 2012) feststellt, einer »Zeitströmung« entsprochen. Was genau das für eine Strömung ist, wissen wir allerdings erst seit zwei Jahren mit letzter Sicherheit. Bereits zwei Jahre zuvor, 2020, war das Schloss zurückgekehrt, wenn auch in postmodernem Gewand. Diesem ideologischen Zentrum der Hauptstadt sich zu nähern, gibt es zwei Wege: einen verdrießlichen und einen vergnüglichen.

    Den vergnüglichen Weg ins Schloss bietet der Essayfilm »Schlachthäuser der Moderne« (2022; derzeit in der ARD-Mediathek) von Heinz Emigholz. Mit den »Schlachthäusern« meint Emigholz sowohl Orte, an denen die Moderne schlachtet, als auch solche, an denen sie geschlachtet wird. Das Stadtschloss ist beides. Es ist zunächst der Ort, von dem aus Kaiser Wilhelm II. seine Politik des neuen, mitleidlosen Menschen praktizierte: »Pardon wird nicht gegeben.«

    Wir sehen in dem Film einen Darsteller (Stefan Kolosko), der im noch nicht eröffneten Schloss steht und Wilhelms Völkermorde (Genozid an den Herero und Nama, 1904–1908; 70.000 Tote) beziehungsweise Massenmorde (Einsatz von Chlorgas bei Ypern, 1915; 90.000 Tote) rekapituliert. Das ist also die schlachtende Industriemoderne. Emigholz nennt das wiedererrichtete Stadtschloss »eines der in seinen Intentionen und in seiner Ausführung widerlichsten Gebäude der Welt«. Geschlachtet wurde aber auch die Moderne, nämlich die sozialistische. Der Abriss des Palasts der Republik zeuge von »restaurativer Siegermentalität«. Mehr ist dazu nicht zu sagen, es sei denn, es will ein Neugieriger, eine Neugierige wissen, wie das alles gekommen ist. Dafür müssen wir nun doch den verdrießlichen Weg beschreiten.

    Eisenzahn

    Der verdrießliche Weg ins Schloss verläuft über die Geschichte dieses Renommierwerks. Es gab zwei Vorgängerbauten. Den Grundstein des ersten legte am 31. Juli 1443 der Markgraf Friedrich II. von Brandenburg, der nicht umsonst »Eisenzahn« genannt wurde. Ihm folgten in der Linie der Hohenzollern eine eindrucksvolle Schar von Sadisten und Scheusalen. Das sollte aber nicht genetisch, sondern geopolitisch interpretiert werden. Warum also legte Eisenzahn den Grundstein?

    Dieses erste Schloss war eine Zwingburg. Es manifestierte und sicherte den Sieg der Hohenzollern über die Patrizier des Doppelstädtchens Berlin und Cölln. Ziel war eine Schwächung des zuvor relativ autonomen städtischen Marktes und eine Begünstigung der Leibeigenschaft. Der Feudal­herr wollte mehr oder weniger alleine von der Wirtschaft profitieren. Das Schloss sollte deshalb nicht nur die Stadt gegen Feinde, sondern auch den Herrn gegen die Stadt sichern. Deshalb wurde es genau in der Mitte, auf der Spreeinsel neben dem alten Dominikanerkloster, plaziert und drohte finster den Bürgerinnen und Bürgern der einen und der anderen Stadthälfte. Dafür wurde die Cöllner Stadtmauer mit Ausnahme eines »Grüner Hut« genannten Rundturms abgerissen. Es trifft also nicht zu, dass, wie Wolf Jobst Siedler (Merian Extra, 1991) behauptet hat, in Berlin das Schloss zeitlich vor der Stadt kam. Tatsächlich gab es erst die Doppelstadt, dann kam der Usurpator und pflanzte das Schloss in die Mitte, um seine Herrschaft zu erzwingen.

    Nach der Grundsteinlegung passierte erst mal vier Jahre gar nichts. Als aber die Bauarbeiten begannen, begriffen die Städter die üble Absicht des Fürsten, es regte sich der »Berliner Unwille«. Sie zogen das untere Wehr auf, fluteten so die Fundamente, bedrängten die Büttel Friedrichs, der nun mit harter Hand durchgriff, das Vermögen der Rädelsführer einzog und im Ratskollegium ihm gefügige Untertanen einsetzte.

    Damit war ein Muster etabliert: In Berlin wird nicht um Zustimmung gebuhlt, sondern mit dem Knüppel gedroht und zugeschlagen. Die Bevölkerung lenkte man fortan mit Befehlen, Erlassen und Strafen. Mit Steuern und Zwangsrekrutierungen beutete man sie aus. Die autoritäre Politik ergab sich aus dem östlichen Absolutismus, als dessen Kennzeichen Erich Konter (»Das Berliner Schloß im Zeitalter des Absolutismus«, 1991) territoriale Zersplitterung, Eigenmächtigkeit der Grundherren, Macht der ständischen Organe und zurückgeblie­bene Entwicklung des Bürgertums erkennt.

    Typisch war von Anfang auch die Tendenz der Hohenzollern zur Expansion. Je mehr Krieg geführt, je mehr Land hinzugewonnen wurde, um so mehr veränderte sich auch das Schloss. Den entscheidenden Umbau verfügte Joachim II., nach dem mythischen Heerführer auch »Hector« genannt. Er nahm aus taktischen Gründen 1539 den lutheranischen Glauben an und verdoppelte damit fast die von ihm beherrschte Domäne, aber führte noch ein echt katholisches Leben in Saus und Braus.

    Das in der Zeit seines Konfessionswechsels (1538–1542) umgebaute Schloss hatte nichts Trutziges und Kompaktes mehr wie unter Eisenzahn, sondern war asymmetrisch und offen angelegt. Souveräne Herrschaft drückte sich von nun an darin aus, dass Wälle und Wehre an den Stadtrand rückten. In den Schlossturm hängte Joachim neun Glocken, von denen in eine das Porträt seiner selbst und seiner Gattin gegossen war. Die restlichen acht hatte er in brandenburgischen Städten rauben lassen.

    Da er vom Vater einen Schuldenberg geerbt hatte, fielen die architektonischen Ambitionen von Joachims Sohn Johann Georg bescheidener aus. Immerhin ließ er von Baumeister Rochus von Lynar ab 1579 einige Gebäude dem Ensemble angliedern: einen »drittes Haus« genannten Eckbau, ein Herzoginnenhaus, einen Querbau, der erstmals über Innentoiletten verfügte, und eine »Hofapotheke«, in der der Alchemist Michael Aschenbrenner wirkte. Eisenzahns Kanonen- wurde zum Wasserturm für den Lustgarten.

    Eine perverse Logik will es, dass Herrscher, die für besonders blutige Perioden stehen, von der Nachwelt die »Großen« genannt werden. Es mag sich darin das volkstümliche Wissen verbergen, dass je größer der Herr ist, desto größer das Unglück ausfällt, das er über die Knechte bringt. Ein besonders rabiates Regime verbindet sich mit dem Namen des »Großen Kurfürsten«, Friedrich Wilhelm, der ab 1643 regierte. Eine seiner ersten Maßnahmen war die Auflösung des Hofstaates und dessen Ersetzung durch eine nach militärischen und ökonomischen Maßgaben bestimmte Hierarchie.

    Schiefer Fritz

    Er griff seiner Zeit voraus: Der Kurfürst eroberte eine bis 1717 bestehende Kolonie in Westafrika, »Groß Friedrichsburg«, womit die heutige Nutzung des Schlosses, das unter anderem eine ethnologische Sammlung beherbergt, gerechtfertigt scheint. Außerdem stand er für eine »rücksichtslose Umwandlung der Residenzstädte in Festungen« (Michael Malliaris, Matthias Wemhoff, »Das Berliner Schloss«, 2016). Bauliche Veränderungen nahm er deshalb weniger am Schloss selbst als an den Stadtgrenzen vor, die er von dem Ingenieur Johann Georg Memhardt mit Bastionen umschließen ließ.

    Die nach dem Dreißigjährigen Krieg leere Kasse besserte er durch Profite aus in Zucht- und Waisenhäusern geleistete Zwangsarbeit auf. Er betrieb außerdem eine geschickte »Peuplierungspolitik« und zog 20.000 hugenottische Handwerker ins Land. Sein Volk vermietete er als Söldner an andere Herrscher, unter anderem Ludwig XIV. Auch zu diesem Behuf stellte er ein stehendes Heer (im Krieg 45.000, im Frieden 30.000 Mann) auf, von dem der Königsberger Immanuel Kant in einer der interessantesten Volten des preußischen Untertanengeistes schrieb, nur wer »ein wohldisciplinirtes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat«, dürfe »das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!« (»Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, 1784)

    Friedrich Wilhelm hätte das Schloss nicht unbedingt gebraucht. Gebraucht, dringend gebraucht wurde es erst wieder von seinem Sohn, Friedrich III., der, weil er bucklig war, »der schiefe Fritz« genannt wurde. Dieser Fritz ließ sich am 18. Januar 1701 in Königsberg (nomen est omen) krönen. Als König nannte er sich Friedrich I.

    Um sich von eigener Hand krönen zu können, bedurfte er der Zustimmung des Habsburgers Leopold I., des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Friedrich erkaufte sie sich mit der Zusage, seine Truppen an den Kaiser zu vermieten. Frankreich und Spanien erkannten erst 1713, im Todesjahr Friedrichs, seine Selbstherrlichkeit offiziell an, die er mit Backsteinen hinterlegte. Es bestand, wie Dieter Hildebrandt (»Das Berliner Schloss«, 2011) formuliert, für ihn geradezu ein »Geltungszwang«. Also wurde das Schloss aufgepeppt, um den falschen König zu legitimieren. Diese Geschichte wird immer wiederkehren.

    »Babilonischer Thurm«

    Baumeister war der unglückliche Andreas Schlüter, der den Auftrag 1698, also über zwei Jahre vor der Selbstermächtigung des Schiefen Fritz, erhalten hatte. Schlüter, der zuvor schon den Bau des Zeughauses, also des Waffenlagers, geleitet hatte, baute ungewöhnlich wuchtig, was etwa an dem Risalit vor dem Portal I zu erkennen ist. Die Monumentalität spiegelte den imperialen Anspruch des neuen Königreichs, doch Schlüter brach unter diesem Anspruch zusammen. Grund dafür war, dass Friedrich für 12.000 Gulden ein Glockenspiel gekauft hatte, das im Münzturm aufgehängt werden sollte. Deshalb wurde verfügt, ihn auf 94 Meter zu erhöhen, womit er dreimal so hoch wie das Schloss selbst gewesen wäre.

    Schlüter bemühte sich wacker, diesen Auftrag zu erfüllen, der tatsächlich ein Himmelfahrtskommando war. Denn der nachgiebige Baugrund konnte die enorme Last des erhöhten Turms nicht tragen und je mehr Stützen und Streben, Mauerblöcke und Widerlager Schlüter einfügte, um so wackliger wurde das Ganze. Bald zeigten sich Risse im Turm, Steine brachen heraus, der verzweifelte Schlüter ließ ihn teilweise abtragen, wurde deshalb 1706 als Schlossbaumeister abberufen. Der schwedische Architekt Eosander von Göthe, der zuvor über Schlüters »babilonischen Thurm« gewitzelt hatte, durfte die Baustelle übernehmen.

    Aus dem gehetzten Höfling machten die Nazis in ihrem Film »Andreas Schlüter« (1942, Regie: Herbert Maisch) einen urdeutschen »Querkopf«, der, unbeirrt von allem Geziert-Französelnden, unbeirrt auch von Speichelleckern wie Eosander, in der Kunst immer »nur das Größte« anstrebt und nicht nur das Schloss, sondern gleich auch die halbe Stadt umbauen will. Sein »gigantischer Plan« erinnert ein wenig an Albert Speers Stadt »Germania«. In der letzten Einstellung schreitet nach seinem Ausruf »Ewig ist das Werk!« Heinrich George als Schlüter ins Licht.

    Tatsächlich verfolgte nicht Schlüter, sondern Eosander gigantomanische Pläne. Er verlängerte die Fassaden im Süden und Norden um mehr als das Doppelte, errichtete auch ein gewaltiges Portal, das später den gewünschten Turm tragen sollte (statt dessen setzte Friedrich August Stüler 150 Jahre später eine Kuppel darauf). Das Eosander-Portal ist nicht ohne Grund eine vergrößerte Kopie des Triumphbogens für Septimius Severus auf dem Forum Romanum.

    Kaiser Septimius Severus darf als der große Bruder des Schiefen Fritz angesehen werden. Auch Septimius war durch Anmaßung zur Macht gelangt, auch er stützte sich auf Knute und Militär. Allerdings gelang es ihm, sich zu einem Gott zu erheben, was dem kläglichen Friedrich versagt blieb, dem das Glockenspiel gar nicht hoch genug hängen konnte und der wie der Fuchs in der Fabel am Ende nicht mehr an die ersehnten Trauben herankam. Als nächster gelangte Friedrich Wilhelm I., der »Soldatenkönig«, an die Macht. Ihm war sogar das bisschen Kunst zu viel. Er ließ Eosander schassen und den Lustgarten »rasieren«, nämlich in einen Exerzierplatz verwandeln.

    Mütze herab!

    Der Soldatenkönig und sein von ihm persönlich zurechtgestutzter Sohn Friedrich II., genannt »der Große«, waren die beiden preußischen Herrscher, die die bereits vom Großen Kurfürsten ins Werk gesetzte Militarisierung vollendeten. Sie machten aus dem Schloss als ideellem Zentrum ihres Staats ein Schlachthaus der Moderne. Verändert haben sie an den Baulichkeiten selbst wenig. Der zum Calvinismus übergetretene Soldatenkönig, der stets einen Buchenstock bei sich trug, um jeden, der nicht sogleich parierte, durchzuprügeln, ließ Martin Heinrich Böhme einige Projekte Eosanders notdürftig abschließen. Unter Friedrich dem Großen, dem Alten Fritz, wurde die alte Domkirche abgerissen. Tatsächlich regierte er selbst fast durchweg von Potsdam aus.

    »Wir sind Herr und König und thun, was wir wollen«, hatte der Soldatenkönig geprahlt. In der östlichen Version des Absolutismus, die er und sein Sohn verfochten, sollte, wie Otto Hintze (»Die Hohenzollern und ihr Werk«, 1915) formulierte, die »Staatsraison das ganze Wirtschafts- und Kulturleben vollkommen beherrschen«. Und die »Staatsraison« bestand eben in der Bereicherung der Obrigkeit und einer Oligarchie von Krautjunkern an den zum Dienst gepressten Untertanen, die Friedrich »das erbärmliche Getier« nannte. Doch bis zu seiner Herrschaft trug diese Despotie kaum Früchte. Preußen blieb sogar in militärischer Hinsicht drittklassig. Das änderte sich dank Friedrichs brutaler Eroberungspolitik, die Preußen enorme Gebietsgewinne bescherte, den Staat aber auch mehrfach, insbesondere nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763), an den Rand des Ruins führte.

    Friedrichs Siege veränderten Preußen. Der vorher isolierte Feudalstaat war nun unwiderruflich ein Teil Europas geworden. Die Staatseinnahmen verdreifachten sich. Die verspätet auch hier einsetzenden Prozesse der Industrialisierung und Kapitalisierung veränderten die Gesellschaft grundlegend. Das über Jahrhunderte an seinem Hochkommen gehinderte Bürgertum bildete sich nach und nach heraus und musste von der Machtclique gewaltsam an seiner Emanzipation gehindert werden. Auch in dieser Geschichte spielte das Schloss eine Rolle.

    Am 26. Juli 1844 schoss der ehemalige Bürgermeister von Storkow, Heinrich Ludwig Tschech, im Schlosshof auf Friedrich Wilhelm II. sowie dessen Gemahlin und verfehlte sie beide. Wie Tschechs der Linken nahestehende Tochter Elisabeth (»Leben und Tod des Bürgermeisters Tschech«, 1849) schreibt, habe Friedrich Wilhelm IV. in seiner Thronbesteigungsrede gesagt: »Meine Krone habe ich von Gott, und wehe dem, der sie antastet.« Ihr Vater habe »ob dieser vermessenen Rede« mehrfach erklärt: »Ich will sie ihm zerdrücken.« Tschech wurde im Dezember 1844 geköpft, nachdem der König gnädig davon abgesehen hatte, ihn rädern zu lassen.

    Enger wurde es für Friedrich Wilhelm 1848. Als er seine Dragoner den Schlossplatz, auf dem sich eine große Menge versammelt hatte, räumen ließ, wurde auf die unbewaffneten Menschen geschossen. Nun brach ein Aufstand los, mit dem die preußische Kamarilla nicht gerechnet hatte. Er forderte Hunderte Tote und erschütterte den Militärstaat in seinen Grundfesten. Die Aufständischen, die vorübergehend die Kontrolle über das Geschehen erlangten, forderten vom König, die ins Schloss gekarrten Opfer zu ehren. Karl August Varnhagen von Ense (»Betrachtungen und Bekenntnisse«, 1980) berichtet über den 19. März 1848: »Alles hatte den Kopf entblößt, nur der König die Mütze auf; da hieß es gebieterisch: ›Die Mütze herab!‹, und er nahm sie ab. Die Leichen wurden dann durch das Schloß durch nach dem Dom gefahren.«

    Typ »Taurus«

    Wie schon nach dem Berliner Unwillen stabilisierte sich der Staat vermittels Einschüchterung und Unterdrückung. Mit Wilhelm II. bereitete sich dann die endgültige Katastrophe vor. Der schon seit dem Großen Kurfürsten bekannte imperiale Drang und die schon dem Schiefen Fritz eigene Gigantomanie potenzierten sich in der Gestalt des Kaisers und schlugen sich auch im Schlossbau nieder. Um seine Auftritte noch majestätischer zu gestalten, ließ er ab 1891 den Weißen Saal im Eosander-Flügel erweitern. Dafür musste die westliche Innenfront des Hofs abgetragen und um acht Meter versetzt werden. Nachdem das Projekt 1905 bereits sechs Millionen Reichsmark (knapp 50 Millionen Euro) verschlungen hatte, wurde es halb fertig abgebrochen.

    Die endgültige Entweihung des im Schloss versteinerten Preußentums verdanken wir Karl Liebknecht, der am 9. November 1918 vom Portal IV aus rief: »Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen.« Das stimmte leider nicht, aber beflügelte viele. In Peter Voigts Film »Novemberrevolution« (1968) erinnert sich die spätere Widerstandskämpferin Charlotte Bischoff: »Wenn ich heute daran zurückdenke, dann war’s eigentlich so, dass ich weniger gegangen, als durch die Straßen getanzt bin.«

    Das Schloss, das nach dem Krieg als Museum gedient hatte, wurde am 3. Februar 1945 von Bomben zum größeren Teil zerstört. Zwar konnte eine Abteilung des Gebäudes noch genutzt werden, doch Walter Ulbricht und die Parteiführung entschlossen sich dazu, die Ruine zu sprengen. Die Niederlegung überwachte Kurt Liebknecht, ein Neffe Karls. Der Wertewesten heulte im Innersten getroffen auf. So schrieb der Berliner Tagesspiegel (1.10.1950): »Mit der Beseitigung des Schlosses wird der Baumeister Schlüter ausgelöscht sein und mit ihm die große moralische Kraft, die von seinem Werk ausgeht.« Anders als von den Nazis gedacht, schien das Werk doch nicht ewig zu sein. Zunächst.

    Denn schon seit dem Jugoslawien-Einsatz der Bundeswehr winken neue Kriege, Deutschland ist ein Preußen mit Interkontinentalraketen, Typ »Taurus«, geworden. Glücklicherweise wurde dem zuvor unbekannten Architekten des Neualtbaus, Franco Stella, gar nicht erst bewusst, in die Dienste welcher Kriegsherren er sich gestellt hatte, denn er schrieb: »Das Schloss kehrt als Lehrer der Stadtgeschichte in die Stadt zurück, deren Regisseur es war.« (»Berliner Schloss – Humboldt Forum«, 2022) In Wahrheit wird seither nicht eine Stadt-, sondern eine Staatsgeschichte inszeniert. Es ist die Geschichte Preußens.

    Unter https://schlossaneignung.de finden sich seit Oktober 2024 architektonische Vorschläge zur Umgestaltung des neuen preußischen Protzbaus. Die Website listet auch die rechten Spenderinnen und Spender des Bauprojektes auf und thematisiert dessen Entstehungsgeschichte sowie den Abriss des Palastes der Republik.

    #Berlin #Mitte #Geschichte #Architektur

  • Berliner Linkspartei : Strafe statt Gespräch
    https://www.jungewelt.de/artikel/489452.berliner-linkspartei-strafe-statt-gespr%C3%A4ch.html


    Unterstützer von Ramsy Kilani versammelten sich am Sonntag vor der Parteizentrale von Die Linke in Berlin. Foto von Milan Nowak

    C’est fait, à Berlin Die Linke s’aventure definitivement dans le camps des antideutsche philosemites. L’antimpérialisme n’est plus qu’un souvenir qu’on cache dans une armoire fermée à clé dans les obscures catacombes de la Karl-Liebknecht-Haus . Désormais toute solidarité avec le peuple palestinien est interdit pour les membres de l’ancien parti de gauche, sa popularité étant dûment grignotée puis dévorée au cours de la résistible ascension des Mr. Hyde à la tête du parti.

    9.12.2024 von Yaro Allisat - Berliner Linkspartei beschließt Ausschluss von Palästina-Aktivist Ramsy Kilani

    Wegen des Engagements gegen Völkermord wurde er aus seiner Partei ausgeschlossen: Am Sonnabend hat die Berliner Linkspartei den Ausschluss des palästinensischen Aktivisten Ramsy Kilani besiegelt. Die schriftliche Begründung der Landesschiedskommission lag bis jW-Redaktionsschluss noch nicht vor. Laut der Linken-Politikerin Katina Schubert, die den Antrag gestellt hatte, ging es nicht um seinen palästinasolidarischen Aktivismus. Kilani habe der »Partei schweren Schaden zugefügt«, schrieb das Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus am Sonnabend beim Kurznachrichtendienst X.

    Kilani kritisierte die Entscheidung in einer Stellungnahme auf Instagram. Dass »der Urteilsspruch damit hinter die jüngste Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs« zurückfalle, sei ein »Armutszeugnis für eine linke, internationalistische Partei«. Die Entscheidung schade »uns allen im Kampf für universelle Menschenrechte«, so der Aktivist. Kilani hatte bereits Mitte November kritisiert, dass seine Partei den Ausschluss anstatt ein Gespräch anstrebe.

    Katina Schubert erklärte, der Ausschluss sei durch Kilanis »Relativierung des Terrors der Hamas, selektive Kritik an Gewalt gegen Frauen als Mittel der Kriegführung und die Ablehnung des Existenzrechts Israels« begründet. Gestellt hatte den Antrag neben Schubert auch der EU-Abgeordnete Martin Schirdewan. Ein Gespräch auf direktem Wege ist laut Kilani selbst nie gesucht worden.

    Wer der Partei Schaden zufügt und ob sich die Entwicklung von der inhaltlichen Positionierung des Aktivisten trennen lässt, ist angesichts der Vorgeschichte offen. Vor dem Parteitag des Berliner Linken-Landesverbandes im Oktober war Kilani ins Visier der Öffentlichkeit geraten, nachdem er von Schubert und anderen Teilen des rechten Flügels der Partei medial angegriffen worden war. Auf dem Parteitag scheiterte dann ein Antrag unter dem Titel »Gegen jeden Antisemitismus«, in welchem dem Angriff der Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres ein faschistischer Antisemitismus zugrunde gelegt wurde. Petra Pau und andere prominente Linke-Politiker verließen daraufhin den Saal, vor dessen Türen eine palästinasolidarische Demonstration stattfand.

    Auf dem Bundesparteitag eine Woche später einigte man sich im Vorfeld auf einen Kompromissantrag zu dem Thema. In diesem war die Rede von einem »asymmetrischen Krieg«, verbunden mit der Forderung nach einem Waffenstillstand. Der Text enthielt daneben den Passus, »wer das Existenzrecht Israels in Frage stellt, wer gegen jüdische Menschen hetzt oder den Terror der Hamas relativiert« habe in der Partei nichts zu suchen. Einige Mitglieder des rechten Parteiflügels erklärten infolge des Parteitags ihren Austritt. Noch am selben Wochenende reichten Schirdewan und Schubert den Parteiausschlussantrag von Kilani ein.

    Kilani, der der Gruppe »Sozialismus von unten« (SVU) angehört, will jedoch die Partei nicht aufgeben. Er werde auch weiterhin alles tun, mit den Genossen »innerhalb und außerhalb der Linken die Solidaritätsbewegung mit Palästina aufzubauen«, erklärt er in seiner Stellungnahme. Ein gemeinsamer Austritt weiterer Linken-Mitglieder ist bisher ausgeblieben. Am Sonnabend demonstrierten zahlreiche Aktivisten vor dem Büro der Schiedskommission in Berlin gegen Kilanis Ausschluss.

    Auch wenn die Linkspartei versucht, Einigkeit zu suggerieren, haben sich in der Vergangenheit Abgeordnete nicht an die Parteilinie gehalten – so zum Beispiel beim »Nein« zu Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Laut aktuellen Umfragen spricht sich ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland sowohl für ein Ende der Waffenlieferung an die Ukraine als auch an Israel aus. Dass diese Position in Teilen der Partei als »radikal« gesehen wird, ist wohl nur eins der vielen Zeichen ihres Verfalls.

    #Allemagne #Berlin #Die_Linke #philosemitisme #zombies

  • Israelische Linke: »Zionismus killt uns und macht uns zu Killern«
    https://www.jungewelt.de/artikel/489430.israelische-linke-zionismus-killt-uns-und-macht-uns-zu-killern.html

    Susann Witt-Stahl - Über Versuche, unterdrückte sozialistische Alternativen in Israel zu retten. Ein Gespräch mit Eran Torbiner

    Der Antizionismus zieht sich wie ein roter Faden durch Ihr Filmschaffen und Ihr Archiv der Linken in Israel. Warum?

    Die zionistische Linke wie etwa die Meretz-Partei ist in erster Linie nationalistisch. Es gibt rechte und linke Zionisten, aber das sind keine wirklichen Linken. Es gibt nur eine Linke, und die ist sozialistisch. Daher nenne ich mein Projekt auch nicht Archiv der radikalen Linken, sondern Archiv der Linken. Sozialisten waren von Anfang an in Palästina und haben immer für Gleichberechtigung gekämpft und dagegen, dass jemand Privilegien hat, zum Beispiel wegen seiner jüdischen Herkunft. Die Palestine Communist Party existiert seit 1919, Anhänger des 1897 in Wilna entstandenen sozialistischen Bundes kamen bereits Anfang der 1920er Jahre nach Palästina. 1951 gründeten sie die israelische Sektion des Bundes und ihre eigene Zeitung, Lebns-fragn.

    Politisch sozialisiert wurden Sie aber in einer linkszionistischen Jugendbewegung.

    Ja, in Haschomer Hatzair und Mapam – Vereinigte Arbeiterpartei. Mein Vater nahm mich schon zu 1.-Mai-Kundgebungen mit, als ich noch klein war. Während des ersten Libanon-Krieges 1982 diente er in der Armee, aber wenn er Fronturlaub hatte, ging er mit mir zu den Antikriegs­demos. Als ich 14 Jahre alt war, habe ich dann selbst Proteste organisiert. Zum Beispiel haben wir mit 20, 30 Jugendlichen Kundgebungen von Meir Kahane, dem Führer der faschistischen Kach-Partei, Vorgänger von Itamar Ben-Gvirs Otzma Jehudit, mit Sprechchören wie »Lo, lo, lo ya’avor, Hafashizem, lo ya’vor« (freie hebräische Übersetzung von »¡No Pasarán!«) gestört.

    Hat Ihre Familie eine lange linke Tradition?

    Ja. Mein Großvater väterlicherseits war Kommunist, und mein Vater war sozialistischer Zionist und auch schon bei Haschomer Hatzair. Ich bin 1971 in Bat Jam, einer Stadt am Meer südlich von Tel Aviv, geboren. Aber sie hatten ihre Wurzeln in Warschau; dort saß mein Großvater als junger Mann wegen seiner kommunistischen Aktivitäten ein Jahr im Gefängnis. Während des Zweiten Weltkriegs lebte die Familie in der Sowjetunion – dort kam auch mein Vater 1940 auf die Welt – und kehrte später nach Polen zurück. Als dort der Antisemitismus zunahm, wanderte sie 1957 nach Israel aus. Zunächst wählten mein Großvater und mein Vater die Kommunistische Partei, später Mapam. Die Schwester meiner Großmutter und andere ältere Familienmitglieder blieben ihr ganzes Leben lang Kommunisten. Ich habe einen großen Teil meiner Kindheit mit ihnen verbracht.

    Auch zur linkszionistischen Erziehung gehört der Militärdienst.

    Meine Freunde rieten mir, zu verweigern. Aber ich meinte damals noch, es wäre besser, wenn auch Leute wie ich, die keine Rassisten und gegen die Okkupation sind, zur Armee gingen – als Gegengewicht zu den verdammten Faschisten. Ich war bei einer Fallschirmjägereinheit der Nahal-Bewegung, die die Arbeit im Kibbuz mit dem Militärdienst verbindet. Ich spreche ein bisschen Arabisch. Eines Tages musste ich zu einem Einsatz in Aqabat Jaber, einem Flüchtlingslager bei Jericho, und sollte übersetzen. Wir klopften morgens um fünf Uhr an die Haustür einer Familie, um den Vater mitzunehmen. Seine Kinder begangen zu weinen, und ich weinte mit ihnen und sagte meinem Offizier: »Es reicht – ich kann das nicht.« Der Kommandeur meines Zugs erklärte mir später im Stützpunkt, ich sei eine Schande für die israelische Armee, und er könne mich ins Gefängnis bringen. Statt dessen wurde ich zum Küchendienst eingeteilt und noch zu Einsätzen in den Libanon, aber nicht mehr in die besetzten Gebiete gegen Zivilisten geschickt. Ich habe später von ähnlichen Fällen gehört. Man wollte das Problem der Verweigerer in der Armee geräuschlos lösen, um zu vermeiden, dass aus einem Refusenik zehn Refuseniks werden.

    Wie sind Sie schließlich Antizionist geworden?

    Ich habe 1994 ein Politikwissenschaftsstudium mit Schwerpunkt Medien und Dokumentarfilm an der Universität Tel Aviv begonnen und erste Erfahrungen beim israelischen Fernsehen gesammelt – ich wollte Journalist werden. Ich trat in den Studentenverband von Chadasch ein und gründete die Organisation »Studenten für soziale Veränderung«, dort schloss ich auch meine ersten Freundschaften mit Palästinensern. Ich hatte schon früher bei Haschomer Hatzair von der Sozialistischen Organisation in Israel gehört, besser bekannt unter dem Namen ihres Organs Matzpen, dessen erste Ausgabe am 21. November 1962 erschienen war. Ebenso kannte ich aus Presseberichten Udi Adiv, der sich der Untergrundorganisation Rote Front von Maʼawak, einer Abspaltung von Matzpen, angeschlossen hatte, nach Syrien gegangen, 1972 vom israelischen Sicherheitsdienst Schabak (auch bekannt als Schin Bet, jW) verhaftet und zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Als er 1985 vorzeitig freikam, gab es viele Schlagzeilen, wie »Der Verräter ist entlassen worden«. Mir hatten schon Freunde meines älteren Bruders, die sehr radikal waren, vom Antizionismus erzählt. Ich habe damals noch nicht verstanden, wie man Israeli und gleichzeitig gegen den Zionismus sein konnte. Nach israelischem Selbstverständnis ist jeder Zionist ein guter Mensch, der alten Damen über die Straße hilft. Erst als ich für eine Seminararbeit, die ich über Matzpen als leninistische Organisation schreiben wollte, Moshe Machover, Akiva Orr, Haim Hanegbi, Michel Warschawski, Leah Tsemel und andere ihrer Mitglieder traf, verstand ich, was Zionismus wirklich ist: eine Ideologie. Und diese Ideologie hat sich als die größte Katastrophe erwiesen – für die Juden, die Araber, die Israelis, vor allem für die Palästinenser. Zionismus killt uns und macht uns zu Killern. Er hat die jüdischen Israelis dazu gebracht, nur noch an sich selbst zu denken und in einem Getto zu leben.
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    »Das Archiv der Linken soll daran erinnern, dass es immer eine Alternative zum zionistischen Konsens gab« – Eran Torbiner

    Das bedeutet auch völlige Abschottung von den Palästinensern.

    Die israelische Gesellschaft ist sehr rassistisch. Araber werden immer als bösartig oder als Abschaum und Idioten dargestellt, im Alltag sind sie nur die Leute, die unseren Müll entsorgen und unsere Teller spülen. Ein großes Problem ist, dass weit mehr als 90 Prozent der israelischen Juden kein Arabisch können. Viele israelische Soldaten würden das Massaker im Gazastreifen nicht mitmachen, wenn sie arabische Zeitungen lesen, die Kultur kennen und die Palästinenser als Menschen wahrnehmen würden. Aber sie betrachten die Bewohner des Gazastreifens nur als Terroristen, die angeblich alle am 7. Oktober beteiligt gewesen sind – wenn nicht als Angehörige der Hamas, so zumindest als deren Unterstützer. Das ist absolut verrückt!

    Wie kam es dazu, dass Sie Ihren ersten Film über Matzpen gedreht haben?

    1997 schrieb ich eine zweite Seminararbeit über die Bündnisse von Matzpen und der sozialistischen Linken in den seit dem 67er Krieg besetzten Gebieten. Matzpen arrangierte Treffen für mich in Ramallah mit dem Mitgründer der Volksfront zur Befreiung Palästinas und Gründer der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas, Nayef Hawatmeh, und anderen marxistischen Linken. Ich filmte auch die große Konferenz anlässlich des 35. Geburtstags von Matzpen an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Unter den Rednern waren Michael Warschawski, Jamal Zahalka, Vorsitzender der Balad-Partei, moderiert hat Daphna Baram vom Alternative Information Center, einer linken Grassroot-Organisation, die mit dem internationalen Friedenslager vernetzt ist. Erster Redner war Akiva Orr, ein Gründungsmitglied von Matzpen, der Israel 1964 verlassen, danach seinen Wohnsitz in London hatte und 1991 zurückgekehrt war. Er war sehr charismatisch und lebte, was er sagte. Seine Rede hat mich unglaublich bewegt und inspiriert – sie markiert einen Wendepunkt in meinem Leben. Ähnlich erging es mir, als ich im Jahr 2000 Moshe Machover in London traf – einen der letzten Überlebenden eines Israels, wie es sein könnte. Diese Leute haben vielen Menschen die Augen geöffnet, in Israel und auch in anderen Ländern.

    Matzpen pflegte Kontakte zur APO in der BRD und zu Linksradikalen in Europa.

    Ja. Akiva Orr war in Berlin geboren worden, emigrierte aber 1934 mit seinen Eltern nach Palästina. Er war mit dem Dichter Erich Fried befreundet, der in London sein Nachbar war und ihn mit Rudi Dutschke bekannt machte. 2005 hat er Erich Fried in seinem Buch »Enlightening Disillusionments« ein Kapitel gewidmet. Matzpen konnte zwar in Israel für seine Demonstrationen keine Massen mobilisieren, aber sie waren international sehr gut vernetzt und hatten namhafte Unterstützer wie Jean-Paul Sartre und Tariq Ali. Diese Leute schrieben regelmäßig Protestbriefe, wenn Mitglieder von Matzpen verhaftet wurden. Ehud Sprinzak, ein renommierter Extremismusforscher, den ich interviewt habe und der auch als Berater für den Schabak gearbeitet hat, sagte, dass die Regierung Matzpen als gefährlich betrachtete, weil die Mitglieder der Organisation aus dem Herzen der israelischen Gesellschaft kamen. Dass Sabre (in Israel geborene Juden, jW) wie Moshe Machover, der in der israelischen Armee gedient hatte und Mathematikprofessor an der Hebräischen Universität war, sich gegen den Zionismus aussprachen, löste einen Schock aus.

    Wie ist es heute um die antizionistische Linke in Israel bestellt?

    Sie ist sehr isoliert und kaum mehr existent. Von den einigen hundert Aktivisten, die es noch gibt, werden vermutlich nicht mehr viele Moshe Machover und Akiva Orr kennen. Sie werden Antizionismus eher allgemein mit sozialistischen Ansichten und Protesten gegen die Besatzung in Verbindung bringen. Ich fürchte, das ist im Ausland kaum anders.

    Inwieweit kann sich diese Linke in Israel überhaupt noch frei artikulieren?

    Die Polizei und die Öffentlichkeit tolerieren es gar nicht mehr, wenn auf Demonstrationen Palästina-Fahnen geschwenkt oder Slogans gegen das Massaker im Gazastreifen gerufen werden. Nicht nur antizionistische, sondern auch nichtzionistische Linke ernten aggressive Reaktionen und können verhaftet werden, sobald sie nur ein Plakat mit dem Wassermelonensymbol für Palästina hochhalten. Die Situation der palästinensischen Bürger Israels, selbst wenn sie keine Verbindung zur Linken haben, ist noch weitaus schlimmer. Sie können schon für Facebook-Posts im Gefängnis landen, sogar wenn sie nur Mitgefühl mit den Menschen in Gaza zeigen. Palästinensische Politiker und andere Bürger können jederzeit in den Straßen von Städten, wo Juden die Mehrheit bilden, etwa in Beer Scheva oder Tel Aviv, angegriffen werden. Auch der Kulturbetrieb ist von Repression betroffen: Zum Beispiel schloss die Polizei ein Kino, in dem eine Dokumentation über die Nakba in der Stadt Lyd aufgeführt werden sollte, ebenso einen Klub, der einen Film über das Flüchtlingslager Dschenin zeigen wollte.
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    matzpen.org

    Dissidenz demonstrieren: Proteste von Matzpen gegen die Besatzung

    Von um so größerer Bedeutung ist Ihr zweites Arbeitsfeld, das Archiv der Linken in Israel.

    Ich habe es im Juli 2023 gegründet, um Sozialisten zusammenzubringen. Die Freunde von Matzpen, der Kommunistischen Partei, dem Bund etc. Viele Genossen sind schon alt, krank und in Vergessenheit geraten. Aber wir sind eine Gemeinschaft. Wir treffen uns auf Demonstrationen. Es ist eine goldene keyt, wie man auf jiddisch sagt. Das Archiv der Linken soll daran erinnern, dass es immer eine Alternative zum zionistischen Konsens gab, für alle Menschen vom Fluss bis zum Meer. Es soll Linken mit den dort versammelten historischen Fakten eine Waffe in die Hand geben. Was Sozialisten in den 1940ern, den 1960ern und 1970ern geschrieben haben, ist enorm wichtig für die Gegenwart. Sie wussten, wohin der Zionismus, die Nakba, die Besatzung und die Militäroperationen uns alle treiben. Nach dem 7. Oktober habe ich ein 1971 veröffentlichtes »Schwarzbuch Gaza« hochgeladen, über Greueltaten, Morde, Vergewaltigungen, die Israelis an Palästinensern bereits in den späten 60er Jahren begangen hatten – die hässlichsten Dinge, die Menschen einander antun können. Das bedeutet freilich nicht, dass diese Massaker die Massaker vom 7. Oktober rechtfertigen. Es zeigt aber, dass solche Brutalität nicht an die Herkunft gebunden ist. Heute ist die Verwendung des Wortes »Kontext« in Israel tabu, niemand will etwas vom Leben und Sterben der Menschen in Gaza vor dem 7. Oktober hören. Den Kontext zu kennen und zu verstehen, ist aber unabdingbar notwendig, damit so etwas nicht wieder geschehen kann.

    Beim Zusammenbruch des Realsozialismus ist eine Menge des historischen Erbes der internationalen Linken verschüttet worden – war das in Israel auch so?

    Früher hat die Kommunistische Partei jedes Jahr die Updates ihres Archivs in die UdSSR geschickt, weil sie damit rechnen musste, dass die israelischen Sicherheitsbehörden die Dokumente beschlagnahmen würden. Nach dem Kollaps der UdSSR hat die KP ihr Archiv verloren – es wurde einfach verkauft. Vor einigen Jahren wurde es zurückgegeben, heute ist es in der Nationalbibliothek in Jerusalem und damit unter Kontrolle des zionistischen Staates.

    Und wie sind Sie an die zum Teil einzigartigen historischen Dokumente gelangt, die Sie im Archiv der Linken verwahren?

    Viele der alten Genossen, mit denen ich gearbeitet habe, gaben mir Bücher, Broschüren und Plakate. Sie fürchteten, dass diese nach ihrem Tod auf dem Müll landen könnten. Eines Tages fand ich mich in meinem Zwei-Zimmer-Apartment mit zehn riesigen Kisten voller historischer Dokumente wieder. Es gibt natürlich noch mehr Material über die antizionistische Bewegung, aber verteilt auf viele Archive, und man bekommt nirgendwo die ganze Geschichte erzählt. Daher beschloss ich, die Webseite Documenting the Left aufzubauen, mit einem bisschen Material aus verschiedenen Jahrzehnten, zum Beispiel von John Bunzl, Felicia Langer etc., als Visitenkarte. Besonders wichtig sind mir die Videos von den Interviews mit Hunderten von Aktivisten, die ich in den vergangenen 27 Jahren gefilmt habe. So können israelische Linke in Tel Aviv oder auch in Berlin und in der ganzen Welt ihre politischen Vorfahren kennenlernen.

    Dazu gehören auch die jüdischen Freiwilligen der Internationalen Brigaden im Spanischen Krieg, denen Sie Ihren zweiten Film »Madrid Before Hanita« gewidmet haben.

    Die Kämpfer der Internationalen Brigaden in Spanien sind meine Helden. Ihnen war es gelungen, eine Volksfront aufzubauen, wie auch in Frankreich unter der Führung von Léon Blum. Ich gehe auf Demonstrationen und unterzeichne Petitionen etc., aber diese Leute waren bereit, ihr Leben zu opfern. Der letzte der jüdischen Freiwilligen starb 2012, und ich denke immer wieder: Wie konnte man es wagen, ihre Geschichte nicht früher zu erzählen?! Inspiriert wurde ich von Ken Loachs Spielfilm »Land and Freedom« – die zweite Offenbarung in meinem Leben. Nach dem Interview mit dem berühmten Spanien-Kämpfer und Journalisten Kurt Goldstein, das ich in Berlin geführt hatte, fühlte ich, dass ich einen Schatz geborgen hatte. Es war auch ein riesiges Privileg, David Ostrowski, Schmuel Segal und Dora Lewin zu begegnen. Schon bevor sie nach Spanien gingen, wussten sie, dass dort ein gigantisches Gemetzel im Gange war. Viele Kommunisten aus Palästina, die im Juli 1936 zur Volksolympiade – eine Gegenveranstaltung zu Hitlers Olympischen Spielen in Berlin – nach Barcelona gekommen waren, blieben, um gegen die Faschisten zu kämpfen; nicht wenige starben bereits kurz nachdem der Krieg begonnen hatte.

    Apropos Faschismus: Heute sind die Kahanisten so mächtig wie nie zuvor in Israel. Wie gefährlich ist das für die Linke?

    Dank Netanjahu, der Ben-Gvir zum Minister für Nationale Sicherheit ernannt hat, und der Apathie des Großteils der israelischen Bevölkerung kontrollieren die Kahanisten den Polizeiapparat. Jeder Beamte weiß sehr gut, was er zu tun hat, wenn er eine Karriere anstrebt. Ich bin mir sicher, dass die Polizei längst Listen mit den Namen von Linken hat und handeln wird, sobald sie den richtigen Zeitpunkt gekommen sieht. Außerdem war eine der ersten Maßnahmen, die Ben-Gvir veranlasst hat, die Herausgabe von Zehntausenden Waffenscheinen. Viele dürften an militante Rechte gegangen sein. Sie können jede Sekunde losschlagen.

  • Ukraine-Krieg: Es knirscht in Kiew
    https://www.jungewelt.de/artikel/489375.ukraine-krieg-es-knirscht-in-kiew.html

    Oligarch und Exfreund. Igor Kolomoiskij erhebt aus dem Knast schwere Vorwürfe gegen Selenskij Vladyslav Musiienko/REUTERS

    7.12.2024 von Reinhard Lauterbach - Die schlechte militärische Lage veranlasst Selenskijs ehemalige Bündnispartner, ihn zu kritisieren. Die Allianz mit Oligarch Kolomoiskij ist zerbrochen.

    Die für die Ukraine schlechte militärische Lage hat in der politischen Klasse des Landes alte Konflikte wieder aufreißen lassen. Politiker aus der Partei von Expräsident Petro Poroschenko trauen sich inzwischen, für einen Waffenstillstand entlang der Frontlinie einzutreten. Dies geschieht mit dem Ziel, die juristische Möglichkeit für reguläre Neuwahlen sowohl des Parlaments als auch des Präsidenten zu eröffnen. Solange der Kriegszustand gilt, sind Neuwahlen und Referenden jeder Art in der Ukraine verboten.

    Derweilen ist die Allianz zwischen Selenskij und dem Oligarchen Igor Kolomoiskij, der ihn über seinen Fernsehsender 1+1 2019 maßgeblich an die Macht gepuscht hatte, zerbrochen. Es ist offensichtlich das Geld, bei dem für Kolomoiskij die Freundschaft aufhörte. Er erklärte in einem Interview mit der – wohlgemerkt ihm selbst gehörenden – ukrainischen Nachrichtenagentur UNIAN, Selenskij und dessen Kanzleichef Andrij Jermak hätten ihm Ende 2022 gegen seinen Willen das Aktienpaket der Ölverarbeitungsfirma Ukrnafta entzogen. Das offizielle Argument, die Enteignung sei zugunsten der Armee erfolgt, damit diese eine ungestörte Treibstoffversorgung habe, sei erlogen gewesen. In Wahrheit gehe es Selenskij und Jermak darum, über Strohmänner im Militär aus den Treibstofflieferungen persönliche Profite zu ziehen. Kolomoiskij, der sich nach dem »Euromaidan« noch als »jüdischer Banderist« bezeichnet hatte, nannte die Ukraine jetzt »eine Diktatur mitten in Europa«. Alexander Dubinskij, ein ehemaliger Topjournalist von Kolomoiskijs TV-Sender beschuldigte Selenskij und Jermak, aus persönlichen Profitinteressen jeden Ansatz zu einer Verhandlungslösung torpedieren zu wollen, weil an der Fortdauer des Krieges neben ihrer Macht auch ihre finanziellen Interessen hingen. Sowohl Kolomoiskij wie auch Dubinskij befinden sich gegenwärtig in Untersuchungshaft, ersterer wegen der Umstände, unter denen er 2016 seine »Privat«-Bank fast in den Konkurs geführt und die Nationalbank zu ihrer Verstaatlichung gezwungen hatte, der zweite wegen angeblichen Landesverrats. Um so interessanter ist, dass beide Häftlinge durch ihren Status nicht gehindert sind, Interviews zu geben und in sozialen Netzwerken ihre Vorwürfe zu erheben.

    Was an diesen Vorwürfen dran ist, bleibt von außen schwer zu beurteilen. Die Nationale Antikorruptionsbehörde der Ukraine hat nach Kolomoiskijs Angaben abgelehnt, Ermittlungen wegen der Umstände der Enteignung seines Aktienpakets bei Ukrnafta aufzunehmen, was der Oligarch ihrer Steuerung durch die Präsidialadministration zuschreibt. Es kommt also bei der öffentlichen Wirkung der Vorwürfe im wesentlichen darauf an, ob man sie als Teil des Publikums als plausibel ansieht. An dieser Stelle hat Selenskij schon keinen Ruf mehr zu verlieren. Sein anfängliches Image als Gegner der Korruption hat unter den Kriegsbedingungen mindestens stark gelitten. So ist es offenkundig, dass die Mobilisierung für die ukrainische Armee den beteiligten Beamten – und Leuten in der Befehlskette über ihnen – enorme Möglichkeiten der Bereicherung bietet.

    Radio MSH

    Unter anderem aus diesem Grund weigert sich Selenskij seit Monaten, der Forderung vor allem aus den USA nachzukommen, das Einberufungsalter für die Armee auf 18 Jahre herabzusetzen. Dies würde der Armee eine Million zusätzlicher Rekruten zuführen können, wäre aber erstens extrem unpopulär und zweitens vom Standpunkt der Bereicherungsinteressen des Militärapparats kontraproduktiv. Denn von Männern im sogenannten besten Alter mit gefestigter beruflicher Situation kann man ganz andere Schmiergelder erwarten als von jungen Leuten, die gerade aus der Schule kommen.

    Der erste Grund aber, warum Selenskij die Frage der Absenkung des Einberufungsalters so hinhaltend behandelt, also die Rücksichtnahme auf mangelnde Popularität der Maßnahme, bedeutet, das der Präsident offensichtlich noch nicht beschlossen hat, auf eine Wiederwahl zu verzichten bzw. die Hoffnung auf einen Erfolg in solchen Wahlen aufzugeben. Nach zuletzt in westlichen Medien verstärkt gestreuten Gerüchten soll aber die künftige US-Administration daran interessiert sein, ihn loszuwerden. Die rechte spanische Zeitung El Mundo schrieb zuletzt sogar, die Pläne für Selenskijs »goldenes Exil« in London seien schon weit fortgeschritten, der Versuch eines gütlichen Abgangs scheitere einstweilen aber daran, dass der noch amtierende ukrainische Präsident unerfüllbare Bedingungen für einen Waffenstillstand stelle.
    Hintergrund: Stimmung kippt

    Erstmals seit Monaten sind in der Ukraine Umfragedaten über die Haltung der Bevölkerung zur Frage Verhandlungen oder Weiterkämpfen veröffentlicht worden. Genau genommen sind sie allerdings nicht in der Ukraine veröffentlicht worden, sondern in den USA. Das dort ansässige Gallup-Institut, eine in der Branche als vergleichsweise verlässlich geltende Einrichtung, publizierte Ende November die Ergebnisse von zwei Umfragen vom August und Oktober dieses Jahres. Wie in ukrainischen Medien zu lesen ist, decken sich die Ergebnisse im Grundsatz mit Umfragen ukrainischer Institute, die aber aus politischen Gründen nicht veröffentlicht wurden.

    Laut Gallup spricht sich in der Ukraine inzwischen erstmals seit Kriegsbeginn eine Mehrheit der Bevölkerung für möglichst rasche Friedens- oder wenigstens Waffenstillstandsverhandlungen aus: 52 Prozent im Landesdurchschnitt. Dem stehen demnach noch 38 Prozent der Befragten gegenüber, die für ein Weiterkämpfen bis zum ukrainischen Sieg sind. Damit hat sich das Verhältnis gegenüber den ersten beiden Kriegsjahren umgekehrt. 2022 waren noch 72 Prozent der Befragten für einen Kampf bis zum Sieg, 2023 63 Prozent. Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass sich die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung im vergangenen Jahr verdoppelt hat. Sogar Wolodimir Selenskij muss dieser Stimmung in seinen abendlichen Videos und bei internationalen Auftritten inzwischen Rechnung tragen und spricht immer wieder von einem Ende des »schrecklichen Krieges«.

    Auffällig ist, dass sich der Hurrapatriotismus dort, wo er traditionell am stärksten war, praktisch halbiert hat: von 86 auf 43 Prozent in der Westukraine, von 87 auf 47 in Kiew mit seinem stark von Regierungsangestellten geprägten Publikum.

    Allerdings schlägt die Kriegsmüdigkeit offenbar nur in begrenztem Umfang um in Protestaktionen. Es gab spontane Widerstandsakte von Einwohnern, wenn die Behörden Angehörige der Betroffenen von der Straße weg einzogen, aber das ist eine unkoordinierte Masse von Einzelaktionen, die nicht in eine politische Kampagne hinüberwächst. Das liegt sicher auch daran, dass die Kriegsmüdigkeit keine politische Stimme hat, seit alle Organisationen und Parteien mit entsprechenden Zielen seit Kriegsbeginn verboten sind und ihre Aktivisten verfolgt werden.

    Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, warum Gallup – dem gute Beziehungen zur Republikanischen Partei in den USA nachgesagt werden – sich jetzt entschieden hat, diese Ergebnisse zu veröffentlichen. Nicht ausgeschlossen ist, dass die Selenskij-Administration auf diese Weise politisch weichgekocht werden soll, damit sie sich möglichen Friedensinitiativen Donald Trumps nicht widersetzt. (rl)

    #Ukraine #guerre #corruption

  • Unternehmen gegen Gewerkschafter: »Es trifft Louisa, aber gemeint sind alle«
    https://www.jungewelt.de/artikel/487945.unternehmen-gegen-gewerkschafter-es-trifft-louisa-aber-gemeint-sind

    Capitalistes chinois contre syndicalistes allemands

    16.11.2024 von Susanne Knütter - Beim Batteriehersteller CATL wurde einer Betriebsratskandidatin gekündigt. Ein Gespräch mit Louisa von Freytag Löringhoff und Petra Jentzsch

    Sie haben bei der Betriebsratswahl in der Verwaltung des chinesischen Batterieherstellers CATL im Industriegebiet Erfurter Kreuz kandidiert. Kurz zuvor wurde Ihnen gekündigt. Wurden Sie am 4. November trotzdem gewählt?

    Petra Jentzsch: Die Kollegin ist gewählt und damit ordentliches Mitglied des neunköpfigen Betriebsrats.

    Kann das Einfluss auf die Kündigung und das Kündigungsschutzverfahren haben?

    P. J.: Louisa hat als Betriebsratskandidatin ein halbes Jahr Kündigungsschutz. Dennoch wurde sie vier Tage vor der Wahl entlassen. Jetzt geht es darum, ihr den Zugang zum Unternehmen zu gewähren, damit sie ihr Betriebsratsmandat ausüben kann. Auch wenn das Kündigungsschutzverfahren noch nicht juristisch geklärt ist.

    Mit welcher Begründung wurde Ihnen gekündigt?

    Louisa von Freytag Löringhoff: Im Kündigungsschreiben stand lediglich »aus wichtigem Grund«.

    Das heißt, die Kündigung wird vor Gericht vermutlich keinen Bestand haben?

    P. J.: Davon gehen wir aus.

    Gab es andere Versuche, die Wahl zu beeinflussen?

    jW-Shop, Becker liest Castro

    P. J.: Kurz nach der Wahl des Wahlvorstandes wurde der Standort in drei Betriebe aufgespalten. Deshalb müssen jetzt drei Betriebsräte gewählt werden. In der Produktion wurde er im September gewählt und in der Verwaltung jetzt, der dritte steht noch aus. In der Produktion wurden die Beschäftigten von der Geschäftsführung aufgefordert, selbst zu kandidieren. Vorgesetzte haben dazu aufgerufen, eine Liste zu wählen, auf der überwiegend Schicht- und Teamleiter stehen. Die Botschaft der Kündigung ist: Es trifft Louisa, aber gemeint sind alle. Das ist der aktive Versuch, die Gewerkschaft in den Betriebsräten zu verhindern.

    Kann der Betriebsrat, BR, in der Produktion seine Arbeit machen?

    P. J.: Das schon. Der Arbeitgeber versucht jedoch, die Mitbestimmung des BR zu umgehen. So wurde schon ohne Antrag und Zustimmung des BR am Feiertag gearbeitet, jedes Wochenende arbeiten chinesische Beschäftigte ohne Zustimmung des BR. Sie arbeiten auch täglich länger als die anderen Beschäftigten.

    Und in der Verwaltung?

    L. F. L.: Man darf im Büro nie vergessen, dass die Produktionsarbeiter wesentlich mehr auszuhalten haben. Aber auch im Büro ist es so, dass die chinesischen Kollegen teilweise sehr viel länger arbeiten müssen. Kaffeeautomaten wurden abgebaut, weil sie zu teuer seien.

    P. J.: In der Produktion wie auch in der Verwaltung ist vollkommen intransparent, wer welche Einstufung bekommt. Man muss insgesamt über eine bestimmte Zeit einen Leistungsperformancebonus bekommen, damit man in der Lohngruppe aufsteigen kann. Ich weiß von einem Kollegen in der Produktion, dem der Bonus mit der Begründung verwehrt wurde, er sei krank gewesen. Gleichzeitig haben andere, die viel länger krank waren, die Zulage bekommen.

    Wie sind die Bedingungen in der Produktion?

    P. J.: Die sanitären Anlagen, die von schätzungsweise 400 Menschen pro Schicht benutzt werden, werden einmal am Tag gereinigt, weil am Personal gespart wird. Die Kantine fasst gerade rund 150 Leute, den Bruchteil einer Schicht. Es gibt nicht genügend Spinde. Immer wieder werden die Zellen mit den Elektrolyten nicht ordnungsgemäß transportiert.

    Greifen die Arbeitsschutzgesetze nicht?

    P. J.: Wer soll die kontrollieren? Das Amt für Verbraucherschutz in Thüringen, wo Unternehmen den Antrag auf Feiertags- und Mehrarbeit stellen, hat den Schichten an Sonn- und Feiertagen bisher immer zugestimmt. Sogar jetzt noch, obwohl bekannt ist, dass es einen Betriebsrat gibt, der einwilligen müsste. Auch das Amt für Gesundheitsschutz geht nicht regelmäßig durch die Betriebe.

    Gibt es Gespräche zwischen IG Metall und Management?

    P. J.: Im Vorfeld der Betriebsratswahlen wollten wir eine verbindliche Vereinbarung erlangen, damit die Betriebsratswahl für die Beschäftigten störungsfrei abläuft. Der Arbeitgeber ist darauf nicht eingegangen. Selbstverständlich suchen wir weiterhin das Gespräch.

    Sind die chinesischen Kollegen erreichbar für eine gewerkschaftliche Organisierung?

    P. J.: Im ersten Schritt nicht. Weil sie kein Deutsch sprechen, außer in der Verwaltung. Außerdem werden alle beobachtet. Überall sind Kameras an. Aber die Chinesen werden besonders beobachtet. Aber im Rahmen der Betriebsratswahl gelang es, mehr mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

    L. F. L.: Ich habe im Zuge der Wahl viel Zuspruch von den chinesischen Kollegen erhalten.

    Petra Jentzsch ist Erschließungssekretärin im IG-Metall-Bezirk Mitte.

    Louisa von Freytag Löringhoff ist Betriebsrätin bei CATL

  • Armut in der BRD : »Solidarität mit Erwerbslosen gibt es nicht mehr« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/486439.armut-in-der-brd-solidarit%C3%A4t-mit-erwerbslosen-gibt-es-nicht-me

    La guerre est est la fin de l’état de providence. En Allemagne on augmente en 2022 la maigre allocation des plus pauvres de 0,76 % et produit par sa politique belliciste une inflation de +8,7 %. Quand le réfrigérateur est systématiquement vide 10 jours avant la fin du mois parce que l’argent de ta famille est épuisé, c’est la fin de la a vie digne. Le gouvernement de droite actuel préfère ses amis de l’industrie de l’armement.

    Le chef des chrétien-démocrates Merz veut aller encore plus loin en réduisant carrément les allocations sociales. Les ennemis des peuples apprécient la souffrance des gens qu’ils considèrent comme superflus. On saura où vivent les pauvres les plus courageux quand ils auront reversé le règne des seigneurs de la guerre.

    Une famille allemande lutte en portant plainte contre le gouvernement qui néglige son obligation constitutionnelle de garantir une vie digne à tout le monde.

    25.10.2024 vin Annuschka Eckhardt -:Musterklage gegen niedrige Regelsatzerhöhung des Bürgergeldes. Kühlschrank zehn Tage vor Monatsende leer. Ein Gespräch mit Thomas Wasilewski

    Sogenanntes Bürgergeld: Zehn Tage vor Ende des Monats ist der Kühlschrank leer

    Sie klagen in einem Musterstreitverfahren gemeinsam mit dem Sozialverband VdK gegen die Erhöhung des Regelsatzes des Bürgergeldes. Warum?

    Es geht in diesem Verfahren nicht darum, ob ich nur trocken Brot esse oder armutsbedingt faste, sondern es geht um die symbolische Regelsatzerhöhung in den Jahren 2022 und 2023. Im Jahr 2022 ist der Regelsatz um 0,76 Prozent gestiegen. Das sind ungefähr drei Euro im Monat mehr gewesen. Die Preise allerdings sind in jenem Jahr explodiert, das konnte diese Erhöhung nicht mal im Ansatz ausgleichen. Das Geld reicht vorne und hinten nicht mehr, um zu überleben. Deshalb klage ich mit dem VdK gegen die zu niedrige Erhöhung der Regelsätze im Jahr 2022.

    Das Verfahren wird am 25. November in Düsseldorf stattfinden. Sie sind mit Ihrer Familie gemeinsam geladen. Weshalb betrifft der Rechtsstreit auch Ihre Angehörigen?

    Weil wir alle davon betroffen sind, jeder einzelne in der Bedarfsgemeinschaft, dass das Geld vorne und hinten nicht reicht. Aber nur meine Frau und ich sind zu dem Verfahren geladen – unsere gemeinsamen Kinder nicht.

    Welche konkreten Auswirkungen merken Sie im Alltag durch die Teuerung?

    Die Inflation ist explodiert. Toastbrot hat 0,99 Euro gekostet und kostete dann plötzlich 1,49 Euro. Brühwürstchen konnte man für 1,29 Euro kaufen, dann kosteten sie 2,29 Euro. Diese Preissprünge konnte ich mit dem Bürgergeld nicht mehr auffangen, und ich war zehn Tage vor Ende des Monats schon pleite, der Kühlschrank war dann leer. Wir hatten ganz einfach nichts mehr zu essen: Das sind die Auswirkungen der sogenannten Sozialpolitik der Ampelregierung.

    Können Sie das Verfahren bis zum jetzigen Zeitpunkt beschreiben?

    Wir haben 2022 mit dem VdK begonnen, beim Sozialgericht Düsseldorf Klage einzureichen, jetzt wird darüber verhandelt. In der Zwischenzeit sind Gutachten ausgetauscht worden mit Musterberechnungen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und Experten, die wissenschaftlich belegen, dass die Erhöhung der Regelsätze in diesem Zeitraum zu niedrig war.

    Finanzminister Christian Lindner, FDP, verkündete diese Woche, dass er es für gut befinde, die Wohnkostenpauschale statt an die Vermieter direkt an die Mieter zu zahlen. Diese könnten dann überlegen, ob sie heizen oder in eine kleinere Wohnung ziehen.

    Brutaler kann man Menschen, die von Bürgergeld leben, gar nicht angreifen. Sie leben nicht in viel zu großen Wohnungen, sondern in der Regel in sehr kleinen. Die jetzige Regelung sieht schon vor, dass die Wohnungsgröße und auch die Kosten vorgegeben sind. Was er hier vorhat, ist, die Lebensbedingungen von Erwerbslosen noch schlechter zu machen und das als Reform zu verkaufen. Wenn ich mir die Sozialpolitik dieser Regierung anschaue, bewegt die sich nicht in die Zukunft, sondern zurück ins 19. Jahrhundert. Jeden Monat macht diese Regierung unser Leben schlechter, indem sie irgendwelche »Reformen« auf den Tisch legt.

    Auf dem Weg zur »Kriegstüchtigkeit« sollen die Bürger den Gürtel enger schnallen. Wie nehmen Sie die Stimmungsmache gegen Bezieher von Bürgergeld wahr?

    Die Spaltungsbemühungen der Ampel tragen Früchte: Es stört niemanden, wenn mich jemand in der Öffentlichkeit oder im Internet »Schmarotzer«, »Zecke« oder »Parasit« nennt. Rassismus wird begünstigt, Leute sagen ganz offen, dass Geflüchtete »herumsitzen und vom Bürgergeld leben würden, den Deutschen die Plätze wegnehmen«, dass »die Bimbos im Bus sitzen würden und dass die Deutschen sich da nicht mehr hinsetzen könnten«. Ich lebe mit meiner nicht weißen Frau und mit drei meiner leiblichen Kinder, die auch nicht weiß sind, hier. Der Rassismus wird unerträglich. Leute aus der sogenannten Mittelschicht, die mich wegen meiner Öffentlichkeitsarbeit kennen, geben mir ungefragt Einkaufstips im Supermarkt. Sie sagen, ich solle den Joghurt doch weglegen, wenn ich am Ende des Monats noch etwas auf dem Teller haben möchte. Das Zusammenleben von Bürgergeldbeziehenden mit Menschen, die arbeiten, ist fast nicht mehr möglich. Solidarität mit Erwerbslosen gibt es nicht mehr. Während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit für die Mönchengladbacher »Suppentanten«, einer Suppenküche, sehe ich wöchentlich die Schlangen der Hungernden länger werden – deshalb klage ich!

    Thomas Wasilewski ist VdK-Musterkläger in Sachen Bürgergeld und Armut

    Statistiques de l’inflation en 2022
    https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/01/PD23_022_611.html

    #Allemagne #guerre #pauvreté #politique

  • Griechenland: Bestie Faschismus überlebt
    https://www.jungewelt.de/artikel/485680.griechenland-bestie-faschismus-%C3%BCberlebt.html


    Feier der KKE auf dem Parthenon in Athen zum Gedenken an die Befreiung von den Nazis (12.10.2024)

    14.10.2024 von Hansgeorg Hermann - Griechenland: Kommunisten gedenken der kurzen Befreiung vor 80 Jahren, bei der sie eine entscheidende Rolle spielten

    Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) hat am Sonnabend mit Kundgebungen in Athen und anderen Städten an den Abzug der deutschen Wehrmacht und eine kurzfristige Befreiung vom Faschismus vor 80 Jahren erinnert. An den Protestmärschen gegen die drohende Rückkehr der Bestie nicht nur in Griechenland, sondern in den meisten europäischen Staaten beteiligten sich nach Angaben der Organisatoren einige tausend Menschen. Bürgerliche Medien berichteten nur am Rande oder überhaupt nicht. Der am 14. Oktober 1944 zunächst bejubelte vermeintliche Sieg des überwiegend von den Kommunisten getragenen Widerstands über die Faschisten mit der anschließenden Rückkehr der Exilregierung unter Georgios Papandreou war von kurzer Dauer. Schon eineinhalb Monate später, am 3. Dezember, ließ das sich selbst als »Schutzmacht« bezeichnende Großbritannien einen Demonstrationszug der Nationalen Befreiungsfront (EAM) im Herzen Athens zusammenschießen. Es folgten 30 Jahre Terror gegen die Linke – Mord, Internierung und politische Justiz eingeschlossen.

    Um jeden Preis zu verhindern war seit 1944 – zunächst für die Briten unter Premier Winston Churchill, danach für die USA unter dem Präsidenten Harry Truman – jede irgendwie geartete Beteiligung der Kommunisten an der politischen Macht. Ausgeschaltet werden sollten in diesem von Churchill und seinem Kriegskabinett für Griechenland geplanten Nachkriegsmodell sowohl die EAM, die den Widerstand gegen die faschistischen Besatzer aus Deutschland und Italien organisiert hatte, als auch ihr bewaffneter Arm, die Nationale Volksbefreiungsarmee (ELAS). In Gefahr schien den Briten ihre mehr als 100jährige politische und militärische Vorherrschaft an der Ägäis. »Die USA verhielten sich nicht anders«, schreibt der Mannheimer Historiker Heinz Richter in seinem 1973 erschienen Standardwerk »Griechenland zwischen Revolution und Konterrevolution« – Griechenland »wurde zum Klientelstaat der USA«.

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    Die von den Briten geforderte Entwaffnung der ELAS und ihre völlige Auflösung hatten in der Regierung des Zentrumspolitikers Papandreou, an der sich zunächst auch die EAM beteiligte, zu unüberbrückbaren Spannungen und schließlich zum Austritt der Linken aus dem Kabinett geführt. Eine für den 3. Dezember 1944 zunächst genehmigte Massenkundgebung der EAM gegen die Restregierung und die eigentlichen Machthaber, die britischen Kolonialherren, ließ Papandreou am Vorabend verbieten. Als die unbewaffneten Widerstandskämpfer, zum Teil mit Frauen und Kindern, anderntags trotzdem marschierten, eröffneten britische Panzer und Infanteristen unter dem Kommando des Generals Ronald Scobie am Syntagmaplatz im Herzen Athens das Feuer. Offiziellen Angaben nach blieben 28 Tote und 148 Verletzte auf dem Pflaster. Der Komponist Mikis Theodorakis, der selbst mitmarschiert war und den jW vor Jahren zum Thema befragte, sprach von »mindestens 70 Todesopfern«.

    Das Massaker, fortan »Dekemvriana« genannt, war das Präludium zu einem Bürgerkrieg zwischen EAM/ELAS und sogenannten Republikanern und Königstreuen. Als »Sieger« bezeichneten sich im Oktober 1949 der griechische Monarch und Faschistenfreund Georg II. sowie dessen britische und US-amerikanischen Interventionstruppen. Als »Verlierer« nennt die Geschichtsschreibung der Nachkriegsordnung die Kommunistische Partei und deren damals in Thessaloniki angesiedelte Provisorische Regierung. In die Internierungslager auf den Inseln Leros und Makronissos deportiert wurden bis in die 1950er Jahre hinein fast 500.000 Kommunisten oder als solche verdächtigte vor allem junge Menschen. Amnestiert wurden schon 1952 sämtliche Nazikollaborateure, die neue Verfassung verbot dagegen die Gründung oder Existenz linker politischer Gruppen. Als die USA 1967 einer Militärdiktatur unter dem Obersten Georgios Papadopoulos den Weg bereitete, war es wieder die Linke – der antifaschistische Widerstand, der den Terror der Rechten 20 Jahre lang oft im Exil überlebt hatte –, die den Griechen Hoffnung gab und 1974, dieses erste und vorläufig einzige Mal, den Sieg davontrug.

  • Staat gegen Palästina-Solidarität : Die gewaltbereite Greta
    https://www.jungewelt.de/artikel/485442.staat-gegen-pal%C3%A4stina-solidarit%C3%A4t-die-gewaltbereite-greta


    Greta Thunberg am Montag in Berlin, Lisi Niesner/REUTERS

    A Dortmund la police utilise de possibles actes violents par Greta Thunberg et d’autres manifestants comme prétexte pour terminer une manifestation de solidarité avec Gaza. Le porte parole des chrétien-démocrates pour la polirique de l’intérieur exige l’interdiction de séjour en Allemagne pour la Suédoise.

    Il est de plus en plus difficile de se pronomcer en public contre les atrocités commises par l’état hébreux et contre toute mesure liberticide de l’état allemand.

    10.10.2024 von Henning von Stoltzenberg - Dortmund: Polizei beendet unter Verweis auf anstehenden Besuch von schwedischer Aktivistin palästinasolidarisches Camp

    Die staatlichen Maßnahmen gegen die palästinasolidarische Mobilisierung in Deutschland dauern unvermindert an: Kurzfristig ist am Dienstag nachmittag das Palästina-Camp auf dem Gelände der Technischen Universität Dortmund durch die Polizei für beendet erklärt worden. Als Begründung wurde der Besuch der international bekannten Klimaaktivistin Greta Thunberg genannt, die angekündigt hatte, nach ihrer Teilnahme an einer Solidaritätsdemonstration in Berlin am Vortag zu den protestierenden Studierenden in Dortmund zu sprechen.

    In einem auf ihrem Instagram-Account verbreiteten Video hatte Thunberg das Vorgehen der deutschen Polizei bei den propalästinensischen Protesten kritisiert. Zudem wiederholte sie ihren Völkermordvorwurf an die israelische Regierung und sagte, der deutsche Staat mache sich daran mitschuldig. Nach Ankündigung der Räumung sagte Thunberg ihren Besuch an der Dortmunder Universität ab – das Camp musste dennoch abgebaut werden.

    Laut Pressemitteilung der Dortmunder Polizei vom Dienstag wird Thunberg als »gewaltbereit« eingestuft. Diese Formulierung wurde später korrigiert und als »interner Fehler« bezeichnet. Nun lautet die Formulierung, die jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit Thunberg seien bei der Bewertung berücksichtigt worden.

    In einer zweiten Stellungnahme am Mittwoch nachmittag verteidigte der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange das polizeiliche Vorgehen. Auch vor dem Hintergrund der zu knappen Vorbereitungszeit hätte ein milderes Mittel etwa in Form von Auflagen zur Verhinderung »antisemitischer Straftaten« nicht zur Verfügung gestanden. Was das für Straftaten sein sollen, blieb nicht nur in diesem Statement offen. In Hinsicht auf Thunberg wurde in der Erklärung konkretisiert, nicht sie als Person sei gewaltbereit, ihr Einfluss auf die Versammlung hätte aber angeblich zu gewalttätigen Handlungen gegen Personen und Eigentum führen können.

    Vor Ort erklärte Polizeisprecher Steffen Korthoff am Abend der Räumung im Gespräch mit jW, die »Gefahrenprognose« auf Grundlage der Berichterstattung über die Berliner Demonstration und Thunbergs Äußerungen habe zu der Räumung geführt. In Berlin habe es antisemitische Aussagen und Ausschreitungen gegeben. Außerdem seien in Dortmund lediglich 50 Campteilnehmerinnen und -teilnehmer gestattet. Die Frage, warum trotz der Absage Thunbergs das ganze Camp geräumt werde, konnte oder wollte er nicht beantworten. Die Anweisung zur Beendigung des Camps sei von der Polizeiführung gekommen.

    Eine schriftliche Begründung bekam der Versammlungsleiter des Camps nicht ausgehändigt. Diese werde später nachgereicht, so die Beamten. »Wir werden durch diese Maßnahme in unseren politischen Grundrechten beschnitten«, sagte Campbesucher Abdul Süleyman. Dies sei eine friedliche Versammlung, die mit kurzer Unterbrechung seit drei Monaten stattfinde. Erst am Morgen sei den Verantwortlichen des Camps die Bestätigung zur Verlängerung der Dauermahnwache ausgehändigt worden. Nur zwei Stunden vor Beginn der geplanten Veranstaltung um 19 Uhr seien die Einsatzkräfte dann angerückt und hätten das Camp für beendet erklärt. Dabei handele es sich um politische Willkür, um die weitere Entwicklung einer internationalen palästinasolidarischen Studierendenbewegung zu verhindern. »Diese Räumung ist absolut unverhältnismäßig«, fand auch Gerhild Rose vom Dortmunder Friedensforum. Es sei nicht nachvollziehbar, dass Thunberg als Rednerin separat hätte angemeldet werden müssen, wie behauptet werde. Das sei bei anderen Vorträgen bisher auch nicht erforderlich gewesen.

    Immer wieder kamen am Abend kleinere Gruppen auf das Gelände, um ihre Solidarität zu bekunden. Während die Campsprecherinnen und -sprecher mit der Einsatzleitung vor Ort verhandelten, wurde unter den rund 150 Anwesenden immer wieder »Free Palestine«-Rufe laut. Gleichzeitig wurde das Camp von den Studierenden abgebaut. Viele der Anwesenden fassten mit an, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Ob rechtliche Schritte gegen die umstrittene Räumung eingeleitet werden und es andernorts eine Fortsetzung des Camps geben soll, ließen die Veranstalter vorerst offen. Derweil forderte der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alexander Throm, am Mittwoch eine Einreisesperre für Thunberg.

    #Allemagne #police #Palestine #censure

  • Über allem stand der Frieden
    https://www.jungewelt.de/artikel/485150.ddr-75-%C3%BCber-allem-stand-der-frieden.html

    Aujourd’hui c’est le 75ème anniversaire de la fondation du premier état socialiste allemand.

    J’ai pu constater lors de nombreuses rencontres avec des citoyens de la RDA que malgré les défauts que partagea l’état socialiste allemand avec tous les états du monde la mission socialiste fut sincère et qu’elle était mis en pratique avec succès.

    L’état qui la représentait a été détruit par son contexte international et historique défavorable. Mais c’est á travers cette catastrophe que s’est révélé la beauté de son âme. Le déroulement paisible de la transformation de la RDA en démocratie temporaire pendant une phase de tables rondes et de concertation populaire montre que la solution chinoise et l’écrasement de la révolte populaire étaient exclus pour les socialistes à la tête et à tous les autres niveaux du parti SED. Apart quelques vieux camarades qui étaient passés par les bains de sang de la lutte contre le fascisme des années 1930 et 1940 (et les purges paranoïaques staliniennes) les dirigeants socialistes et communistes préféraient céder le pouvoir au lieu de s’y agripper contre la volonté du peuple.

    Le discours du 5 octobre 2024 du dernier scretaire général du comité central du #SED Egon Krenz souligne la face humaine du socialisme malgré tous les attaques contre son patrimoine. Nous le défendons car c’est à partir de lui que nous construirons un avenir meilleur. Aujourd’hui seulement il est possible de l’affirmer sans réserve car pendant longtemps les combats quotidiens nous l’ont rendu difficile de cerner la substance socialiste et humaniste de cette société désormais historique.
    La DDR/RDA fait partie de notre conscience historique au même titre que la Commune de Paris, l’octobre rouge et la révolution cubaine.

    7.10.2024 von Egon Krenz - Die Staatsdoktrin der DDR lautete: »Von deutschem Boden darf niemals wieder ein Krieg ausgehen«

    Wir dokumentieren an dieser Stelle die Rede, die Egon Krenz, im Herbst 1989 Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzender der DDR, am vergangenen Sonnabend auf der von der jungen Welt ausgerichteten Veranstaltung »75 Jahre DDR. Was bleibt?« im Berliner Kino Babylon gehalten hat. (jW)

    Liebe Anwesende,

    mein Gruß gilt allen Freunden, allen Genossinnen und Genossen, allen Sympathisanten, die ihr gekommen seid, um an die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik zu erinnern. Es war der Schwur von Buchenwald: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, der das Fundament war, auf dem die DDR am 7. Oktober 1949 gegründet wurde.

    Ich grüße die Vertreter aller Altersgruppen, insbesondere auch diejenigen, die – wie ich – die DDR von den Anfängen bis zum Ende erlebten, euch, die ihr viel von eurer Lebenskraft gegeben habt – in der Überzeugung, mit der Stärkung der DDR dem Guten in Deutschland zu dienen. Es sind nicht wenige, die sich trotz Delegitimierungsversuchen zur DDR bekennen, so dass der Chef der uns nicht gerade freundlich gesinnten sogenannten Forschungsgruppe »SED-Staat« zugeben muss, es sei bis heute nicht gelungen, »die DDR aus den Herzen zu bekommen«. Die Älteren würden immer wieder sagen, die DDR sei »unsere Heimat« gewesen.

    Sehr herzlich grüße ich euch, die Nachgeborenen, die sich trotz Verleumdung und zahlreicher Geschichtsfälschungen, die sich auch in Schulbüchern wiederfinden, für den deutschen Arbeiter- und Bauernstaat und seine Politik interessieren. Euch begegnet in dieser Gesellschaft viel Unwahres über unseren Staat, den es nicht mehr gibt. Doch ich kann euch versichern: Wir, die wir mit dem Herzen dabei waren, wollten die Welt verändern und ein besseres Deutschland schaffen. Damit nie mehr eine Mutter ihren Sohn beweint. Leider ist uns das aus vielerlei Gründen, auch durch eigene Mitschuld, noch nicht gelungen. Vieles ist unerledigt geblieben.

    Und dennoch denke ich: Wir waren wie Wegbereiter, haben die Saat gelegt. Die Ernte werden wir sicherlich nicht mehr erleben. Doch ich habe die Hoffnung, dass ihr und eure Altersgefährten, eure Kinder und Kindeskinder es sein werden, die nicht vergessen, dass es 40 Jahre lang im Osten Deutschlands einen antifaschistischen Staat gab, der die Lehren aus zwei Weltkriegen gezogen hatte und eine reale Alternative zu Kapitalismus und Krieg war.

    Deshalb meine Bitte: Bewahrt, was man vom Erbe der DDR übrig gelassen hat. Es sind keine Reichtümer, die auf geheim gehaltenen Konten liegen. Es sind soziale Werte wie Respekt, Empathie und Fairness, die eine gerechte Gesellschaft stützen und zusammenhalten, eine Gesellschaft, in der der Mensch nicht der Wolf eines anderen Menschen sein darf. Macht’s besser, als wir es konnten. Aber: Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht, dann erinnert euch bitte auch an das Gedicht von Brecht »An die Nachgeborenen«:

    »Ihr aber, wenn es soweit sein wird,

    Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist

    Gedenkt unserer

    Mit Nachsicht«.
    Scharfe Kontraste

    Liebe Anwesende,

    es gibt viele Gründe, die DDR zu mögen. Und auch manche, ihre Unzulänglichkeiten scharf zu kritisieren. Doch über allem steht das Wort Frieden. Die DDR hat niemals Krieg geführt. Sie war der deutsche Friedensstaat. Ich möchte in diesem Zusammenhang an das Staatstelegramm zur Gründung der DDR aus Moskau an Staatspräsident Wilhelm Pieck und Ministerpräsident Otto Grotewohl erinnern. Ich zitiere es, weil es prägnant die historische Mission der DDR ausdrückt:

    »Die Bildung der Deutschen Demokratischen friedliebenden Republik ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas«. Und weiter: »Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Existenz eines friedliebenden demokratischen Deutschlands neben dem Bestehen der friedliebenden Sowjetunion die Möglichkeit neuer Kriege in Europa ausschließt.« Wie wahr, wie klar, wie aktuell!

    Solange es die Sowjetunion, der wir – mehr als allen anderen – die Befreiung Deutschlands vom Faschismus verdanken, und an ihrer Seite die DDR gab, solange herrschte Frieden in Europa. Was für ein Kontrast! Kaum war die UdSSR zerschlagen, bombardierte die NATO am 24. März 1999, ohne UN-Mandat mit bundesdeutscher Beteiligung das souveräne Jugoslawien, das nur etwas mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor von der faschistischen deutschen Wehrmacht besetzt worden war. Der »grüne« Bundesaußenminister Joschka Fischer entblödete sich nicht, diesen völkerrechtswidrigen Angriff mit der Begründung zu verschleiern, dass ein zweites »Auschwitz« verhindert werden sollte. Bis heute dient die Lebenslüge von einer angeblich »humanitären Außenpolitik« seiner ebenfalls »grünen« Nachfolgerin als Rechtfertigung für Waffenlieferungen in bisher nie gekannter Größenordnung an die Ukraine, statt auf Verhandlungen mit Russland zu drängen.

    Wie heuchlerisch und einseitig die Politik der gegenwärtigen Bundesregierung ist, zeigte sich auch kürzlich in der UN-Vollversammlung, die mit einer großen Mehrheit von 120 Staaten eine Resolution zur Verbesserung der humanitären Lage im Gazastreifen verabschiedete und eine sofortige Waffenruhe forderte, während die Bundesrepublik zu den 45 Staaten gehörte, die sich der Stimme enthielten.

    Wenn es um »Krieg und Frieden« ging, gab es in der DDR niemals Neutralität. Kriegspropaganda und Rassenhass einschließlich Russophobie waren in der DDR verboten. Unsere Staatsdoktrin lautete: »Von deutschem Boden darf niemals wieder ein Krieg ausgehen«. Getreu der Hymne der DDR, in deren zweiter Strophe es hieß: »Lasst das Licht des Friedens scheinen, dass nie wieder eine Mutter mehr ihren Sohn beweint.« Es wäre in der DDR einfach undenkbar gewesen, die Bevölkerung aufzufordern, sich »kriegstüchtig« zu machen. Bei uns, vor allem in der Ausbildung junger Menschen, hatte die Erziehung zum Frieden Priorität.

    Das waren nicht nur Bekenntnisse oder gar leere Worte, wie wir auch im Herbst 1989 bewiesen, als die DDR die Gewaltlosigkeit der Ereignisse garantierte. Der Ruf an die Streitkräfte der UdSSR »Bleibt in den Kasernen« kam nicht von Gorbatschow, sondern war eine souveräne Entscheidung der DDR, die uns die Geschichtsfälscher streitig machen. Wir ahnten damals allerdings nicht, dass die Bundesregierung danach ihr Verhältnis zu Russland auf den niedrigsten Punkt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bringen und nachträglich den Sieger von 1945 zum Verlierer von heute erklären würde.
    Vertrauen zerstört

    Ich bin überzeugt, dass vielen Ostdeutschen einige solcher Gedanken durch den Kopf gingen, bevor sie bei den Landtagswahlen ihre Stimme abgaben. Ihre Wahl bedeutet nicht, wie das einige Kommentatoren meinen, dass Ostdeutschland inzwischen »braun« geworden sei. Vielmehr ist es ein Signal an alle etablierten Parteien: Hört uns endlich zu! Wir wollen keine neuen Waffenlieferungen in die Ukraine und nach Israel. Wir brauchen keine neuen Raketen! Wir wollen Frieden! Nur das ist der Weg, um der AfD ernsthaft das Wasser, das sie seit längerem eifrig schöpft, abzugraben.

    Innerhalb historisch kurzer Zeit zerstörten bundesdeutsche Regierungen, was sich in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR an Vertrauen zwischen den Deutschen und den Völkern der Sowjetunion aufgebaut hatte. Nun wird durch bundesdeutsche Politiker und Medien Russenhass geschürt, wie ich ihn letztmalig als Achtjähriger in der Endphase des Zweiten Weltkrieges erlebt hatte. Das alte Feindbild – an allem sei der »Russe« schuld – und die Mär vom gefährlichen Russland leben wieder auf. Den Leuten wird Angst gemacht, als stünden seine Truppen bereits kurz vor der Oder.

    Jeder einigermaßen gebildete Deutsche weiß, dass Deutschland in zwei Weltkriegen gegen Russland beziehungsweise die Sowjetunion gekämpft hat; Deutschland aber von Russland noch nie überfallen wurde. Nur zweimal in der neuesten Geschichte kamen die Russen bzw. die Rote Armee nach Deutschland, einmal gegen Napoleon und einmal gegen Hitler. Wie das ausging, ist gut bekannt.

    Ich bin sicher: Hätte sich in den 1980er Jahren der Außenminister der Bundesrepublik wie die gegenwärtige Amtsinhaberin geäußert, man führe »Krieg gegen Russland« und wolle »Russland ruinieren«, er wäre von einem Kanzler wie Helmut Schmidt auf der Stelle entlassen worden. Zu Recht werden Willy Brandt, Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Egon Bahr und andere wegen ihrer Entspannungspolitik gelobt. Aber: Das ist ja nur die halbe Wahrheit. Diese Persönlichkeiten haben doch die Entspannungspolitik nicht mit sich selbst gemacht. Sie brauchten dazu Partner, und dazu gehörte neben der Sowjetunion auch die DDR. Ohne die friedliche Außenpolitik der DDR hätte es keine Entspannungspolitik von Willy Brandt und anderen geben können. Mit ihnen waren wir uns einig: Lieber hundertmal miteinander verhandeln, als einmal aufeinander schießen, wie Erich Honecker mehrfach erklärte.

    Als ich Anfang der neunziger Jahre Michail Gorbatschow traf, um ihn zu informieren, dass die bundesdeutsche Justiz über 100.000 politische Ermittlungsverfahren gegen DDR-Bürger eingeleitet hatte, erzählte er mir von einem Gespräch mit Bundeskanzler Kohl. Der habe ihm gesagt, »Michail Sergejewitsch, wir sind da drüben im Osten einem fremden Volk begegnet. Die sind ganz anders als wir.«

    Das war und ist die Weltsicht der altbundesdeutschen politischen Eliten und ihrer Erben, die bis heute einen geschichtlich korrekten Blick auf die DDR nicht zulassen. Für sie ist ihr Kapitalismus das allein Seligmachende – die Norm – und das Beste, was sie sich überhaupt vorstellen können. Dass es im Osten Menschen gab, die es besser fanden, ohne Kapitalismus zu leben, für die nicht der Ellenbogen dominierte, wenn es um menschliche Beziehungen ging, sondern die ein gesellschaftliches Miteinander tagtäglich lebten – das wollte und will absolut nicht in die Köpfe der DDR-Hasser, die in der Politik und in den Medien den Mainstream bestimmen.
    Lebendige Erinnerung

    Zum Ende der DDR gab es rund 16 Millionen Einwohner. Inzwischen sind wir schon weniger geworden. Das bedeutet, es gibt heute bis zu viele Millionen individueller Sichten auf die DDR. Die auf eigener Erfahrung beruhende Deutungshoheit sollte aber ausschließlich diesen Bürgern selbst überlassen bleiben und nicht einer medialen »Aufarbeitungsindustrie« oder gar Pfarrer Gauck, der zwölf Jahre Nazibarbarei mit 45 Nachkriegsjahren in Ostdeutschland bzw. der DDR gleichsetzt.

    Ginge es nach diesen Leuten, bliebe die DDR in der Erinnerung der Menschen: Nur »ein Millionenhäuflein gegängelter Kreaturen«, eingesperrt hinter einer Mauer mit einer »schrottreifen Wirtschaft«, umgeben von »Mief und Muff und der Staatssicherheit«. Nein. So war die DDR nicht!

    Solange die Regierenden nicht verstehen, welche Wurzeln die Ostdeutschen haben, dass viele der ehemaligen DDR-Bürger einfach nicht bereit sind, sich ihr Leben aus dem Westen erklären zu lassen und zu akzeptieren, dass sie auf der falschen Seite der Geschichte gestanden hätten, solange also ihre Biographien in den Dreck gezogen werden, solange werden die etablierten Parteien und ihre Ideologen auch das Wahlverhalten vieler Ostdeutscher nicht verstehen können.
    Die Hinterlassenschaft

    Die DDR hat trotz allem im Zentrum Europas bewiesen: Ein Leben ohne Kapitalisten war auch im hoch industrialisierten Deutschland möglich. Zu den Bausteinen unserer Politik gehörten Begriffe wie Bodenreform, durch die Hunderttausende Flüchtlinge und Vertriebene Grund und Boden und damit eine Überlebensgrundlage erhielten. Zum Erbe der DDR gehört es, dass Nazi- und Kriegsverbrecher enteignet wurden und dass ihre Produktionsmittel in Volkseigentum umgewandelt wurden, das nach der »Wende« von der Treuhand oftmals »für ’n Appel und ’n Ei« verhökert wurde.

    Was wir auch hinterlassen, sind Generationen von Neulehrern, die anfangs manchmal noch »Blume« mit »h« schrieben, und ebenso die neuen Juristen, die oftmals aus sogenannten »einfachen Verhältnissen« stammten; Generationen von Frauen, die gleichberechtigt leben und arbeiten konnten und die ihre Ehemänner nicht erst fragen mussten, ob sie einem Beruf nachgehen oder ein Konto eröffnen dürfen. Ich erinnere an viele Akademiker, deren Karrieren erst durch die Brechung des Standes- und Bildungsprivilegs möglich wurden und die oftmals auch ohne Abitur Arbeiter- und Bauernfakultäten absolvieren konnten.

    Was wir ebenfalls hinterlassen, sind Tausende von Wohnungen, einschließlich der gesicherten Erfahrung, dass Wohnraum sowie Grund und Boden nicht dazu da sind, um Spekulanten die Taschen zu füllen, und dass ein »Dach über dem Kopf« zu haben, keine Gnade ist, sondern ein Menschenrecht.

    Manches, was viele heute beklagen, hinterlassen wir allerdings nicht: Die DDR hat keine Arbeitslosen; selbst den weniger Fleißigen wurde zu einem Berufsabschluss verholfen. Jugendliche trafen sich in Jugendklubs – seltener an Tankstellen oder Bahnhöfen.

    Wir haben der Nachwelt keine Milliardäre übereignet, aber auch keine Bettler und Drogensüchtigen. Und schlussendlich: Vielleicht existierten Neonazis in Verstecken. Doch ihre Reichskriegsflaggen hissten sie erst, nachdem sie diese aus dem Westen bekommen hatten und die neue Staatsmacht wie ohnmächtig zuschaute und ihnen die bis dahin verweigerten »Freiheiten« genehmigte.

    Die DDR ist im Kampf der Systeme zerbrochen. Unser Traum vom sich entwickelnden Sozialismus zerschellte auch an unseren eigenen Schwächen: an unzureichender Informationspolitik, mangelnder Nutzung der verfassungsmäßig garantierten demokratischen Rechte, an Versorgungslücken sowie Bürokratie und oftmals auch an Engstirnigkeit. Die Wirklichkeit entfernte sich stärker von den Idealen, was große Teile der Bevölkerung 1989/90 nicht mehr hinnehmen wollten.

    Im nachhinein wissen wir: Seit die DDR als soziales Korrektiv ausfiel, steigt die soziale Kälte. Die ohnehin schon vorhandene Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer, und inzwischen ist die Kluft geradezu obszön. Klientelparteien veruntreuen die Kassen des Gemeinwohls. Aber der Widerstand wächst. Soziales Interesse aus fast allen Spektren der Gesellschaft zwingt die bürgerlichen Parteien zur Diskussion über die gröbsten Auswüchse. Würden sie nur so energisch geführt, wie es Methode ist, DDR-Biographien zu entwerten samt der pauschalen Hatz gegen ehemalige Mitarbeiter von Sicherheitsorganen der DDR, mit denen Dampf aus der eigenen Problemküche geleitet wird! Die DDR taugt nicht als Aschenputtel deutscher Geschichte.

    Was die DDR war, warum sie gegründet wurde, welche historischen Errungenschaften ihr eigen waren, welche Stellung sie international einnahm, wie sich beide deutsche Staaten in einem kalten Bürgerkrieg immer am Rande eines möglichen Atomkrieges befanden, was die Gründe für die Niederlage der DDR waren und was von ihr bleiben wird – das sind grundsätzliche Fragen der deutschen Nachkriegsgeschichte, ja, der europäischen und der Weltgeschichte – und eben viel viel mehr als eine »Fußnote der Geschichte« und auch weit mehr als der »grüne Pfeil«.
    Objektiv urteilen

    Man kann mir vorwerfen, ich idealisiere die DDR. Mag sein. Doch in Wirklichkeit plädiere ich lediglich für eine Selbstverständlichkeit, nämlich dafür, dass Wissenschaftler, Politiker und Medienschaffende, die überwiegend in der Bundesrepublik sozialisiert wurden, sich endlich um ein objektives und geschichtlich gerechtes Urteil über die DDR bemühen.

    Noch leben wir – die Zeitzeugen. Und wenn wir irgendwann nicht mehr da sind, bleiben immer noch unsere Erlebnisse und Erfahrungen in der Erinnerung unserer in der DDR geborenen Kinder. Und davon gab es ja auch reichlich, denn die DDR war auch ein kinderfreundliches Land. Den Glauben aber, dass diese Welt mit Krieg und Ausbeutung so nicht bleiben wird, wie sie gegenwärtig ist und »dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint«, wie es in der DDR-Hymne heißt –, diesen Glauben will und kann ich nicht aufgeben.

    #Allemagne #DDR #histoire #socialisme #communisme

  • Massaker von Nanjing: »Vielleicht das größte Massaker der Menschheitsgeschichte«
    https://www.jungewelt.de/artikel/484727.massaker-von-nanjing-vielleicht-das-gr%C3%B6%C3%9Fte-massaker-der-m


    Statue in Gedenken an John Rabe vor dessen damaligem Wohnsitz in Nanjing (14.9.2010)

    Une interview avec le traducteur chinois Liu Hainang sur les différentes éditions des journaux de John Raabe .

    28.9.2024 Interview: Fritz und Frank Schumann - In China leben 1,4 Milliarden Menschen, die meisten können lesen – vor 75 Jahren, als die Volksrepublik gegründet wurden, waren achtzig Prozent der Bevölkerung noch Analphabeten … Was für ein riesiger Büchermarkt.

    Lassen Sie sich nicht von den Zahlen verführen. Die meisten Chinesen schauen lieber auf ihr Handy. Bücher sind ein Nischenprodukt.

    Und trotzdem übertragen Sie Bücher aus dem Deutschen in Mandarin, der Muttersprache von siebzig Prozent der Han-Chinesen. Wie groß ist der Markt für deutsche Literatur?

    Nicht sehr groß. Im Deutschen würde man sagen: sehr überschaubar. Es dominiert zudem die Fachliteratur. Belletristik und Sachbücher, wie etwa John Rabes Tagebücher, füllen de facto eine Nische in der Nische.

    Auf diese Tagebücher kommen wir noch. Wie wir inzwischen in China gesehen haben, ist man überall sehr marktorientiert. Insofern ist das, was Sie machen, augenscheinlich gegen den Trend.

    Das stimmt: Ich machte mein Hobby zum Beruf. Aber leben kann ich davon nicht. Ich habe mein eigenes Unternehmen. Wir betreuen etwa zwei Dutzend mittelständische Unternehmen aus Deutschland.

    Was heißt das?

    Nun, wir helfen ihnen, in China Fuß zu fassen. Das reicht vom Dolmetschen bis zum Vermitteln wirtschaftlicher Kontakte, von Behördengängen bis zur Wohnungssuche.

    Und das läuft?

    Vor der Pandemie lief es besser.

    Liegt der Rückgang nur an Corona?

    Man sagt so. Ich glaube jedoch, dass es mit dem Einbruch der Weltwirtschaft insgesamt und dem politischen Kurswechsel des Westens in bezug auf China zusammenhängt, was man bei Ihnen »Decoupling« und »Derisking« nennt.

    Auf der anderen Seite sagen seriöse Wirtschaftsexperten und Unternehmer in der EU, dass ein Abkoppeln von China den gleichen Bumerangeffekt haben dürfte wie die Sanktionen gegen Russland. Aber um auf Ihr »Hobby« zurückzukommen: Sie haben die Tagebücher John Rabes übersetzt. Rabe war in den dreißiger Jahren Geschäftsführer der Siemens-Niederlassung in Nanjing, heute wäre er also vielleicht Ihr Kunde. Der gelernte Hamburger Kaufmann, Jahrgang 1882, war für Siemens schon seit 1911 in China tätig. Wie sind Sie auf ihn gestoßen?

    Der Volksverlag in Nanjing ist 1996 an mich herangetreten, ich solle ein Buch aus dem Deutschen übersetzen – das Tagebuch von John Rabe, dem Oskar Schindler Chinas.

    Auf Schindler wurde die Welt erst aufmerksam, als ihn Hollywood entdeckte, damals, in den neunziger Jahren. Steven Spielbergs Spielfilm »Schindlers Liste« bekam sieben Oscars und war weltweit auch kommerziell sehr erfolgreich.


    John Rabe vor dem Luftschutzbunker der Siemens-Vertretung in Nanjing (undatierte Aufnahme)

    Das stimmt. Das erfuhr ich aber alles erst später. Von John Rabe hatte ich bis dato noch nie etwas gehört. Ich musste mich erst informieren, als der Auftrag an mich herangetragen wurde. Ich war damals Deutschlehrer an der Universität in Nanjing.

    Das über zweieinhalbtausend Jahre alte Nanjing war in den Dreißigern Hauptstadt der 1912 gegründeten Republik China. Japan führte schon seit Jahren Krieg gegen China und eroberte die Millionenstadt am 13. Dezember 1937. Binnen sechs Wochen schlachteten die Invasoren an die dreihunderttausend Menschen ab. Auch wenn es in anderen chinesischen Orten vergleichbare Massaker gab, war dies das blutigste. Vielleicht war es sogar das größte der Menschheitsgeschichte. Rabe hatte mit den in der Stadt verbliebenen Ausländern ein Internationales Komitee gebildet, das eine neutrale Sicherheitszone von etwa vier Quadratkilometern einrichtete, in der Chinesen Schutz finden sollten. Auf Rabes Grundstück, also die Siemensvertretung mit Wohnhaus und separatem Office, flüchteten über sechshundert Chinesen. Das Anwesen Nr. 1 Xiaofenqiao ist keine fünfhundert Quadratmeter groß. Es haben dort entsetzliche Zustände geherrscht. Und das über Wochen, bis das Massenmorden außerhalb der Mauern endete.

    Rabe hatte damals minutiös über die Vorgänge Tagebuch geführt, sechs Kladden mit Text und Fotos. Die wurden sechzig Jahre danach interessant. Vermutlich war der Welterfolg von »Schindlers Liste« daran nicht ganz unschuldig, dass Rabes in China geborene Enkelin Ursula Reinhardt das Buch in New York auf einer Pressekonferenz präsentierte. Der Volksverlag kam also zu Ihnen und bat Sie um die Übersetzung.

    Ja. Der Verlag hatte den Auftrag von ganz oben bekommen, das in Aussicht gestellte Honorar war auch gut. Aber: Es sollte schnell gehen. Ein Vierteljahr gaben sie mir dafür. Das reicht nicht, sagte ich, ich kenne den Autor doch gar nicht. Es ist für mich ein Grundprinzip, dass ich mich vorher über einen Verfasser, dessen Text ich übersetzen soll, und das historische Umfeld, in dem er schrieb, ausreichend informiere. Gut, sagte der Verlag, dann solle ich in die 1985 eröffnete Gedenkstätte für die Opfer des Massakers von Nanjing gehen. In der Museumsausstellung findet sich einiges zu Rabe, auch eine Ausgabe seines Tagebuchs, und der Leiter der Einrichtung werde mich auch über den Autor informieren. Das tat er.

    Was erfuhren Sie?

    Dass Rabe von den Verbrechen der Japaner entsetzt gewesen und an seinen »Führer« in Berlin die Bitte gerichtet hatte, mäßigend auf seinen Verbündeten einzuwirken. Es gab schließlich die Achse Berlin–Tokio. Die beiden faschistischen Staaten hatten vor Jahresfrist einen sogenannten Antikominternpakt geschlossen.

    Sollen wir mal raten: Hitler hat darauf nicht reagiert.

    Rabe war im Februar 1938 von Siemens aus China abgezogen worden und ist nach Berlin zurückgekehrt. Er machte aus seinen sechs Tagebüchern einen Band, weil Hitler nicht so viel Zeit zum Lesen hatte. Rabe hielt Vorträge über die von ihm erlebten Kriegsverbrechen, und bekam Besuch von der Gestapo. Es wurden die Filmaufnahmen eines US-amerikanischen Missionars aus Nanjing beschlagnahmt, auch Rabes Tagebücher, und er selbst kam in Haft. Dort blieb er nicht lange. Er erhielt die Tagebücher zurück und die Weisung, über das Gesehene zu schweigen. Daran hielt er sich.

    Nach dem Krieg galt er, weil NSDAP-Mitglied, als belastet, Siemens stellte ihn nicht ein, so lange er von den Briten nicht entnazifiziert wurde, und die Briten mochten Rabe keinen Persilschein ausstellen, weil er doch in Nanjing den dortigen Nazihäuptling gelegentlich vertreten hatte.

    Rabe ging es damals wirtschaftlich und gesundheitlich miserabel, er war schon geraume Zeit Diabetiker. Hilfe kam jedoch aus Nanjing: Die Chinesen stellten ihm einen guten Leumund aus und schickten ihm auch zweitausend Dollar. Und via Schweiz sandte Nanjings Bürgermeister Shen Yi im März 1948 Milchpulver, Fleisch, Wurst und Tee. Rabe dankte zweimal dem vom Stadtparlament in Nanjing ins Leben gerufenen Spendenausschuss, der ihm jeden Monat ein Lebensmittelpaket zukommen ließ. Siemens stellte ihn wieder ein, allerdings nur als schlecht bezahlten Dolmetscher. Nach einem Schlaganfall ist John Rabe dann Anfang 1950 in Berlin verstorben.

    Sie bekamen also die Kopie der einbändigen Tagebuchversion mit der Maßgabe, sie in drei Monaten zu übersetzen?

    Dazu hätte ich ein Jahr benötigt. Also holte ich mir noch fünf Kollegen von der Universität dazu. Wir schafften es in der Frist, aber ich war mit dem Resultat nicht zufrieden. Die Übersetzung war korrekt, authentisch wie man sagt, aber stilistisch nicht einheitlich. Nach zwei, drei Jahren war die erste Auflage verkauft. Da wünschte der Verlag eine zweite Auflage.

    Wie hoch war die Erstauflage?

    Ich glaube, so um die 100.000.

    Und die zweite Auflage?

    Liu Hainang

    Keine Ahnung, wie viele Exemplare davon gedruckt wurden. Es gab ja auch eine dritte und eine vierte Auflage … Ich kann nur sagen, dass meiner Bitte entsprochen wurde und ich allein eine neue Übersetzung anfertigte. Sie war stilistisch aus einem Guss. Der Verlag wünschte das als eine Art Sonderausgabe für die jüngere Generation. Die Untersuchungen des Internationalen Sicherheitskomitees haben wir weggelassen. Dort waren Aussagen der Japaner mit ausführlichen Schilderungen ihrer Bestialitäten enthalten. Man muss für Kinder beispielsweise die Vergewaltigung von Frauen und andere grauenhafte Exzesse nicht detailliert wiedergeben, damit sie begreifen, was damals geschah.

    Ich folgte den Intentionen Rabes, der sich einer fast emotionsfreien Sprache bediente. Er beschrieb sachlich, was er selbst gesehen hatte.

    Beamtendeutsch, weil er es nicht anders konnte oder wollte? Oder war er naiv? Wie konnte er beispielsweise annehmen, dass Hitler auf seine Bitte um Intervention in Tokio positiv reagieren würde?

    Ich glaube nicht, dass Rabe naiv war. Er war ein Humanist, vielleicht ein idealistischer Menschenfreund. Der gebürtige Hamburger hatte vor seinem China-Einsatz in Afrika gearbeitet, er war nicht nur polyglott, sondern auch multikulturell. Er war kein überzeugter Nazi. Ich weiß, dass insbesondere in Deutschland unterstellt wurde, dass mit der Aufmerksamkeit für den »guten Nazi Rabe« die Verbrechen der deutschen Faschisten in den Hintergrund verschoben werden sollten. Vermutlich bin ich zumindest in China der beste Kenner dieses Mannes: Man tut ihm Unrecht, wenn man Rabe auf die Funktion eines Feigenblatts reduziert. Er hätte sich auch dagegen verwahrt.

    Worin unterscheidet sich der eine Band, der in deutscher Sprache in Gänze noch nie gedruckt wurde, wohl aber in anderen Sprachen vorliegt, von den ursprünglich sechs Tagebüchern?

    Rabe hatte alle erklärenden zeitgenössischen Dokumente, insbesondere Zeitungsausschnitte, in sein Tagebuch aufgenommen. Die sechs Tagebücher waren in China entstanden. Nach seiner Rückkehr in Berlin hat er daraus Dokumente entfernt und diesen einen Band für Hitler erstellt. Er umfasste die Monate von August 1937 bis Februar 1938.

    Weil Hitler ja nur wenig Zeit zum Lesen hatte, also nur dieser eine Band … Beschäftigen Sie sich noch immer mit Rabe?

    Selbstverständlich, dazu fühle ich mich verpflichtet. Aktuell arbeite ich an einer kommentierten Ausgabe der sechs Bände, recherchiere Namen und kontextuelle Bezüge, Orte und Institutionen, die schon heute niemand mehr kennt. In fünfzig oder hundert Jahren werden sie kaum noch zu entschlüsseln sein. Das müssen wir heute machen, damit die Nachkommenden die Geschichte verstehen.

    Sprach Rabe überhaupt Chinesisch?

    Nein, das macht die Sache ja so schwierig. Er notierte Namen von Personen oder Plätzen, wie er die Bezeichnungen phonetisch wahrnahm. Die tatsächlichen Namen, deren Schriftzeichen daraus zu rekonstruieren, sie auf den chinesischen Ursprung zurückzuführen, ist wahrlich keine einfache Aufgabe.

    Gibt es Nachfahren von Rabe?

    Ja, den 1951 geborenen Enkel Thomas Rabe, ein Arzt in Heidelberg, der ein internationales Friedensnetzwerk ins Leben rief. Im ehemaligen Wohnhaus hier in Nanjing befindet sich das John-Rabe-Kommunikationszentrum, das etliche Jahre einen nach Rabe benannten Friedenspreis vergab. Es ist dort auch ein Foto zu sehen, das die Familie Ende der vierziger Jahre zeigt: Dora und John Rabe mit ihrer Tochter und deren Mann sowie ihren beiden Enkelinnen. Die eine – Ursula Reinhardt, in China geboren, in Berlin lebend – präsentierte 1996 auf einer Pressekonferenz in New York erstmals der Welt die Tagebücher ihres Großvaters. Ich habe Frau Reinhardt getroffen, als sie im September 1997 in Nanjing war. Erwin Wickert, der 1997 ein Buch über John Rabe in Deutschland publizierte, welches auf dessen Tagebüchern fußte (»John Rabe. Der gute Deutsche aus Nanking«), hingegen traf ich nie. Er verstarb 2008.

    Dieser Wickert – SA-Mitglied seit 1933 – hatte als Student Rabe in Nanjing getroffen, seit 1939 hatte er für die Auslandspropaganda des Auswärtigen Amtes in Shanghai und Tokio gearbeitet. Er war von 1976 bis 1980 Botschafter der Bundesrepublik in China. Ihm sind in der Ausstellung im Rabe-Haus viele freundliche Bemerkungen gewidmet.

    Ach, wir Chinesen waren und sind dankbar für jede Stimme, die die an unserem Volk durch die japanischen Aggressoren begangenen Verbrechen international anspricht. Wir haben im Zweiten Weltkrieg rund 35 Millionen Menschen verloren – weiß man das in Europa überhaupt? Und dass in Nanjing rund 300.000 Chinesen von Japanern massakriert wurden, wird noch immer vom Tätervolk bestritten. Das sei alles Propaganda. Allenfalls spricht man von einem »Zwischenfall«. Entschuldigt hat sich in Tokio noch kein Offizieller für die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschheit.

    Auch über John Rabe wurden Spielfilme gedreht, einer in China, ein anderer in Deutschland. Die Resonanz war mäßig, was aber nicht daran lag, dass der Regisseur nicht Steven Spielberg hieß. Bei Schindler war der Widerpart das Hitlerreich. Es ging am 8. Mai 1945 unter. Bei Rabe war es das Hirohitoreich. Das blieb. Mit Japan aber wollte und will es sich niemand wegen der Vergangenheit verderben. So beschweigt man denn lieber dessen zwischen 1932 und 1945 verübte Untaten, als sie anzusprechen.

    Und auch China selbst mochte lange Zeit nicht über Nanjing reden. Schließlich war der Einmarsch der Japaner in die einstige Hauptstadt objektiv eine chinesische Niederlage, auch wenn die Regierung damals die von Chiang Kai-shek war. Er war zwar kein Freund der Kommunisten – aber er und seine Soldaten waren schließlich Chinesen.

    Liu Heinang lebt in Nanjing, machte 1977 dort Abitur, studierte in Shanghai Germanistik, arbeitete fünf Jahre als Dolmetscher für ein Chemieunternehmen und dann von 1989 bis 1998 als Deutschlehrer. Danach war er im Verbindungsbüro zu Baden-Württemberg tätig. 2013 gründete er eine Managementfirma, die aktuell 26 mittelständische deutsche Unternehmen betreut. Nebenbei übersetzt er Bücher aus dem Deutschen ins Chinesische, etwa Friedrich Schiller, die Tagebücher John Rabes oder Romane der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller .

    #Chine #Japon #Allemagne #massacre_de_Shanghai #traduction #nazis

  • Google mächtiger als die EU

    via https://diasp.eu/p/17142107

    22.09.2024

    Google trickst EU Kommission aus

    Der „Wert“ der #BIG5 oder #GAFAM (#Google, #Amazon, #Facebook, #Apple, #Microsoft) ist größer als die Haushalte von vielen Staaten. Auch die EU mit 350 Millionen Einwohnern ist nicht mehr in der Lage die Konzerne in die Schranken zu weisen.

    Seit Jahren geht die Wettbewerbsbehörde der EU mit Milliarden #Bußgelder|n gegen Google vor - auch gegen Meta (Facebook). Nun hat aktuell der EuG, das Gericht der #EU [#UE], die von der EU-Kommission gegen ­Google verhängte Geldstrafe in Höhe von 1,49 Milliarden Euro kassiert. Die EU hatte festgestellt, dass der Onlinekonzern, bei seinem Dienst „Adsense for Search“ die eigene marktbeherrschende Stellung missbraucht hatte.

    Bei diesem Google-Dienst können die Betreiber anderer Internetseiten für einen (...)

  • Kleiner Lord des Tages : Keir Starmer
    https://www.jungewelt.de/artikel/484146.kleiner-lord-des-tages-keir-starmer.html

    Les dirigeants du parti travailliste sont corrompus. C’est ce qu’,on pourrait penser après avoir lu que premier ministre du Royaume Uni a accepté (sans le déclarer comm tel) un cadeau de 16.200 livres de la part d’un riche homme d’affaires. La somme était prévue pour ccmpléter la tenue vestimentaire du politicien de gauche.

    20.9.2024 von Felix Bartels - Kleider machen Leute, weiß man in Seldwyla. Die Form bekanntlich ist wesentlich, Repräsentation selbst dort, wo sie kein Inneres ausdrückt, sondern als Kostümierung dagegen wirken soll, nie ganz zufällig. Das gilt für den Rest der Welt, und es gilt zumal für Politiker von Labour. Man sollte meinen, dass in einer Partei, die dem Namen nach der Arbeiterklasse verpflichtet ist, die Maxime eher »Leute machen Kleider« heißt, doch auch ein Keir Starmer scheint vor allem seinen Suit im Kopp zu haben.

    Nun ist der britische Premier wegen seines Umgangs mit Spenden aufgefallen. Wie die Financial Times am Donnerstag berichtete, hat Starmer versäumt, 16.200 Pfund korrekt zu deklarieren. Die Spende sollte dem Anschaffen persönlicher Kleidung dienen. Gegeben wurde sie vom Medienunternehmer ­Waheed Alli und war zunächst unter der Kategorie »Sonstiges« als Unterstützung für Starmers Büro verbucht worden, nicht ausdrücklich als »persönliches Geschenk«, wie der Verhaltenskodex im Königreich das vorsieht. Halten wir das kurz fest: Wenn der Chef der Partei der arbeitenden Menschen sich von einem Millionär einkleiden lässt, ist das im Rahmen der Gepflogenheiten. Rechnet er das Geschenk als Gabe für seinen Stab ab, geht das zu weit.

    Weirdes Königreich.

    Seit 2019 hat Starmer so viele Spenden eingesammelt wie kaum ein anderer im Unterhaus. Insgesamt 100.000 Pfund, darunter VIP-Logen-Tickets für Premier-League-Spiele und ein Taylor-Swift-Konzert. Aber wenigstens weiß er jetzt, was er dazu anziehen soll. Im Wahlkampf inszenierte Starmer sich als korruptionsfreier Saubermann, und es kursiert das Gerücht, dass sein Gehalt ausreiche, sich ein paar nicht bestoßene Anzüge zu kaufen. Jeremy Corbyn übrigens wäre das nicht passiert. Er ginge wohl eher nackt in den Palace of Westminster als eingekleidet vom Klassengegner.

  • Neukölln-Komplex : Taten einer Gruppe
    https://www.jungewelt.de/artikel/483638.neuk%C3%B6lln-komplex-taten-einer-gruppe.html


    Kundgebung vor dem Amtsgericht Tiergarten bei Beginn des Prozesses im »Neukölln-Komplex« (Berlin, 29.8.2022) AdoraPress/M. Golejewski

    Pendant des années la police politique de Berlin a saboté l’enquête contre les auteurs de plusieurs attentats contre des militants de gauche. En première instance les accusés ont alors été acquitté pour manque de preuve. En ce moment on peut assister à la procédure de deuxième instance.

    13.9.2024 von Annuschka Eckhardt - Berufungsverfahren im »Neukölln-Komplex«: Verlesung des Urteils der vorherigen Instanz und Zeugenvernehmungen

    Mehr als 30mal muss die Richterin es verlesen: »Rudolf Hess – das war Mord« (sic) und »Mord verjährt nicht«. Die beiden angeklagten Neonazis Tilo P. und Sebastian T. hatten diese Sprüche über Jahre in Berlin-Neukölln gesprayt, die Buchstaben »S« in »Hess« als Sigrunen, eine Schablone mit Konterfei des Naziverbrechers Heß führten sie offenbar auch mit sich. Außerdem sollen sie Brandanschläge auf Linke verübt haben, so auf den Politiker Ferat Koçak und den Buchhändler Heinz Ostermann. Die beiden Faschisten waren vor mehr als eineinhalb Jahren vom Amtsgericht Tiergarten aus Mangel an Beweisen vom Vorwurf der Brandstiftung gegen die Autos ihrer politischen Gegner freigesprochen worden.

    Am Donnerstag begann der Berufungsprozess im sogenannten Neukölln-Komplex im Landgericht in Berlin-Moabit. Bislang sind 14 Verhandlungstage bis Ende November angesetzt. Nach Überzeugung der Generalstaatsanwaltschaft wollte das Duo Menschen einschüchtern, die sich gegen Neonazismus engagieren. Das Amtsgericht Tiergarten hatte den Angeklagten P. am 15. Dezember 2022 und den Angeklagten T. am 7. Februar 2023 in erster Instanz unter anderem vom Vorwurf der Brandstiftung aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Gleichzeitig hatte das Amtsgericht P. wegen Sachbeschädigung und Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in mehreren Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 30 Euro und T. wegen Betrugs, Sachbeschädigung, Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Bedrohung, Beleidigung und Störung des öffentlichen Friedens zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Gegen die Urteile hatten sowohl die Generalstaatsanwaltschaft als auch die Angeklagten Berufung eingelegt. Mehr als 70 rechte Straftaten hatten die Ermittlungsbehörden seit 2013 in Neukölln gezählt. Erst im August 2021 erhob die Generalstaatsanwaltschaft Anklage.

    Die Verlesung des Urteils aus der ersten Instanz dauerte über eine Stunde. Stoisch wiederholt Richterin Susann Wettley Straßennamen, Hausnummern und Postleitzahlen von Orten im migrantisch geprägten Bezirk Neukölln, denen die Neonazis »Besuche« abgestattet hatten, um ihre faschistischen Botschaften anzubringen, Linke einzuschüchtern oder lebensbedrohliche Brandsätze zu legen. Doch darum sollte es am ersten Verhandlungstag der Berufung nicht gehen, sondern um eine Wohnung von T., für deren Miete er Geld vom Jobcenter erhielt, sie aber untervermietete. Dazu waren mehrere Zeugen geladen, unter anderem eine bulgarische Untermieterin und die angebliche Verlobte des Angeklagten, in deren Wohnung er seit 2021 offiziell gemeldet ist.

    »Es ist wirklich eine Schande, dass Herr Ostermann und ich nach fast sieben Jahren nun wieder bei diesem Prozess als Zeugen auftauchen müssen. Die Begegnung mit den Nazis, die meinen Tod und den meiner Eltern in Kauf genommen haben, ist für mich enorm retraumatisierend, kostet mich Schlaf und hält mich von wichtiger Arbeit ab«, sagte der Betroffene, Zeuge und auch Nebenkläger Koçak am Donnerstag gegenüber junge Welt. Der Tag des Anschlags und die damit einhergehenden Ängste bestimmten wieder den Alltag des Sprechers für antifaschistische Politik, Strategien gegen rechts und Klimapolitik der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus und den des Buchhändlers Ostermann. Besonders erschreckend sei, dass neben dem ehemaligen Neuköllner AfD-Vorstandsmitglied P. auch einer von »Der III. Weg« angeklagt ist, einer Gruppierung, die zuletzt mit Kampfsporttrainings für Faschisten im Berliner Raum Aufsehen erregt hatte. Gemeint ist der Angeklagte Sebastian T. »Es ist wichtig, dass endlich berücksichtigt wird, dass es hier um eine organisierte Gruppe und nicht um Einzeltäter geht, die seit Jahren Neuköllner terrorisieren«, so Koçak.

    Die Bedrohungslage scheint indes weiter vorhanden zu sein: Erst vor kurzem habe »Der III. Weg« vor Koçaks Wohnhaus eine Drohung hinterlassen haben, um ihn vor dem Prozess einzuschüchtern.

    #Allemagne #Berlin #Neukölln #justice #police_politique #extrême_droite #attentat

  • Kolonialismus: »Keine schöne Angelegenheit«
    https://www.jungewelt.de/artikel/483319.kolonialismus-keine-sch%C3%B6ne-angelegenheit.html


    Sehen lernen. Joseph Conrads Erzählung entlarvt den Kolonialismus als brutales, rassistisches Unterdrückungssystem. Im Bild die Statue Émile Storms, einer der Protagonisten der belgischen Kolonialpolitik im Kongo (Brüssel, 14.6.2020) Monasse T/Andia.fr/imago

    9.9.2024 von Holger Teschke -Joseph Conrad entlarvt in seiner vor 125 Jahren erschienenen Erzählung »Herz der Finsternis« die bürgerliche Kolonialpolitik ebenso wie deren verspätete Kritik

    »Der Literat fristet sein Dasein, indem er immer wieder die Erinnerung beschwört und das Gespräch mit den Schatten sucht«, schreibt Joseph Conrad in seinen Lebenserinnerungen von 1919. Dieser Ansatz zeichnet all seine Romane und Erzählungen aus, die bis heute nichts von ihrer sprachlichen Strahlkraft und ihrer politischen Weitsicht verloren haben. Aber in kaum einem anderen Werk hat Conrad die Schatten seiner Erinnerungen so dunkel und gleichzeitig so blendend heraufbeschworen wie im »Herz der Finsternis«.

    Geboren am 3. Dezember 1857 in Berditschew in der heutigen Ukraine, wuchs Józef Teodor Konrad Korzeniowski als einziges Kind des Schriftstellers und Übersetzers Apollo Korze­niowski und seiner Frau Eva in einem patriotischen Elternhaus auf. Vater und Mutter gehörten polnischen Oppositionskreisen an, die gegen die russische Okkupation nach der dritten Teilung Polens Widerstand leisteten. Aus einer verarmten Familie kleiner Landadliger kommend, hielt Apollo seine Familie mit Übersetzungen von Shakespeare, Dickens und Victor Hugo über Wasser. 1861 wurde er verhaftet und nach sechs Monaten Untersuchungshaft nach Wologda im Nordosten Russlands verbannt. In der Verbannung las der kleine Konrad, der mit fünf Jahren Lesen und Schreiben gelernt hatte, aus Mangel an Kinderbüchern die Romane von Cooper und Marryat sowie die Berichte des britischen Afrikareisenden Henry Morton Stanley. Als Neunjähriger will er vor einer Landkarte Afrikas gestanden, auf einen weißen Fleck im Herzen des Landes gezeigt und gesagt haben: »Dort will ich hin, wenn ich erwachsen bin.«
    Hauptsache weg

    Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs er bei Tadeusz Bobrowski, einem Bruder seiner Mutter auf, der sich auch um die Schulbildung seines Neffen in Kraków kümmerte. Aber der junge Konrad wollte zur See fahren und setzte sich schließlich mit Beharrlichkeit gegen den Widerstand seines Vormunds durch. »Die Hauptsache war: wegzukommen«, schreibt er lakonisch in seinen Erinnerungen.

    Schließlich drohten ihm ein langjähriger Militärdienst in der russischen Armee und eine unsichere Zukunft als Sohn eines politisch Verurteilten. Dann schon lieber »Pökelfleisch und Schiffszwieback«, aber eben auch die Aussicht, etwas von der Welt zu sehen. 1874 konnte er endlich einen Zug besteigen, der ihn nach Marseille brachte.

    Konrad fuhr zunächst als Leichtmatrose in die Karibik, musste aber nach einem Abenteuer als Waffenschmuggler, bei dem er sein gesamtes Geld verlor, Frankreich verlassen. Deshalb ging er nach England und heuerte bei der britischen Handelsmarine an. Dort fuhr er zwischen 1878 und 1880 als Vollmatrose bis nach Australien, bestand seine Steuermannsprüfung und fuhr anschließend als Zweiter Offizier auf Handelsseglern nach Bombay und Kalkutta. 1886 erwarb er die britische Staatsangehörigkeit und das Kapitänspatent. Er machte als Erster Offizier Reisen nach Borneo und Java und schließlich als Kapitän der Dreimastbark »Otago« nach Singapur und Sydney. Auf der Rückreise von Australien nach England begann er 1889 auf einem Dampfer seinen ersten Roman »Almayers Wahn« zu schreiben. Das Manuskript hätte er auf einer Reise in die alte Heimat zu seinem Onkel beinahe auf dem Berliner Bahnhof Friedrichstraße verloren, als er eine Tasche in einem Café stehenließ. Ein aufmerksamer Gepäckträger brachte sie ihm zu seinem Zug nach und rettete so den ersten Roman von Joseph Conrad.

    Da er während der Zeit der großen Londoner Dockstreiks kein Schiff als Kapitän finden konnte, versuchte er es auf dem Kontinent und bekam durch Vermittlung seiner umtriebigen Tante Marguerite Poradowska in Brüssel das Angebot der »Société Anonyme Belge pour le Commerce du Haut-Congo« (SAB), das Kommando auf einem Flussdampfer im Kongo zu übernehmen. Die »Florida« sollte eine Expedition bis zu den Quellgebieten des Kongo unternehmen. Nach der Berliner »Kongo-Konferenz« 1884, auf der die europäischen Mächte den afrikanischen Kontinent unter sich aufgeteilt hatten, war der Kongo an den belgischen König Leopold II. gefallen, der ihn als seinen Privatbesitz betrachtete und rücksichtslos ausbeuten ließ. Diesen Umstand verschleierte der König mit angeblichen »Forschungsexpeditionen«. 1876 hatte er auf einer Afrikakonferenz in Brüssel verkündet: »Die Zivilisation in den einzigen Teil der Erde zu bringen, in den sie noch nicht vorgestoßen ist, ist ein Kreuzzug, der diesem Zeitalter des Fortschritts würdig ist.« Heute nennt man Kreuzzüge nicht mehr beim Namen, sondern »Nation Building« oder »Demokratieförderung«.

    In dreizehn Jahren raffte Leopold II. mit Hilfe seiner Kolonialverwaltung und ihrer Agenturen 80 Millionen Mark zusammen, wobei zehn Millionen Menschen, fast die Hälfte der dortigen Bevölkerung, durch gezielte Ausrottungsfeldzüge, Hunger und Zwangsarbeit ums Leben kamen. Die Eingeborenen hatten monatlich festgelegte Mengen an Elfenbein und Kautschuk an die Agenten des Königs abzuliefern. Erreichten sie das Quantum nicht, wurden sie ausgepeitscht und verstümmelt, ihre Dörfer von Strafexpeditionen niedergebrannt und ihre Frauen und Kinder in die Sklaverei deportiert.
    Brutalität wird öffentlich

    Zwar versuchten die Beamten des Königs und die mit ihnen kooperierenden US-Unternehmer wie Morgan und Rockefeller alles, um Nachrichten darüber zu unterdrücken oder als Lügen darzustellen. Aber durch einen Bericht des britischen Konsuls Roger Casement kamen 1904 viele diese Ungeheuerlichkeiten ans Licht der Öffentlichkeit. Mark Twain schrieb daraufhin 1905 mit »König Leopolds Selbstgespräch« eine seiner bittersten politischen Satiren, die von der britischen »Congo Reform Association« (CRA) veröffentlicht wurde, weil sich in den USA kein Verlag dafür fand.

    Es gab einen Aufschrei, man setzte eine Reformkommission ein, der Staat kaufte dem König seine Kolonie ab und machte dann in angeblich humaner Weise mit der Ausbeutung des Landes weiter. Casement, den man vom Kongo nach Brasilien versetzt hatte, wurde 1916 wegen seiner Unterstützung des irischen Unabhängigkeitskampfs als Hochverräter von einem britischen Gericht zum Tode verurteilt und gehängt. Conrad lernte ihn auf seiner Reise in den Kongo kennen und beschrieb ihn in seinem Reisetagebuch als »äußerst intelligent und sympathisch«. Als sich Arthur Conan Doyle und Bernhard Shaw für Casements Begnadigung einsetzten und an den US-Präsidenten Woodrow Wilson und den Erzbischof von Canterbury appellierten, ließ die britische Regierung eilends Tagebücher veröffentlichen, die Casement als »homosexuell und sehr interessiert an jungen Afrikanern« darstellen sollten. Die Authentizität dieser Schriften ist bis heute umstritten, zumal ihr »Entdecker«, der Direktor von Scotland Yard, Basil Thomson, 1920 als Fälscher russischer Dokumente entlarvt wurde.

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    Joseph Conrad reiste im Mai 1890 mit einem Dreijahresvertrag der SAB von Bordeaux über die Kanaren und die Elfenbeinküste in den Kongo. Auf der Fahrt hoffte er, weiter an »Almayers Wahn« schreiben zu können, aber auf dem französischen Schiff »Ville de Maceió« begann er statt dessen ein Reisetagebuch zu führen. Er beobachtete die Arroganz und Menschenverachtung der mitreisenden Geschäftsleute und Beamten und hielt sie detailliert fest. Die Notizen in diesem Tagebuch sollten acht Jahre später zur Grundlage für das »Herz der Finsternis« werden.
    Inszenierte Kannibalen

    Am 12. Juni 1890 ging die »Ville« vor Boma an der Mündung des Kongo vor Anker. Auf einem Dampfer fuhr Conrad flussaufwärts bis zum Handelsposten Matadi, wo er zwei Wochen blieb und Casement kennenlernte, der dort Vermessungsarbeiten für eine Eisenbahnstrecke durchführte, die bis nach Stanley Pool, dem heutigen Pool Malebo, führen sollten. Während er dort auf die Weiterreise wartete, musste er für die »Société« Elfenbein in Fässer verpacken, eine »idiotische Beschäftigung«, wie er im Tagebuch schrieb. Erst am 28. Juni ging es mit Trägern und einem Führer durch den Urwald weiter. Am 2. August kam die Karawane erschöpft in Kinshasa an. Das Grauen, das ihm im Busch begegnet war, hielt Conrad ebenfalls in seinem Tagebuch fest: ein an Pfähle gefesseltes Skelett, namenlose Gräber und verbrannte Dörfer. In Kinshasa erfuhr er, dass die »Florida«, deren Kommando er übernehmen sollte, Schiffbruch erlitten hatte und im Reparaturdock lag. Daher bekam er den Auftrag, als Offizier auf dem Flussdampfer »Roi des Belges« weiter flussaufwärts zu fahren, um dabei zu helfen, ein anderes gescheitertes Schiff wieder flottzumachen. So gelangte Conrad ins innerste Afrika bis nach Stanley Falls, dem heutigen Kisangani, wo der erkrankte französische Handelsagent George Klein an Bord kam, um nach Frankreich zurückzukehren.

    Klein starb wenige Wochen später und hat möglicherweise mit seinem Namen für den Protagonisten Kurtz Pate gestanden. Den wesentlichen Anstoß zu dieser Figur gab aber der britische Kolonialoffizier Edmund Musgrave Barttelot, der für seine exzessive Brutalität bekannt und 1888 von einem afrikanischen Stammeshäuptling nach der Misshandlung von dessen Frau erschossen worden war. Conrad hatte an Barttelots Grab am Oberen Kongo gestanden und dort viele Berichte, die über dessen Grausamkeit kursierten, gehört. Ein Londoner Korrespondent der New York Times hatte unter anderem berichtet, dass Barttelot für Forscher einer Stanley-Expedition, die er begleitete, Überfälle von »Kannibalen« auf Dörfer im Busch inszenierte, bei denen die Angreifer ihre Opfer nicht nur töten, sondern auch verzehren mussten, um den Wissenschaftlern Anschauungsunterricht über »Barbarei« zu geben. Natürlich wurden diese Berichte später in England empört als Greuelmärchen zurückgewiesen. Conrad ging es nach der Veröffentlichung von »Herz der Finsternis« nicht viel besser.

    Kritiker warfen ihm vor, er hätte immer nur Andeutungen gemacht und könne keine Belege für seine Behauptungen vorweisen. Dabei wusste der Autor schon damals, dass das wahre Grauen im Kopf der Leser entsteht.

    Joseph Conrad erkrankte auf dieser Reise und war zeitweise dem Tod nah. Nach der Behandlung auf einer baptistischen Missionarsstation und einer aufreibenden Rückreise kündigte er seinen Vertrag und kehrte im Dezember 1890 nach Boma zurück. Am 1. Februar 1891 kam er wieder in London an, gezeichnet von Krankheiten und Schreckensbildern, die ihn bis ans Ende seines Lebens verfolgen sollten. Erst nach acht Jahren fand er die Kraft, mit »Herz der Finsternis« eine der eindringlichsten und wirkungsstärksten Erzählungen über Ursachen und Auswirkungen des europäischen Kolonialismus zu schreiben.

    Ein anonymer Erzähler berichtet von einem Abend an Bord einer Segelyacht auf der Themsemündung, auf der sich eine Gruppe von Freunden – Direktor, Buchhalter und Rechtsanwalt einer Handelsgesellschaft – versammelt haben, um der Geschichte des Seemanns Marlow von einer Reise ins innerste Afrika zuzuhören. Der Erzähler beschwört zunächst die Schönheit des abendlichen Flusses und die große Geschichte der britischen Seefahrt herauf, die von der Themse aus ihren Anfang genommen hat – von Francis Drake bis John Franklin. Dann beginnt Marlow mit seiner weitaus weniger heroischen Geschichte. »Die Eroberung der Erde, das heißt meist, dass man sie denen nimmt, die eine andere Hautfarbe haben. Keine schöne Angelegenheit, wenn man sich gründlich damit befasst.«
    Keine Entschuldigung

    Marlow hat sich gründlich mit dieser Geschichte befasst und beschreibt seine Reise wie die Dantes ins Inferno. Dabei durchschreitet er drei Kreise: vom Brüsseler Büro der Handelsgesellschaft bis an die Küste Afrikas, von der Mündung des Kongo bis zur Station, auf der er sechs Monate bis zur Reparatur des Dampfers verbringen muss und schließlich die Fahrt zur Station von Kurtz und seine Erlebnisse in dessen Machtbezirk. Die Reise wird, wie bei Dante, zu einer Reise zu sich selbst. Was er dabei mit Entsetzen entdeckt, sind nicht nur die Gefahren des Dschungels, sondern die Gefahr, die der eigenen Persönlichkeit durch die Teilnahme an den barbarischen Ausbeutungsverhältnissen droht, die dort ohne Einschränkungen von Recht und Gesetz wüten. Er begreift inmitten von Fieber und Tod, dass das Gerede von »Fortschritt« und »Zivilisation« nur der Legitimierung von Verbrechen dient und dass es für den, der daran teilhat, keine Entschuldigung gibt. Die politischen und religiösen Beschwichtigungen, die das System für seine Komplizen bereitstellt, helfen ihnen am Ende ihres Lebens nicht mehr.

    Für die Machthaber in den Konzern- und Regierungszentralen, für die Völkermord und Umweltzerstörung nur Zahlen und Statistiken sind, dient die Ideologie vom Preis des Fortschritts bis heute als Beruhigungsmittel. Aber eines Tages ereilt auch sie das Grauen. »Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend immer Böses muss gebären«, lässt Schiller im »Wallenstein« Octavio Piccolomini erkennen. Conrad wie Marlow beschreiben Kurtz nicht als einen sadistischen Psychopathen, dessen Verbrechen biographisch oder psychologisch zum Einzelfall erklärt werden können, sondern als ein Produkt eines Systems. »Ganz Europa hatte dazu beigetragen, Kurtz hervorzubringen«, resümiert Marlow, der bis zum Ende von dem charismatischen Dschungeldespoten ebenso fasziniert wie abgestoßen ist.

    Darin liegt die erzählerische Leistung Conrads, die sprachlich zwischen Halluzinationen und Traumbildern schwankt, bis sie sich angesichts der Tatsachen zu einer klaren Erkenntnis durchringen muss. Marlow findet in Kurtz’ Hütte einen Bericht, den der für eine »Internationale Gesellschaft zur Abschaffung barbarischer Sitten« verfasst hat und in der er auf siebzehn Seiten über die »Macht des Guten« räsoniert. Der »Zauberfluss dieser glühenden und edlen Worte« erweist sich als Ansammlung von Phrasen. Marlow entdeckt eine Nachschrift, die Kurtz nach seiner Machtübernahme angefügt hat und die lautet: »Exterminate all the brutes!« – »Ausrotten das Kroppzeug!«

    Durch sie erkennt Marlow auch, wie weit seine eigene Verfinsterung des Herzens durch die Teilnahme am kolonialen Alltag bereits fortgeschritten ist. An Kurtz’ Sterbebett begreift er, dass da kein »Gesandter der Barmherzigkeit, der Wissenschaft und des Fortschritts« liegt, sondern nur ein besonders eloquenter Kolonialherr, der sein Charisma und seine tödlichen Waffen dazu benutzt hat, sich zu einer Gottheit zu erheben, um seine Untergebenen für Gewinn und Karriere hemmungslos ausbeuten zu können. Aber Conrad geht noch einen Schritt weiter. Er lässt Kurtz noch vor seinem Tod erkennen, dass er seine eigenen Lügen zu lange selbst geglaubt hat und dass es für seine Verbrechen keine Gnade geben wird. Das steckt in dem Ausruf, den der Sterbende flüstert: »The horror! The horror!« – »Das Grauen! Das Grauen!«

    In dieser doppelten Verfremdung, die an Hitchcock und Brecht erinnert, liegt die Wirkungskraft von Conrads Erzählung. Marlows Geschichte, bei der einige seiner Zuhörer sogar einschlafen oder offen ihr Gelangweiltsein zeigen, ist deswegen so wirkungsvoll, weil er nicht von der hohen Kanzel moralischer Überlegenheit herab predigt, sondern von seiner eigenen Schuld und Zerrissenheit berichtet. »Wir müssen den Sklaven in uns tröpfchenweise herauspressen«, hat Anton Tschechow einmal geschrieben.
    Elend der Symbolpolitik

    Das gilt auch für den Rassisten und den Genießer der Privilegien der Ausbeutung in uns, und dieser Prozess ist ebenso langwierig wie schmerzhaft. Die Crux der deutschen Erinnerungskultur liegt eben auch darin, dass sie immer noch in idealistischer und selbstgerechter Weise daran glaubt, diesen schmerzhaften individuellen Prozess durch Kranzniederlegungen, Denkmäler und Workshops ersetzen zu können. Ein paar gestohlene Artefakte im Jumbojet aus deutschen Museen in ferne Kolonien zurückzubringen, die unter anderem wegen der Emissionen solcher Jets im Meer zu versinken drohen und sich dabei von einem Tross aus Kameras und Journalisten begleiten zu lassen, zeugt von moralischem Größenwahn, der an Abgehobenheit schwer zu überbieten ist. Der wahre Moralist sucht den Komplizen der Verbrechen nicht im Anderen, sondern in sich selber. Davon erzählt große Literatur seit Homer, und vielleicht soll sie auch deswegen – und nicht wegen ihrer »sprachlichen Kompliziertheit« – aus den Lehrplänen verschwinden.

    Die schleichende Zerstörung sämtlicher humanistischer Werte durch die tagtägliche Barbarei des neoliberalen Imperialismus in aller Welt wird durch solche Symbolpolitik nicht einmal mehr kaschiert. Im Gegenteil – sie macht sie schlagartig sichtbar. Allerdings gehen die Empörungswellen dagegen am Kern des Problems, den Eigentums- und Produktionsverhältnissen, lauthals vorbei. Denn mit dem Austausch der Repräsentanten allein ändert sich für die Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt gar nichts. Die durch Ausbeutung, Kriege und Umweltzerstörung ausgelösten Migrationsströme haben da schon eine andere Wucht. Dass Politik ernsthaft glaubt, Europa dagegen auf lange Sicht mit Grenzkontrollen, Einreisesperren und Abschiebelagern in »sicheren Drittländern« zur uneinnehmbaren Festung machen zu können, zeigt nur, dass sie von dem Elend, das in diesen Ländern herrscht, noch immer keinen Begriff haben.

    Die Romane und Erzählungen Joseph Conrads zu lesen – statt sie auf den Index setzen zu wollen –, könnte dabei hilfreich sein. Denn der polnische Exilant, dessen englische Prosa bis heute von ihrer Klarheit und Schärfe nichts verloren hat, ist seinem Credo bis zu seinem Tod in all seinen Werken treu geblieben: »Durch die Macht des geschriebenen Worts euch hören zu lehren, euch fühlen zu lehren und vor allem sehen zu lehren.«

    Holger Teschke wurde 1958 auf Rügen geboren und fuhr nach der Schulzeit bis 1980 zur See. Heute arbeitet er als Autor und Dramaturg in Berlin und Sassnitz. 2016 schrieb er für den Deutschlandfunk Kultur das Hörspiel »Die Schattenlinie« über Joseph Conrads letzte Seereise. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. September 2024 über den Maler Caspar David Friedrich.

    #histoire #colonialisme #belgique #congo #exploitation #torture #Au_cœur_des_ténèbres