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  • Machtdemonstration - Milliarden für Mali-Einsatz
    https://www.jungewelt.de/artikel/449690.machtdemonstration.html

    26.4.2023 von Sevim Dagdelen -
    Im Mai 2024 soll der Einsatz der Bundeswehr endlich enden. 3,5 Milliarden Euro hat die militärische Kraftmeierei für einen geopolitischen Fußabdruck im Sahel in den vergangenen zehn Jahren bereits gekostet. Weitere 760 Millionen Euro an deutschen Steuergeldern sollen bis zum endgültigen Abzug in einem Jahr noch oben draufkommen. Während die Soldaten im Bundeswehr-Lager in Gao allein darauf warten, dass endlich Schluss ist, wächst der Unmut in der Region gegen die Deutschen. Immer stärker wird Deutschland als Kollaborateur der in der Region verhassten ehemaligen Kolonialmacht Frankreich wahrgenommen. Die malische Militärregierung drängt zum Abzug. Wie Frankreich wird der Bundesregierung vorgeworfen, den islamistischen Terror gefördert zu haben, um die Fortsetzung der eigenen militärischen Präsenz zu rechtfertigen.

    Man müsste meinen, das nach Afghanistan nächste militärische Desaster in Mali sei nun Mahnung genug, die Ära der deutschen Militärinterventionen ein für allemal zu beenden. Weit gefehlt. Die Militärpräsenz im Sahel soll, koste es, was es wolle, erhalten bleiben. Raus aus Mali, rein nach Niger, lautet die deutsche Devise. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius nennt den Militärstützpunkt in Nigers Hauptstadt Niamey bereits eine »Drehscheibe für alle Aktivitäten von uns und anderen europäischen Nationen hier in Afrika«. Über den Ausbau der »Drehscheibe« wird in dieser Woche im Bundestag entschieden.

    Längst aber gibt es wie in Mali auch in Niger Massenproteste gegen die Stationierung französischer Soldaten und die fortgesetzte neokoloniale Ausbeutung des Landes. Denn während Frankreich weiterhin 30 Prozent seines Urans für den Betrieb seiner Atomkraftwerke aus den Minen Nigers bezieht, haben dort 60 Prozent der Menschen keinen Zugang zu Strom. Und die Bundeswehr hilft jetzt, diese zutiefst ungerechte Ordnung per neokolonialer Amtshilfe abzusichern. Die vom Westen vielbeschworene Augenhöhe, auf der man mit den Ländern Afrikas agieren wolle, wird dort inzwischen mit der speziellen Kombination aus moralischem Oberlehrertum, gnadenloser Ausbeutung und unverhohlenen Drohungen übersetzt.

    Dazu passt der großangelegte Bundeswehr-Einsatz mit 1.600 Soldaten zur militärischen Evakuierung deutscher Staatsbürger aus dem Sudan. Während etwa die UNO, China, Indien und viele Staaten des globalen Südens auf zivile Rettungsmaßnahmen setzten, drängt die Bundesregierung an der Seite anderer NATO-Verbündeter auf eine militärische »Show of Force« Deutschlands inklusive Kampftruppen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Allen Nebelwänden zum Trotz, die jetzt aufgezogen werden, deutet vieles darauf hin, dass es allein um eine weitere Machtdemonstration der Bundeswehr in Afrika geht.

    Sevim Dagdelen (Die Linke) ist Bundestagsabgeordnete und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss

  • Arbeit für 847 Jahre
    Rechnungshof nennt Rekonstruktion von MfS-Akten »vollständig gescheitert«
    https://www.jungewelt.de/artikel/449589.ideologieproduktion-arbeit-f%C3%BCr-847-jahre.html

    Le plus grand puzzle du monde ne sera pas complété.

    22.4.2023 von Nico Popp - Die Szene, die seit Jahrzehnten ideologisch und materiell von der auf die »Stasi-Akten« konzentrierten »Aufarbeitung« der DDR-Geschichte lebt, wird von unerwarteter Seite unter Druck gesetzt. Der Bundesrechnungshof hat, wie am Freitag bekannt wurde, in einem »Ergänzungsband« zu den »Bemerkungen zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes« im Jahr 2022 den seit 1995 unter der Regie der diversen »Stasi-Unterlagenbeauftragten« und neuerdings des Bundesarchivs durchgeführten Versuch, geschredderte oder von Hand zerrissene Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wieder zusammenzusetzen, für »vollständig gescheitert« erklärt. Es gebe »hohe Kosten«, aber »keinen Fortschritt«.

    28 Jahre nach Beginn der Rekonstruktion seien lediglich 3,2 Prozent der in über 15.000 Säcken gesammelten Schnipsel wieder zusammengesetzt worden (und nur 0,1 Prozent digital). Das Digitalisierungsprojekt mit einem Preisschild von 17 Millionen Euro habe keinen Erfolg gehabt. Zweifel am wissenschaftlichen Wert der Aktion gibt es schon lange; grundlegend neue Erkenntnisse über das MfS haben die bislang zusammengesetzten Akten nicht gebracht.

    Das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik hat sich seit 2007 mit der digitalen Rekonstruktion der geschredderten Akten befasst. In einem »Testlauf« sollten zunächst die Schnipsel aus 400 Säcken wieder lesbar gemacht werden. Bis 2014 wurden aber nur 23 Säcke mit 91.000 Seiten bearbeitet, danach gar keine mehr. Angelegt war das Pilotprojekt zunächst auf zwei Jahre, wurde aber trotz der »unausgereiften« Technik verlängert.

    »Bei diesem Arbeitstempo wären die Unterlagen erst in rund 847 Jahren wiederhergestellt«, heißt es in dem Prüfbericht lakonisch. Das Institut sei »offensichtlich nicht in der Lage«, die Unterlagen zu rekonstruieren. Die Rechnungsprüfer werfen insbesondere den verantwortlichen Staatsministern für Kultur und Medien der vergangenen zehn Jahre böse Blicke zu. Trotz wiederholter Hinweise seien sie untätig geblieben.

  • Das Schweigen ist gebrochen
    https://www.jungewelt.de/artikel/449180.gewalt-gegen-kinder-das-schweigen-ist-gebrochen.html


    Kein Kinderspiel : Der Aufenthalt in vermeintlichen Kurheimen hat viele traumatisiert (Bad Dürrheim, 1959)

    Jusqu’à la fin des subventions publiques pour les colonies de vacances on pratiquait la pédagogie nazie dans ces institutions allemandes. Pendant que dans la coccinelle familiale partissent en vacances vers l’Italie les enfants des familles petites bourgeoises on envoyait les enfants des moins fortunés dans les camps de vacances (Ferienlaget) où sévissaient éducatrices et médecins formés dans l’esprit nazi. On y traitait les petits corps et esprits avec des méthodes abusives et traumatisantes aujourd’hui considérées comme criminelles Une initiative composée d’hommes et de femmes qui n’ont pas oublié ce qui leur est arrivé revendique la constitution d’une commission d’enquête nationale sur ces pratiques.

    20.4.2023 von Annuschka Eckhardt - Die ehemaligen sogenannten Verschickungskinder haben einen Kreis um die verschlissenen alten Lederkoffer gebildet und halten sich an den Händen. Grablichter brennen zwischen den Koffern, die vor dem Kanzleramt im Berliner Regierungsviertel abgestellt wurden. Die Gruppe beginnt leise zu singen: »Wer sich umdreht oder lacht, kriegt die Hucke voll gemacht«.

    Die »Berliner Gruppe Verschickungskinder« hat am Mittwoch zur »Aktion Kinderkoffer« vor dem Bundeskanzleramt aufgerufen. Wie viele Kinder in der BRD zwischen Ende der 1940er Jahren bis in die 1990er Jahre auf vermeintliche Kinderkuren geschickt wurden, ist noch nicht genau erforscht. Schätzungen zufolge könnten es zwischen sechs und zwölf Millionen Kinder gewesen sein. Der »Initiative Verschickungskinder« liegen mittlerweile 5.000 Zeitzeugenberichte vor, die Einrichtungen sämtlicher Trägergruppen betreffen, von den Kommunen über private
    Heimträger und Wohlfahrtsverbände bis zu Krankenkassen und betrieblichen Einrichtungen. Kinderärzte bekamen Prämien von den Krankenkassen, wenn sie Eltern rieten, ihre Kinder in die »Kur« zu schicken. Gründe für den Kuraufenhalt waren unter anderem »Unterernährung«. Prügel, Misshandlung und Vernachlässigung waren für viele an der Tagesordnung. Es gab auch Medikamentenversuche an Kindern und unaufgeklärte Todesfälle.

    »Ich war die allerjüngste in den drei Einrichtungen, in denen mein Bruder und ich im Jahr 1962 waren, ich war erst viereinhalb Jahre alt«, erzählt die heute 65jährige Manuela Güntensberger. Insgesamt seien die Geschwister sechs Monate von ihren Eltern getrennt gewesen. »In dem Heim an der Nordsee ist mein Bruder fast verhungert«, sie schluckt. »Die haben da alles mit Milch gekocht: Milchnudeln, Haferbrei mit Milch, Milchreis. Und mein Bruder mochte keine Milch.« Sie habe ihren nur elf Monate älteren Bruder mehrere Tage vergeblich gesucht, als er endlich wieder im Essenssaal auftauchte, war er apathisch und abgemagert.

    Einmal nach einer langen Busfahrt seien Jungs und Mädchen gemeinsam auf eine Toilette gerannt, weil alle so dringend mussten. »Ein Erzieher hat uns da rausgeprügelt«, sie schüttelt ungläubig den Kopf bei dieser Erinnerung. Mit den Folgen der Verschickung hat die 65jährige bis heute zu kämpfen. Wenn Manuela Güntensberger alleine ist, hospitalisiert sie. Am Rande der Aktion im Regierungsviertel schwenkt sie ihren Kopf hin und her, um es zu demonstrieren. Hospitalismus kann überall dort entstehen, wo Menschen zu wenige oder sehr negative emotionale Beziehungen erhalten. Für dieses Verhalten fördernd ist das Fehlen optischer sowie akustischer Stimulation. »Wenn wir krank waren, wurden wir ganz alleine in einem abgedunkelten Zimmer gelassen«, erzählt die gelernte Krankenschwester.

    Die Initiative fordert eine Bundesbefassung mit dem Thema, die Aufarbeitung der »Kinderverschickung« sei dringend nötig. Eine bundesweite unabhängige Untersuchungskommission müsse endlich die Daten der Initiative ernst nehmen. Neben ihrer Aufklärungsarbeit und der Vernetzung Betroffener, hat sie auch einen Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz 2020 erwirkt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, »eine bundesweite Aufklärung der Vorkommnisse gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der ehemaligen Verschickungskinder und den damals involvierten Institutionen beispielsweise im Rahmen eines Forschungsauftrages vorzunehmen«. Auf der Website der Initiative können Betroffene ihre Geschichten aufschreiben.

    Maria Krisinger ist jünger als die anderen. Die 40jährige wurde 1992 wegen Husten und Untergewicht ins »Schloss am Meer« auf der Nordseeinsel Föhr verschickt. »Wir Kinder haben es immer ›Gefängnis am Meer‹ genannt«, sagt sie. Obwohl das Gebäude direkt am Meer lag, erinnert sie sich nur an einen einzigen Strandbesuch in den sechs Wochen »Kuraufenthalt«. Sie habe schreckliches Heimweh gehabt und viel geweint. Einmal musste sie auf dem kalten Kachelboden im Waschraum übernachten, weil sie mit einem anderen Kind während der Bettruhe geflüstert hatte. Jeden Dienstag »durften« die Kinder drei Minuten unter Aufsicht der Erzieher mit ihren Eltern telefonieren. Krisinger brachte eine Lungenentzündung mit nach Hause, die sie wochenlang ans Bett fesselte. Zugenommen hatte sie nicht.

    #Allemagne #enfance #nazis #lutte_des_classrs

  • 06.04.2023: Abgesang auf Print (Tageszeitung junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/artikel/448406.medienkonzern-abgesang-auf-print.html

    06.04.2023 - Bertelsmanns strategische Vorhaben gescheitert. Management liquidiert das Verlagsgeschäft.

    Für Thomas Rabe, den Vorstandsvorsitzenden von Bertelsmann, war 2022 »ein erfolgreiches Geschäftsjahr. (…) Wir wachsen und sind hochprofitabel.« In der Tat ist der Umsatz um 8,3 Prozent auf 20,2 Milliarden Euro gewachsen, um Sondereinflüsse bereinigt um 4,1 Prozent. Der Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) lag mit 3,2 Milliarden Euro leicht unter dem des Vorjahrs. Der Nettoprofit ist wegen Sondereffekten gesunken, blieb mit 1,1 Milliarden aber hoch, so der internationale Medienkonzern in der vergangenen Woche.

    Trotzdem schmeckt Rabes Selbstlob schal, denn er hat 2022 alle strategischen Vorhaben an die Wand gefahren. Lauthals hatte der Konzernchef angekündigt, mit Großfusionen Spitzenplätze auf wichtigen Märkten besetzen (»nationale Media-Champions«) und so der Übermacht der US-Digitalkonzerne entgegentreten zu wollen. Die Pläne scheiterten aus unterschiedlichen Gründen.

    So verhinderte die US-Regierung, dass Bertelsmann den Buchverlagskonzern Simon & Schuster kaufen konnte und den mit Abstand größten Belletristikverlag der Erde geschaffen hätte. Eine Großfusion bei Callcentern mit dem US-Konzern Sitel hätte ebenfalls den globalen Marktführer schaffen sollen, platzte aber wegen Streitigkeiten der Beteiligten untereinander.

    Auf dem mitteleuropäischen Fernseh- und Videomarkt wollte die RTL-Group, eine Bertelsmann-Tochter, mit zwei Übernahmen zum »Champion« werden. In Frankreich und den Niederlanden hätte sie die Geschäfte mit den dortigen Konkurrenten TF 1 und Talpa vereinigt, um ein Gegengewicht zu den US-Plattformen Netflix, Amazon und anderen zu schaffen. Das blockierten die Kartellbehörden.
    Die LINKE im Europaparlament / Ostermarsch

    Und schließlich das Drama um den Pressekonzern Gruner und Jahr: Der war im Sommer 2021 als Geschäftsbereich aufgelöst und in den Fernsehkonzern RTL gestopft worden. Der »Content« aus den Redaktionen von Stern, Brigitte, Geo und anderen sollte sich in den Programmen von RTL, RTL 2 oder Vox wiederfinden – und umgekehrt. Auch daraus wurde nichts: Das Publikum der Fernsehsender ist ein anderes als die Leserschaft der Zeitschriften, eine redaktionelle Verschmelzung funktionierte nicht. Zudem war bei Gruner und Jahr der Ausbau des Digitalgeschäfts verschlafen worden. So wird der Großverlag eben ganz abgewickelt und Personal mit einer Rücksichtslosigkeit »abgebaut«, für die die deutsche Medienwirtschaft nur wenige Beispiele kennt.

    Bis zu 700 Stellen »entfallen« am ehemaligen ­Gruner-und-Jahr-Standort Hamburg, 300 weitere bei RTL in Köln. Die Druckerei in Ahrensburg mit 550 Beschäftigten wird dichtgemacht. RTV Media in Nürnberg mit 87 Stellen wird liquidiert. Damit sind jeweils Vollzeitstellen gemeint. Wegen der hohen Teilzeitquote liegt die Zahl der tatsächlich Entlassenen mindestens doppelt so hoch. Zudem wird ein Großteil der Redaktionsarbeit durch Freischaffende geleistet, für die es noch nicht einmal Sozialpläne gibt. Die Kahlschlagsorgie wird mehrere tausend Menschen direkt treffen.

    Kaum weniger schwer wiegt der publizistische Schaden. Vor zwei Jahren produzierte Gruner und Jahr 54 Zeitschriften, weitere zehn zusammen mit dem Deutschen Landwirtschaftsverlag. Davon sollen nur drei »Marken« (Stern, Geo und Capital) bei RTL weitergeführt werden. Neun andere (Brigitte, Gala, Schöner Wohnen u. a.) bleiben bei einer Gruner und Jahr Deutschland GmbH, deren Schicksal ungewiss ist. Der verbleibende Rest (z. B. Business Punk, Beef!) wird abgestoßen oder eingestellt. Aber wenigstens gibt es einen schönen Namen für das Abwicklungsprogramm: »Projekt Pearl«.

    Gruner und Jahr war bis vor wenigen Jahren der größte Magazinverlag in Europa, in Deutschland der zweitgrößte beim Umsatz (hinter Bauer) und der renommierteste. Ihn zu zerschlagen, das zeugt nicht nur von Ignoranz gegenüber der Bedeutung von Journalismus, sondern ist der Ausdruck schieren Unwillens, sich noch mit gedruckten Medien abzugeben. Bertelsmanns Konzernstrategie (»Media-Champions«) liegt in Trümmern, ein Plan B ist offenbar nicht vorhanden, da will man sich nicht auch noch mit dem schwieriger werdenden Printgeschäft befassen müssen. Das Schicksal der Betroffenen interessiert dabei nicht.

  •  »Diesen Angriff lassen wir nicht unbeantwortet« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/447577.linke-gegen%C3%B6ffentlichkeit-diesen-angriff-lassen-wir-nicht-unbe

    Les locaux de la radio régionale Dreyeckland et les appartements privés de ses collaborateurs ont été perquisitionnés à cause d’un lien vers les archives d’un site web qui n’existe plus. Cette mesure de la police ne s’explique qu"avec l’intention des agents de l’état allemand de compléter ses informations sur les contacts entre les différents groupes de gauche. L’’avocat de la radio qualifie l’action de la police d’exagérée et illégale.

    27.3.2023 von Henning von Stoltzenberg - Ihr Verein, die Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V., hat gemeinsam mit dem unabhängigen Sender Radio Dreyeckland die Beschwerdebegründung beim Landgericht Karlsruhe gegen die im Januar erfolgten Durchsuchungen eingereicht. Was ist das damals geschehen?

    Die Polizisten standen am frühen Morgen bei den völlig überraschten Journalisten vor der Tür. Sie verschafften sich Zutritt zu ihren Privatwohnungen und beschlagnahmten Laptops und Handys. Auch die Redaktionsräume von Radio Dreyeckland sollten durchsucht und die dortigen Geräte beschlagnahmt werden. Dadurch wäre das Radio weitgehend arbeitsunfähig geworden. Um das zu verhindern, gab einer der Journalisten gegenüber der Staatsanwaltschaft eine Erklärung ab, dass er den ausschlaggebenden Artikel auf seinem Laptop geschrieben und veröffentlicht hatte. Die Staatsanwaltschaft verzichtete daraufhin auf eine Beschlagnahme von Geräten aus den Redaktionsräumen.

    Es ist doch zumindest nicht alltäglich hierzulande, dass die Räumlichkeiten einer Redaktion, in dem Fall eines Radiosenders, von einem Polizeiaufgebot aufgesucht und Journalisten derartig unter Druck gesetzt werden. Was war die Begründung für diese drastische Maßnahme? Der Staatsanwaltschaft muss doch klar sein, dass das für Protest sorgt.

    Den beiden Journalisten wird vorgeworfen, einen Artikel geschrieben beziehungsweise veröffentlicht zu haben, in dem auf die Archiv-Seite der 2017 verbotenen Plattform »linksunten.indymedia« verlinkt wird. Die Staatsanwaltschaft sieht darin eine »Unterstützung der weiteren Betätigung einer verbotenen Vereinigung«. Das ist schon deshalb abwegig, weil es die verbotene Vereinigung namens »linksunten.indymedia« gar nicht mehr gibt. Bei der verlinkten Seite handelt es sich um ein reines Archiv, also etwas völlig anderes als die ursprüngliche Plattform.

    Kann das Setzen eines Hyperlinks im Rahmen eines Presseberichts aus Ihrer Sicht überhaupt eine Razzia inklusive Beschlagnahmungen rechtfertigen? Wie geht das mit der Presse- und Rundfunkfreiheit zusammen? Es ist doch gang und gäbe, Verlinkungen zu setzen. Warum ist das hier angeblich anders?

    Verlinkungen gehören zum digitalen Journalismus dazu und ermöglichen, dass sich die Leserinnen und Leser ein eigenes Bild machen. Das ist von der Pressefreiheit geschützt. Die Strafgesetze müssen entsprechend eng ausgelegt werden. Wenn die Presse nicht auf relevante Seiten verlinken kann, ohne dass am nächsten Tag die Polizei vor der Tür steht, dann ist freier Onlinejournalismus nicht mehr möglich.

    Wie bewerten Sie die Durchsuchung insgesamt? Wurden denn nur Daten beschlagnahmt oder gespiegelt, welche die aktuellen Vorwürfe betreffen?

    Die Durchsuchungen waren völlig unverhältnismäßig. Auf den Rechnern befanden sich große Teile der Kommunikation des Radiosenders. Die Auswertung dieser Daten ist ein schwerer Eingriff in das Redaktionsgeheimnis und den Quellenschutz.

    Halten Sie es dennoch für möglich, dass das Gericht die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft für rechtens erklärt?

    Wir sind recht zuversichtlich, dass unsere Beschwerde Erfolg haben wird.

    Was passiert, wenn die Durchsuchungsbeschlüsse, so wie sie sind, bestätigt werden?

    Wenn das Landgericht sie in der Form bestätigen sollte, werden wir vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe ziehen. Einen solchen Angriff auf die Presse- und Rundfunkfreiheit können wir als Bürgerrechtsorganisation nicht unbeantwortet lassen.

    Was ist Ihr Ziel über den konkreten Fall hinaus? Hätte ein Erfolg Ihrer Beschwerde Auswirkungen auf die Rechtspraxis?

    Wir wollen ein Präzedenzurteil erstreiten, in dem festgestellt wird, dass Journalistinnen und Journalisten sich nicht strafbar machen, wenn sie im Rahmen der Berichterstattung auf Seiten mit möglicherweise rechtswidrigen Inhalten verlinken.

    David Werdermann ist Rechtsanwalt und Verfahrenskoordinator bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte

    #Allemagne #Bade-Wurtemberg #Fribourg #gauche #radio #perquisition #répression #police

  • – John Wick : 1h36m
    – John Wick 2 : 2h2m
    – John Wick 3 : 2h11m
    – John Wick 4 : 2h49m

    Ben merde, je veux voir un film de baston qui dépote, pas binge-watcher l’équivalent d’un mini-série dans une salle de cinéma !

    • Holger, der Kampf geht weiter
      https://www.jungewelt.de/artikel/447203.kino-holger-der-kampf-geht-weiter.html

      Cette critique est plutôt réservée .... alors pas la peine...

      23.3.2023 von Felix Bartels - Es rappelt mal wieder in New York. John Wick, der Ausgestoßene, wird weiter gejagt. Wie anders auch bei einer Reihe von mittlerweile vier Filmen, die per Cliffhanger in den je nächsten Teil weisen? Dabei scheint das am Anfang weder beabsichtigt gewesen zu sein, noch war es für das Publikum absehbar.

      Was 2014 begonnen hatte und damals einfach »John Wick« hieß, ließ sich derart gut an, dass der Gedanke an eine Fortsetzung gar nicht aufkam. Im Grunde verhält sich das nicht anders als bei Ridley Scotts »Alien« (1984). Niemand braucht Fortsetzungen eines perfekten Films. »John Wick« hatte eine abgeschlossene, in sich stimmige Handlung, ein punktgenau etabliertes, daher schnörkelloses Worldbuilding, runde, weil kantige Charaktere, ein Pacing, das sich in jeder Sequenz richtig anfühlte, eine Sprache, die haften blieb, weil sie sparsam, aber nicht geizig mit den Worten verfuhr, und eine homogene Inszenierung auf visueller und auditiver Ebene. Ein Revenge­drama großen Formats, merklich orientiert an Brian Helgelands »Payback« (1999) beziehungsweise dessen Vorlage, John Boormans »Point Blank« (1967): Der geschlagene Held steht wieder auf und nimmt Stück für Stück ein Verbrechersyndikat auseinander.

      Nur war »John Wick« mehr als alle anderen Werke dieses Subgenres getragen von einer stilsicheren und ambitionierten Ästhetik, der Film spielt in einer bizarren Unterwelt, die als paralleles Schattenreich mit ganz eigenen Gesetzen und opulentem Look unwirklich, fast mythisch wirkt.

      Drei Filme später ist von dieser Welt nur der Look geblieben. Die abgeschlossene Handlung des ersten Teils konnte nicht fortgesetzt werden, und fast alle Prämissen, die der erste Teil über die mythische Gaunerwelt gesetzt hatte, wurden im Laufe der Fortsetzungen umgestoßen. So schreibt, wer nicht am Anfang schon einen Plan für mögliche Fortsetzungen hatte. Wer, weil die Kasse ja »kaching!« machen muss, nach jedem Teil rätselt, wie das denn nun irgend weitergehen könnte.

      Die John-Wick-Reihe zeigt sich in dieser Hinsicht ohne jeden Anspruch. Auf die Rachestory des ersten Teils folgte 2017 der zweite mit der Eröffnung der Fluchtstory. Nur wenige Tage nach der Handlung des Urfilms setzt die Geschichte ein. John will sein Auto wieder haben, verärgert die falschen Leute und wird vogelfrei. Von da an geht die Handlung gerade durch alle Teile. Eine Serie im Grunde, keine Filmreihe. Weswegen die Stücke ab der ersten Fortsetzung ehrlicherweise auch gleich »Chapter« heißen. John Wick flieht und flieht und flieht. Leichen pflastern seinen Weg. Dass er kämpfen muss, ist klar, er wäre sonst nicht John Wick. Dass Regisseur Chad Stahelski seit dem zweiten Teil nichts einfällt, als seinen Helden weiter durch die Par­allelwelt des »High Table« zu treiben, macht die Sache unbeschreiblich öde. Retardierende Momente und Set ­Pieces fallen nur deswegen nicht mehr auf, weil in den Teilen zwei bis vier nichts anderes als das noch vorkommt.

      Wenn man diese Missgestaltung aber ignoriert, gehen die Tugenden der Reihe zu würdigen. Die Art, wie Action inszeniert wird, hat sich von Teil zu Teil verändert. Chapter zwei war, was die physische Seite des Plots betrifft, weitgehend am ersten Teil orientiert, John schießt sich mit seiner eigentümlichen, stakkatoartigen Technik für kurze Distanzen durch die Landschaft. Am Ende kommt er auf stattliche 77 Tötungen bei 122 Körpertreffern und einer Trefferquote von 86,52 Prozent, wie Leute mit zu viel Freizeit ausgerechnet haben. Der zweite Teil war more of the same und konnte sich folglich bloß quantitativ steigern. Die Freunde des Killcounts errechneten jetzt: 128 Tötungen bei 242 Körpertreffern und einer Trefferquote von 80,1 Prozent. Wenigstens bei der Quote ließ er nach. Chapter drei fuhr dann wieder etwas runter: 85 Tötungen bei 269 Körpertreffern und einer Trefferquote von 88 Prozent. Allerdings brachte dieser Film ein paar gestalterische Veränderungen.

      John kämpfte in diesem Teil viel mehr mit dem Körper und nutzt, wie man es von Jackie-Chan-Filmen oder zuletzt aus »Bullet Train« (2022) kennt, Gegenstände der jeweiligen Umgebung als Waffe. Die Inszenierung dieses dritten Teils erinnerte phasenweise sehr an ein Ego-Shooter-Spiel, »Call of Duty« insonders, was offensichtlich gewollt war, gerade bei der dünnen Story aber enervierend werden musste. Wer rein physische Ereignisse zwei Stunden lang genießen kann, dürfte sich unterhalten gefühlt haben. Offensichtlich gibt es eine Zielgruppe für dergleichen, und die unterscheidet sich von der, die der erste Film adressiert hatte.

      Chapter vier kehrt zumindest inszenatorisch auf den Pfad des Urfilms zurück. Man sieht wieder mehr ­Shoot­ing und weniger Bücher oder Pferde­hufe im Gesicht feindlicher Profi­killer. Konzediert werden darf auch, dass die Inszenierung der Kampfszenen zum Besten gehört, das man je auf der Leinwand sehen konnte. Eine originelle Auswahl der Schauplätze, eine intelligente Nutzung dieser Orte für die Kampfchoreographien und eine kreative Arbeit mit der Kamera schrauben den Film auf diese Höhe. Die oft prätentiös wirkenden Oneshots, die in jüngeren Actionfilmen dem Ausweis künstlerischer Ambition dienen, werden hier punktuell, dann aber sehr gekonnt eingesetzt. Eine Plansequenz von etwa zwei Minuten, bei der John Wick sich durch ein Gebäude kämpft, wird fingiert, indem die Kamera die Szene aus der Vogelperspektive filmt und die Wände, die die Räume des Gebäudes trennen, dem Verdecken der Schnitte dienen.

      Längere Plansequenzen dürften auch deswegen nicht infrage gekommen sein, weil Keanu Reeves aufgrund von Alter und körperlicher Anlage nicht die Voraussetzungen mitbringt, Kampfszenen auf höchstem Niveau zu spielen. Der Schnitt schafft nicht ganz, das zu kaschieren, aber es stört auch nicht im Gesamteindruck. Dass er John Wick spielen will, solange die Beine ihn tragen, hat Reeves ja mehr als einmal geäußert.

      Und du, John Wick? Siegst du, stirbst du, oder cliffhangerst du dich direkt in den fünften Teil? Kinobesucher wissen mehr. Wie immer das Ende von Chapter vier aber ausfällt, irgendwie scheint festzustehen, dass es ein fünftes geben wird. Schon Rudi Dutschke wusste: Holger, der Kampf geht weiter!

      »John Wick: Chapter 4«, Regie: Chad Stahelski, USA 2023, 170 Min., Kinostart: heute

    • Moi je suis bon public avec John Wick et Atomic Blonde. Mais 2h39 pour un film de baston, faut vraiment qu’ils arrêtent de nous faire des films interminables au motif qu’ils ne savent plus raconter une histoire.

      Le rythme des mini-séries, je crois vraiment que ça joue : même les séries pour lesquelles les gens crient au génie, y’a de ces passages lents, mais lents, tudieu…

    • Mon père arrête pas de râler là dessus : maintenant la plupart des films (pas juste John Wick) font plus de 2h, voire 3h… Avant c’était quelques rares exceptions, mais ya de moins en moins de films qui arrivent à faire une histoire complète avec une fin en moins de 2h.

      Mais effectivement ça ressemble fort à une « concurrence » des séries, qui ont bien plus le temps de faire des histoires plus détaillées, des personnages qu’on a plus le temps de connaitre en profondeur, etc, et du coup les films se rallongent à mort pour pouvoir tenir aussi.

    • @rastapopoulos C’est bien ça. Même une foutaise à la Marvel, avec un scénario de comic-book pour débile profond, il leur faut deux épisodes de 2h30 pour arriver à raconter le truc.

      Je l’ai écrit : quand on s’est maté Les sentiers de la gloire avec ma grande, à la fin j’étais surpris, ça te raconte un truc complet en 1h30, la plupart des personnages sont caractérisés en quelques regards, une phrase, et quand tu subis la scène d’attente de l’exécution puis l’exécution, bon sang tu souffre et ça semble interminable. (Mais du « bon » interminable, du coup. Pas des dialogues explicatifs à ne plus savoir qu’en faire avec des bodybuildés en spandex qui tentent de trouver le sens de la vie.)

  • In Pogromlaune
    https://www.jungewelt.de/artikel/446163.in-pogromlaune.html

    En Allemagne il y a moins de morts et blessés pendant les les manifestations qu’en France. Cest comme ça car les manfestations sont plus petites et les revendications moins fondamentales. Par contre on ne manque pas d’appels au meurtre à demi mots contre des membres de la gauche et de justifications des assassinats commis par les alliés de nos dirigeants dans le monde entier.

    4.3.2023 von Arnold Schölzel - Wer die Heimatfront gefährdet, den knöpfen sich die Profis für Pogromstimmung vor. Was zufällig irgendwann nach Veröffentlichung ihrer Texte oder TV-Schnipsel passiert, gehört nicht zu ihren sogenannten Sorgfaltspflichten. Als zum Beispiel im Dezember 1964 der Mörder von Patrice Lumumba und kongolesische Ministerpräsident vom Regierenden Bürgermeister Westberlins, Willy Brandt (SPD), im Schöneberger Rathaus empfangen wurde, warfen Studenten Eier und Tomaten auf Moïse Tschombé und trugen Transparente mit Aufschriften wie »Keine Blutbäder im Namen der Humanität«. Das richtete sich vor allem gegen den Vietnamkrieg der USA, gegen den in jenem Jahr auch in der BRD Jugendliche mit zunächst noch kleinen Demonstrationen auf die Straßen gegangen waren. Die bundesdeutsche Konzernpresse, allen voran Springer-Blätter, waren wegen der Westberliner Demonstration außer sich und hetzten speziell die Frontstadtbewohner gegen den Protest auf. Der hielt aber jahrelang an und ebbte erst nach dem Amtsantritt Brandts als Bundeskanzler 1969 ab. Am Ende war Benno Ohnesorg tot, Rudi Dutschke niedergeschossen. Den Rest erledigten die Berufsverbote Brandts.

    Kein Vergleich mit dem Beschluss von etwa 50 führenden deutschen Industriellen am 10. Januar 1919, eine »Antibolschewistische Liga« zu gründen und ihr 500 Millionen Mark als Startkapital zu spenden. Kein Vergleich mit dem sozialdemokratischen Vorwärts vom 13. Januar 1919, in dem das Gedicht stand: »Viel Tote in einer Reih – Proletarier! Karl, Rosa, Radek und Kumpanei, es ist keiner dabei, es ist keiner dabei! Proletarier!« Reiner Zufall, dass Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar bestialisch nach Anweisung durch den Volksbeauftragten Gustav Noske (SPD) ermordet wurden. Kein Vergleich?

    Wer sich die Rede des deutschen Blackrock-Statthalters Friedrich Merz (CDU) vom Donnerstag als Oppositionsführer im Bundestag anschaut, wird feststellen: Es wurde gelernt. Sahra Wagenknecht bezeichnete er mitten in der Hasskampagne von Konzern- und Staatsmedien gegen sie und Alice Schwarzer als »zynisch, menschenverachtend und niederträchtig«. Johann Wadephul (CDU) fügte noch »Demokratiefeindlichkeit« und »antisemitisch« hinzu und bezog sich auf einen »klugen Journalisten«, der das herausgefunden habe. Die Symbiose ähnelt der von einst. Wadephul meinte Markus Decker, der gegenwärtig für das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) arbeitet. RND gehört dem Madsack-Konzern, dessen größte Kommandistin die Medienbeteiligungsgesellschaft DDVG der SPD ist.

    Decker ist subtiler als der Vorwärts damals. Er teilt zum Beispiel wie 2020 lediglich mit: »Bei vielen Grünen wird Sevim Dagdelen zu den ›Irren‹ gezählt.« Als US-Präsident Donald Trump vor gut drei Jahren mal wieder mit dem Weltfrieden durch einen Raketenschlag auf Bagdad, bei dem hochrangige iranische und irakische Friedensunterhändler ermordet wurden, spielte, war von Decker zu lesen, der damalige Linke-Abgeordnete Alexander Neu habe von »notorischen Alleingängen und Rechtsbrüchen der USA« gesprochen, Dagdelen sei der Meinung, die Bundesregierung müsse nun gegen »die US-Kriegspolitik« aktiv werden. Decker meinte, das sei »nicht falsch«, aber: »Nur sind die Statements mal wieder gnadenlos einseitig, und die Inszenierung als Friedenspartei ist mal wieder gnadenlos unglaubwürdig.« Die US-Überfälle auf den Irak, bei denen Millionen starben, erwähnte Decker bei dieser Gelegenheit gnadenlos vielseitig nicht.

    Insofern also nichts Neues bei ihm und seinesgleichen? Das leichte Hinwegschreiben über Leichen, wenn es sich um Opfer US-amerikanischer oder israelischer Angriffe handelt, ist erste Berufspflicht. Mit politischem Mord hatten sie noch nie etwas zu tun.

    #Allemagne #presse #liberté_d_expression #USA #assassinat #guerre

  •  »Die Zahl der Morddrohungen hat deutlich abgenommen« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/446161.geschichte-der-ddr-die-zahl-der-morddrohungen-hat-deutlich-abgenomm

    Le site web de documentation et d’autocritique des anciens fonctionnaires de la STASI sera hors ligne à partir de fin avril. Il ne reste alors que peu de temps pour télécharger leurs publications

    4.3.2023 von Nico Popp - Über volle Hosen, Querschnittswissen und die Arbeitsbilanz des Insiderkomitees ehemaliger Mitarbeiter des MfS. Ein Gespräch mit Wolfgang Schmidt

    Sie haben im Januar angekündigt, dass die Internetseite des Insiderkomitees zur kritischen Aneignung der Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit Ende April abgeschaltet wird. Welche Aufgabe hatte diese Internetseite, und was war oder ist das dahinterstehende Insiderkomitee?

    Das Komitee hat sich 1992 als Zusammenschluss ehemaliger Mitarbeiter des MfS gegründet. Das war eine Reaktion auf die damalige Debatte über die Staatssicherheit, die hysterische Züge angenommen hatte. Eine Riesenorganisation war unser Kreis aber nicht. Es waren maximal 100 Mitglieder und Sympathisanten, die sich einigermaßen regelmäßig getroffen und verständigt haben. Wir hatten am Anfang große Schwierigkeiten, Räume für Zusammenkünfte und Veranstaltungen zu finden. Überall hatte man die Hosen gestrichen voll. Ausgeholfen hat uns dann ohne viele Worte das kurdische Kulturhaus in Berlin-Oberschöneweide. Das Komitee war zunächst ein eingetragener Verein und hat sich später der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde als Arbeitsgemeinschaft angeschlossen. Viele aus dem Kreis der Gründer sind inzwischen verstorben oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr aktiv. Seit 2006 existiert das Insiderkomitee nur noch als informeller Zusammenschluss. Der Internetauftritt, um den ich mich gekümmert habe, ist gewissermaßen als letzter Tätigkeitsnachweis bis jetzt zugänglich geblieben.

    Kannten sich die ehemaligen Mitarbeiter des MfS, die sich da 1992 zusammengefunden haben, schon vor 1989?

    Nicht jeder kannte jeden, aber es gab Beziehungen untereinander, die es in der damaligen komplizierten Situation ermöglicht haben, sich zu finden und zusammenzuschließen.

    Was hatte sich das Komitee damals vorgenommen?

    Wir haben seinerzeit bewusst das Wort »kritisch« in den Namen hineingenommen, weil wir der Überzeugung waren, dass die schreckliche Niederlage von 1989 auch Ursachen in der Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit gehabt haben muss. Dass hier Fehler gemacht worden sind, die es kritisch zu betrachten gilt. Uns war auch klar, dass alle Versuche, sich dieser Geschichte mit der alleinigen Absicht zu nähern, zu beschönigen und zu rechtfertigen, wenig glaubwürdig sind und kaum Resonanz finden werden. Es gab damals viele nachdenkliche und selbstkritische Diskussionen – bis zu dem Punkt, dass es in den eigenen Reihen die Kritik gab, wir würden nun auch noch das auf den Tisch legen, was die Gegenseite noch gar nicht wisse. Nach und nach hat sich dann aber doch die Einsicht durchgesetzt, dass wir in der Auseinandersetzung mit den unablässigen Verleumdungen keinen anderen Verbündeten haben als die Wahrheit und dass es, weil die Akten ja größtenteils vorliegen, keinen Zweck hat, Dinge zu verschweigen. Überzeugt hat auch unsere strikte Weigerung, Angaben zu ehemaligen inoffiziellen Mitarbeitern des MfS preiszugeben. Wir haben auf diese Weise über den Kreis der etwa 100 Leute hinaus einen ständigen Austausch mit Mitgliedern anderer Zusammenschlüsse und Organisationen erreicht. Unsere Publikationen sind auf der Internetseite dokumentiert, man kann sie also bis zur Abschaltung noch herunterladen.

    Ist mit dem angekündigten Ende der Webseite auch das Ende der Aktivitäten des Insiderkomitees gekommen?

    Wir regeln gewissermaßen gerade unseren Nachlass. Nachwuchs für unseren Zusammenschluss gibt es nicht, denn das müsste ja jemand sein, der oder die ein Mindestmaß an Überblicks- und Querschnittswissen über das MfS hat. Der Kreis der Leute, die dieses Wissen haben, wird immer kleiner. Es kam ja erst ab einer bestimmten Leitungsebene ein komplexes Wissen über das MfS zustande. Und diese Generation ist inzwischen arg gebeutelt. Von der Führungsspitze des Ministeriums lebt niemand mehr, und von den 15 letzten Leitern der Bezirksverwaltungen leben nur noch zwei. Ich bin im Gespräch mit befreundeten Organisationen, um sicherzustellen, dass ein Teil der Inhalte unserer Internetseite auf deren Internetseiten übernommen wird.

    Sie waren im Zusammenhang mit der Seite über die Jahre mehrmals in rechtliche Auseinandersetzungen verwickelt. Worum ging es dabei?

    Maßgeblicher Initiator dieser Dinge war der hinlänglich bekannte Hubertus Knabe, damals Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Er hat das im Unterschied zu mir auf Staatskosten betrieben. Es begann damit, dass ich ihn in einem Artikel als »Volksverhetzer vom Dienst« bezeichnet habe, nachdem er in einer Thüringer Zeitung Mitarbeiter des MfS mit dem faschistischen Mörder Josef Blösche gleichgesetzt hatte. Das war der Gipfel der Unverschämtheit. Meine Formulierung ist dann gerichtlich als von der Meinungsfreiheit gedeckt anerkannt worden, aber diese Auseinandersetzung hat sich über mehrere Jahre hingezogen, und für eine andere Äußerung in diesem Zusammenhang wurde ich zu einer Geldstrafe verurteilt. Später hat mich Knabe – auffälligerweise eine Woche nach Amtsantritt eines Justizsenators von der CDU – angezeigt wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, weil ich Johann Burianek von der sogenannten Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit einen »Angehörigen einer terroristischen Vereinigung« genannt hatte. Das war für Knabe ein rotes Tuch. Am Ende ist das über sechs Jahre bis zum Bundesverfassungsgericht gegangen, das entschieden hat, dass auch das von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Das war eigentlich die wichtigste Justizsache. Durchgestanden habe ich das nur, weil ich viele Menschen an meiner Seite hatte, die mich unterstützt haben. Den Ablauf und die einzelnen Urteile kann man auf der Internetseite nachlesen.

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    Die von Ihnen veröffentlichte Begründung für die Abschaltung der Internetseite dürfte manche überraschen. Da steigen Sie ein mit dem Befund, dass das Thema MfS »erschöpft« sei. Was meinen Sie damit?

    Es wird immer mal wieder das eine oder andere ausgegraben werden. Aber es gibt schon lange keine substantiell neuen Entdeckungen mehr. Seit Jahren handelt es sich bei den Veröffentlichungen zum Thema fast durchweg um den dritten, vierten oder fünften Aufguss von längst bekannten Sachverhalten und Debatten. Die ursprüngliche Idee der offiziellen Aufarbeitung, dass mit der Öffnung der Akten des MfS unsagbare Verbrechen aufgedeckt werden, hat sich längst in aller Stille erledigt. Rund 30.000 Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Mitarbeiter des MfS führten zu ganzen zwei Verurteilungen zu Haftstrafen. Sogar der ehemalige Minister für Staatssicherheit musste für eine Tat aus dem Jahr 1931 vor Gericht gestellt werden, weil man keinen anderen Ansatzpunkt fand. Für alle Hauptvorwürfe gegen das MfS – Mord, Auftragsmord, systematische Folter – hat man keine Belege gefunden, obwohl in einer eigens eingerichteten Behörde mit riesigem Aufwand jahrzehntelang jedes Blatt Papier umgedreht wurde. Da ist die Luft raus, auch wenn natürlich klar ist, dass das, solange Leute davon leben, immer wieder in irgendeiner Form vorgebracht werden wird.

    Eine politische Funktion hat das ja weiterhin.

    Genau. Es geht am Ende gar nicht um das MfS. Man schlägt den Sack und meint den Esel. Es geht ganz einfach darum, die DDR zu reduzieren auf die Formel »Mauer und Stasi«. Und solange das funktioniert – und es funktioniert ziemlich gut – werden viele Menschen nicht darüber nachdenken, dass die DDR mit ihren emanzipatorischen Ansätzen in vielen gesellschaftlichen Feldern und als Staat des Friedens, als Staat ohne Ausbeutung, ohne Arbeitslosigkeit, ohne Geldgier als hauptsächliches Antriebsmittel, ohne Ausplünderung anderer Länder eine Alternative zu dieser Gesellschaft gewesen ist. Das fällt alles unter den Tisch, sobald jemand »Stasi« ruft.
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    Frank Schumann

    »Nachzulesen, wie wir das sehen, ist also jederzeit möglich«: Wolfgang Schmidt

    Dann ist doch offenbar noch eine ganze Menge zu tun. Dennoch schreiben Sie in Ihrer Erklärung, dass bereits 2008, als die regelmäßige Veranstaltungsreihe des Insiderkomitees eingestellt wurde, im Grunde »alles gesagt« war.

    Wir haben das Thema über die Jahre in allen uns wesentlich erscheinenden Aspekten ausgeleuchtet – häufig auch mit Gästen, die sich als Opfer des MfS verstanden haben, oder mit Wissenschaftlern. Viele Themen sind mehrfach behandelt worden. Vieles wiederholte sich dann, ohne dass wir immer zu einer einheitlichen Auffassung gekommen wären. Aber die Fakten und die großen Zusammenhänge zu den wesentlichen Fragen lagen bei uns immer wieder auf dem Tisch. Neue Perspektiven zeichneten sich schon damals nicht mehr ab. Selbstverständlich kann man, wie das ja die ehemalige Unterlagenbehörde in ihren Veröffentlichungen gemacht hat, noch endlos Untersuchungen zu nachrangigen Nischenthemen produzieren, etwa zur Arbeit des MfS an der Medizinischen Hochschule in Erfurt. Substantiell neue Erkenntnisse kommen dabei aber regelmäßig nicht mehr heraus.

    Was ich aus Ihrer Erklärung herauslese, ist zumindest eine Tendenz zu der Position, dass im Grunde nur diejenigen, die das schon angesprochene Querschnittswissen durch die Praxis erworben haben, sich ein substantielles Urteil über das MfS erlauben können. Erschweren Sie dadurch nicht einer neuen Generation von Forschern, die vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren ganz andere Fragen zum Thema »Sicherheit« in der DDR stellt, den Anschluss an Perspektiven, wie sie etwa das Insiderkomitee vertreten hat?

    Das Überblickswissen ist ein zentraler Aspekt der kritischen Auseinandersetzung mit dem MfS, und das geht mit der Generation derjenigen, die zuletzt die Leitungsebene stellten, unweigerlich verloren. Auch der normale Mitarbeiter war ja angehalten, nur das zu wissen, was für sein unmittelbares Arbeitsgebiet von Bedeutung war. Aber wir haben unser Wissen und unsere Erfahrungen hinterlassen – in Form von Sachbüchern und in Form von Erinnerungsliteratur. Es gibt da mittlerweile eine ganze Bibliothek. Nachzulesen, wie wir das sehen, ist also jederzeit möglich. Diese Arbeit ist getan, und das bleibt.

    Gleichzeitig konstatieren Sie, dass eine Versachlichung der Debatte über das MfS nicht mehr zu erwarten ist. Wenn das der Sachstand ist, dann ist doch die Aufgabe der kritischen Aneignung, der Sie und andere sich vor über drei Jahrzehnten gestellt haben, nicht erfüllt – es sei denn, man sagt, gut, wir haben unsere Erinnerungen aufgeschrieben, wir haben Wissen gesichert, aber in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung haben wir eine vollständige Niederlage erlitten und räumen jetzt das Feld.

    Das kann man so sehen, aber überraschend ist das natürlich nicht. Dass wir Aussichten haben, uns gegen diesen riesigen, mit Personal und Geld überreichlich ausgestatteten Apparat in einer fast durchweg feindseligen Medienlandschaft durchzusetzen, haben wir auch 1992 nicht angenommen. Wir haben auch nicht angenommen, dass wir mit guten Argumenten und Fakten die Gegenseite davon abbringen werden, die DDR und das MfS zu verteufeln. Es ist am Ende einfach eine Frage der Selbstachtung gewesen, dass wir uns öffentlich positioniert haben.

    Sie betonen in der Erklärung, dass sich die juristische Verfolgung ehemaliger MfS-Mitarbeiter als »Flop« erwiesen habe. Und doch werden, mal ganz abgesehen von den großen Linien der Geschichtspolitik, etwa von der Kulturindustrie unverdrossen weiter die lächerlichsten Klischees reproduziert. Vor ein paar Monaten erst ging eine Serie über eine »Stasi-Killerin« an den Start. Wie kann man das erklären?

    Das politische Interesse an diesem Zeug ist grundsätzlich gleichgültig gegenüber den Fakten. Im Grunde ist das ein Selbstläufer geworden. Und das reichte und reicht weit hinein in linke Kreise, etwa seinerzeit in die PDS und heute in die Linkspartei. Am Anfang der Geschichte der PDS stand 1990 ja unter anderem auch die Idee, dass, wenn das MfS als Prügelknabe herhalten muss, man selber ein bisschen weniger abkriegt.

    Hätte das auch anders laufen können? Haben Zusammenschlüsse wie der Initiativkreis vielleicht Fehler gemacht, die mögliche Verbündete verprellt haben?

    Für uns würde ich sagen, dass wir gar keine anderen Möglichkeiten hatten als die, die wir genutzt haben. Wir hatten auf der politischen Ebene von Anfang an nahezu keine Verbündeten. Beim Thema DDR ist das schon sehr schwierig, und beim Thema MfS sind sofort alle Schotten dicht. Dazu kommt seit einigen Jahren auch ein verbreitetes Desinteresse. Für viele Zeitgenossen ist die Geschichte der DDR inzwischen so weit weg wie der Bauernkrieg. Mehr und mehr haben die Leute auch andere Probleme, die mit der DDR gar nichts mehr zu tun haben: Krieg, Teuerung, fehlende Wohnungen, explodierende Mieten, Umweltkrise.

    Eine interessante Verschiebung der Perspektive hat es in den vergangenen Jahren bei Akteuren der sogenannten Aufarbeitung gegeben. Mindestens zwei Jahrzehnte lang gab es auf allen Ebenen eine ausgesprochene Konzentration auf das »Stasi«-Thema. Bis heute ist ja zum Beispiel die Geschichte der SED viel weniger gründlich erforscht als die der Staatssicherheit. Zuletzt mehrten sich allerdings die Stimmen, die mehr oder weniger offen darüber räsonieren, dass diese Fixierung auf die Staatssicherheit ein Fehler gewesen sei, weil dadurch – das ist offensichtlich die Überlegung – die »restliche« DDR nicht schwarz genug gemalt wurde.

    Uns ist auch aufgefallen, dass sich da manches verschoben und – was uns betrifft – abgemildert hat. Ich bin mir aber sicher, dass diese Leute das, was sie jahrzehntelang mit gewaltigem Ressourceneinsatz verbreitet haben, nicht mehr einfangen können, auch wenn einige – keineswegs alle – sehen, dass sie da einen Fehler gemacht haben. Was mit diesen Akzentverschiebungen zumindest zum Teil im Zusammenhang stehen dürfte, ist die deutlich abnehmende Zahl von Morddrohungen und Schmähungen, die bei mir einlaufen. Davon habe ich einen ganzen Hefter voll. Natürlich ist inzwischen auch die nach 1990 noch sehr regsame Generation regelrechter Faschisten und hemmungsloser Antikommunisten, die von einem auch persönlichen Hass auf die DDR geprägt war, weitgehend abgetreten.

    Wenn Sie nach drei Jahrzehnten Bilanz ziehen: Hätten Sie sich gewünscht, dass sich mehr ehemalige MfS-Mitarbeiter an solchen Initiativen wie Ihrer beteiligt hätten? Viele haben sich nach 1989 gänzlich ins Privatleben zurückgezogen.

    Es wäre selbstverständlich besser gewesen, wenn wir mehr gewesen wären. Dass das nicht so war, hatte allerdings schwerwiegende Gründe. Was für viele SED-Mitglieder galt, galt auch für nicht wenige ehemalige Mitarbeiter des MfS: Die Niederlage von 1989 kam für sie gänzlich unerwartet und blieb unerklärlich. Oft hatte das den Rückzug ins Private zur Folge. Dazu kam in den ersten Jahren nach 1990 die Sorge über eine mögliche Verfolgung durch die Justiz und – vielleicht noch schwerwiegender – diese wirklich alltägliche öffentliche Denunziation des MfS. Viele waren aus Sorge um ihre Familien nicht bereit, sich öffentlich zu äußern. Und natürlich mussten alle, wenn sie nicht unmittelbar vor dem Eintritt ins Rentenalter standen, unter erschwerten Bedingungen beruflich neu anfangen. Es war also wirklich eine sehr schwierige Situation, in der wir uns damals zusammengesetzt und gesagt haben, wir müssen uns jetzt endlich einmal zu diesen unentwegt verbreiteten Lügen äußern.

    Wolfgang Schmidt, geboren 1939 in Plauen, war im Ministerium für Staatssicherheit zuletzt Oberstleutnant und Leiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Hauptabteilung XX

    #DDR #Stasi #histoire

  • Post für den Boss
    https://www.jungewelt.de/artikel/446496.arbeitskampf-post-f%C3%BCr-den-boss.html

    Deutsche Post présente un nouveau résultat record à ses actionnaires. Les salariés votent à une large majorité contre l’offre tarifaire. L’entreprise capitaliste qu’est devenu le service d’état allemand poursuit l’optimisation de son résultat en bourse à travers la réduction des services et le travail précaire.

    cf. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Post_AG

    10.3.2023 von Sebastian Edinger - Deutsche Post präsentiert Aktionären weiteres Rekordergebnis. Beschäftigte stimmen mit großer Mehrheit gegen Tarifangebot

    Die strikte Unterordnung der Geschäftspolitik unter Aktionärsinteressen lässt bei der Deutschen Post DHL Group trotz Rekordgewinnen kaum Spielräume für anständige Gehälter. Entsprechend war die Konzernführung in drei Verhandlungsrunden mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi nicht bereit, ein Angebot vorzulegen, das die inflationsbedingten Reallohnverluste der Beschäftigten ausgleicht. Die Zusagen der Kapitalseite seien »weit von unseren Forderungen entfernt«, hatte Verdi-Verhandlungsführerin Andrea Kocsis das Scheitern der Tarifgespräche kommentiert.

    Auf deutliche Kritik seitens der Gewerkschaft waren insbesondere die im Angebot des Unternehmens vorgesehene lange Laufzeit sowie die geringe Entgelterhöhung im kommenden Jahr gestoßen. Das erhöhe »das Risiko weiterer Reallohnverluste«, so Kocsis. Verdi hatte für die 160.000 tarifgebundenen Postangestellten ein Lohnplus von 15 Prozent bei einer Laufzeit von zwölf Monaten gefordert. Das Angebot des Konzerns ist kompliziert, im Durchschnitt bedeutet es eine nominelle Gehaltserhöhung um 9,9 Prozent bei einer Laufzeit von 24 Monaten.

    Doch die Post-Belegschaft ist kampfbereit: Am Donnerstag wurde das Ergebnis einer Urabstimmung präsentiert, in der sich 85,9 Prozent gegen das Angebot der Konzernführung und damit für einen unbefristeten Streik ausgesprochen haben. Das Resultat zeige »die Entschlossenheit unserer Mitglieder, für ein gutes Tarifergebnis zu kämpfen«, sagte Kocsis. Und der Druck zeigt Wirkung: Die Post forderte Verdi zu weiteren Verhandlungen auf, die am Sonnabend beginnen sollen. Dem stimmte die Gewerkschaft zu. Klar ist nun aber auch: Wenn es keine substantiellen Fortschritte gibt, stehen längere Arbeitsniederlegungen bevor.

    Zu verteilen gäbe es mehr als genug, die Konzernkassen sind dank regelmäßiger Preissteigerungen und eines immer weiteren Rückbaus des Services – etwa durch Filialschließungen und die Demontage von Briefkästen – gut gefüllt. Am Donnerstag wurde für das vergangene Jahr ein neuer Umsatzrekord von 94,4 Milliarden Euro vermeldet. Damit »konnte der Konzern seine Bestmarke aus dem Vorjahr um 15,5 Prozent übertreffen«, heißt es in einer Mitteilung. Auch ein neuer Gewinnrekord, der vierte in Folge, konnte verbucht werden: Das operative Ergebnis (Ebit) übertraf mit 8,4 Milliarden Euro jenes aus dem Vorjahr um 400 Millionen und lag höher als je zuvor.

    Dass von den Erträgen des Rekordjahres 2022 nicht die Beschäftigten, sondern in erster Linie die Aktionäre profitieren sollen, stellte die Konzernführung am Donnerstag ebenfalls ein weiteres Mal klar. So soll auf den kräftigen Anstieg der Dividende im vergangenen Jahr von 1,35 auf 1,80 Euro nun ein weiterer Zuwachs auf 1,85 Euro folgen. Zudem wurde angekündigt, das laufende Aktienrückkaufprogramm um eine Milliarde Euro zu erhöhen, was den Kurs der Wertpapiere zusätzlich in die Höhe treiben wird.

    Auch über das laufende Jahr zeigt sich die Konzernführung hocherfreut und peilt ein Ebit von sechs bis sieben Milliarden an, für 2025 wurden acht Milliarden als Ziel formuliert. Rückenwind kommt von der Bundesregierung, die gerade an einer »Modernisierung« des Postgesetzes tüftelt. Im Kern geht es darum, einen weiteren Rückbau der Serviceleistungen zu ermöglichen, indem die Mindestanforderungen an den »Universaldienstleister« – etwa zur Regelmäßigkeit von Briefzustellungen und Briefkastenleerungen – gedrückt werden.

    #travail #grève #Allemagne #postes

  • Kreatives Zählen in Berlin
    https://www.jungewelt.de/artikel/446243.friedensbewegung-kreatives-z%C3%A4hlen-in-berlin.html

    Les estimations du nombre de participants à la manifestation berlinoise pour une trève et des pourparlers en Ukraine varient entre 10.000 (dans l’émission de 19:30 de la télévision locale) et 50.000 par les organisateurs. Le journal Berliner Zeitung parle d"un chiffre au dessus de 35.000. La police est à l’origine des estimations basses. Ses porte-paroles ont apparament gonflé les chiffres concernant la manfistation en faveur de livraisons d"armes pour le conflit. Va savoir pourquoi

    25.2.2023 von Nico Popp - Eine korrekt eingestellte politische Brille hilft, beim Zählen von Demonstrationsteilnehmern auf die jeweils nachgefragten Größenordnungen zu kommen. Die Expertise der Berliner Polizei in diesem Geschäft dürfte in der Bundesrepublik konkurrenzlos sein. Eine Demonstration für Waffenlieferungen und eine Fortsetzung des Krieges in der Ukraine bis zu einem »Sieg« Kiews, die am späten Freitag nachmittag mit rund 7.000 Menschen (darunter die Parteispitze der Grünen und SPD-Chefin Saskia Esken) von der Karl-Marx-Allee bis zum Brandenburger Tor gezogen war, schätzte die Berliner Polizei nach oben abweichend auf 10.000 Teilnehmer. Für die wesentlich größere Kundgebung im Anschluss an das von über 600.000 Menschen unterzeichnete »Manifest für Frieden«, die am Samstag nachmittag stattfand und deren Organisatorinnen Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer sich gegen eine weitere »Eskalation der Waffenlieferungen« sowie für diplomatische Initiativen zur Beendigung des Krieges aussprachen, nannte die Polizei 13.000 Teilnehmer. Sie »verschätzte« sich damit einmal mehr deutlich – diesmal allerdings nach unten.

    Dabei schien die Polizei vor Ort den starken Zustrom zu der Kundgebung durchaus zur Kenntnis zu nehmen. Schon gegen 14 Uhr ließ sie ankommende Teilnehmer nicht mehr durch den nördlichen Teil des Tiergartens auf direktem Weg zum Ort der Kundgebung laufen, sondern schickte sie auf den Umweg über die Yitzhak-Rabin-Straße zur Straße des 17. Juni. Ein dort eingesetzter Polizist begründete das auf Nachfrage damit, dass es bereits »zu voll« sei. Am S- und U-Bahnhof Brandenburger Tor hielten zu diesem Zeitpunkt mit Verweis auf die Überfüllung keine Züge mehr. Dennoch nannte die Berliner Polizei im Anschluss die auffällig niedrige Zahl von 13.000 Demonstranten, die eine Absperrung der Zugangswege bzw. die Sperrung des Bahnhofs gar nicht nötig gemacht hätte. Bis 14 Uhr wollte die Polizei nach eigenen Angaben gar nur 5.000 Teilnehmer gezählt haben.

    Auch in anderer Hinsicht war die Polizeikommunikation irreführend: Unter Berufung auf die Polizei verbreitete etwa die Nachrichtenagentur dpa, dass sich »eine Gruppe linker Gegendemonstranten« eine »lautstarke Auseinandersetzung« mit Jürgen Elsässer, Herausgeber des rechten Compact-Magazins, geliefert habe. Wurde so der Eindruck erweckt, als sei Elsässer als akzeptierter Teilnehmer der Wagenknecht-Schwarzer-Kundgebung von »Gegendemonstranten« konfrontiert worden, war es in Wirklichkeit so, dass Elsässer sofort nach seinem Auftauchen von antifaschistischen Teilnehmern der besagten Kundgebung gleichsam eingekesselt wurde. Der Bitte der Versammlungsleitung, Elsässer zu entfernen, entzog sich die Polizei.

    Dem Augenschein vor Ort nach dürften es am Samstag mindestens 35.000 Menschen gewesen sein, die bei leichtem Schneefall und Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt dem Aufruf der Bundestagsabgeordneten Wagenknecht und der Publizistin Schwarzer gefolgt waren. Die Veranstalter nannten 50.000. An einer Gegenkundgebung aus dem Spektrum ukrainischer Nationalisten und ihrer Unterstützer an der Ebertstraße gegenüber der US-Botschaft beteiligten sich etwa 30 Personen, an einer weiteren auf dem Pariser Platz etwa 10.

    Die Kundgebung am Samstag erinnerte nach Zusammensetzung und Erscheinungsbild von ferne an die Friedensbewegung der 1980er Jahre. Parteifahnen waren – abgesehen von vereinzelten Flaggen der Partei Die Linke – keine zu sehen, dafür umso mehr Symbole der Friedensbewegung in allerlei Varianten. Die große Mehrheit der Teilnehmer war ganz ohne Fahnen und Plakate gekommen – ein Indiz dafür, dass Wagenknecht und Schwarzer hier tatsächlich eine relativ breite Mobilisierung gelungen ist. Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass die intensiven Bemühungen im Vorfeld, die Kundgebung als »Querfront«-Veranstaltung zu denunzieren, am Ende viele Menschen ferngehalten haben. Auch Teile von Wagenknechts Partei bis hinauf zur Bundesspitze hatten sich aktiv demobilisierend betätigt.

    Wagenknecht sagte bei der Kundgebung unter lautem Beifall, dass man nun sehen könne, »wie viele wir sind«. »Wir fangen jetzt auch an, uns zu organisieren«, kündigte sie an. Das Land brauche endlich wieder eine starke Friedensbewegung. Bei Teilen der politischen und medialen Öffentlichkeit sei nach der Veröffentlichung des »Manifests für Frieden« »eine regelrechte Hysterie ausgebrochen« – gipfelnd in dem Versuch, die Initiatoren »in die Nähe der extremen Rechten zu rücken«. »Seit wann ist der Ruf nach Frieden, der Ruf nach Diplomatie und Verhandlungen rechts« und »Kriegsbesoffenheit links«, fragte sie in diesem Zusammenhang. Einmal mehr betonte Wagenknecht, dass »Neonazis und Reichsbürger« auf dieser Friedenskundgebung nichts zu suchen hätten; das verstehe sich von selbst.

    Politisch gehe es darum, das Leid und das Sterben in der Ukraine zu beenden. Die Alternative zu einem Verhandlungsangebot an Moskau sei ein »endloser Abnutzungskrieg«. Auch Putin müsse bereit sein zu Verhandlungen und Kompromissen. Die Ukraine dürfe kein »russisches Protektorat« werden. Weiter gehe es darum, die wachsende Gefahr einer Ausweitung des Krieges und einer Eskalation zum Atomkrieg zu bannen. Wer die Gefahr eines nuklearen Infernos in Kauf nehme, stehe »nicht auf der richtigen Seite der Geschichte«. Namentlich griff Wagenknecht Außenministerin Annalena Baerbock, die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann und den Grünen-Abgeordneten Anton Hofreiter an. Viele Teilnehmer antworteten mit »Baerbock muss weg«-Sprechchören. Bundeskanzler Scholz warf Wagenknecht vor, »regelmäßig vor den Kriegstrommlern einzuknicken«.

    Alice Schwarzer nannte es in ihrem Redebeitrag »durchaus richtig, den von Russland brutal überfallenen Ukrainern mit Waffen zur Seite zu stehen«. »Nach einem Jahr Tod und Verwüstung« sei es nun aber richtig, »nach dem Ziel dieses Krieges zu fragen und nach seiner Verhältnismäßigkeit«. Sie habe im vergangenen Jahr viel über Panzer gelernt – von Redakteuren, »die in der Regel Panzer nur aus Computerspielen kennen«. Was bei diesen Berichten fehle, seien »die Leichen«.

    Der ehemalige Bundeswehr-General Erich Vad forderte »ein Ende der Kriegsrhetorik in Deutschland«, ein Ende der militärischen Eskalation und den Beginn von Verhandlungen. Der von Russland ausgelöste völkerrechtswidrige Krieg sei zu einem Abnutzungskrieg geworden, in dem es keine »vernünftige« militärische Lösung mehr gebe.

    Schwarzer sprach am Abend gegenüber dpa von einem »gewaltigen Erfolg«. »Es war eine so friedliche und fröhliche Stimmung. Keine parteigebundene Stimmung, keine Sektenstimmung. Da waren einfach Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die aus allen Ecken Deutschlands angereist waren, um ein Zeichen zu setzen«, erklärte die Publizistin.

  • Eine zweite Front?
    https://www.jungewelt.de/artikel/445653.eine-zweite-front.html

    25.2.2023 von Reinhard Lauterbach - Einstweilen sind es Behauptungen, die beide Seiten gegeneinander in Stellung bringen: Moskau gibt an, dass auf ukrainischer Seite eine False-flag-Operation gegen die russischen Truppen in Transnistrien vorbereitet werde. Kiew hingegen spricht davon, dass entweder von transnistrischem Boden aus ein Angriff auf die Ukraine vorbereitet werde oder eine »Destabilisierung von Moldau«. Was die prowestliche Regierung in Moldau dazu beizutragen hat, ist überhaupt lächerlich: Ihr Geheimdienstchef fabulierte über einen angeblichen russischen Plan, von Belarus aus – über mehr als 500 Kilometer – nach Transnistrien vorzustoßen und für diesen Angriff die großen Munitionsvorräte dort – die es dann noch gar nicht in der Hand hätte – zu nutzen. Also mit einem Wort: Bullshit.

    Dass Russland von Transnistrien aus einen Angriff auf die Ukraine planen sollte, ist auch äußerst unwahrscheinlich. Seine Truppenanzahl dort ist im unteren vierstelligen Bereich, die Ausrüstung auf spätsowjetischem Niveau, Nachschubmöglichkeiten gibt es nicht, insbesondere nicht an Benzin, die Truppe wäre also nicht mobil. Und es gäbe praktisch keine Möglichkeit, sie aus Russland zu versorgen, ohne einen vorherigen erfolgreichen Angriff auf Odessa. Der ist 2022 gescheitert, und es gibt keinen Anlass zu der Annahme, dass das jetzt anders sein könnte. Mit anderen Worten: Noch mal Bullshit.

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    Richtig ist dagegen, dass die Ukraine ein Interesse hätte, das Transnistrien-Problem im Schatten der militärischen Stagnation an der Hauptfront ein für allemal zu lösen. Militärisch wäre das vermutlich auch kein Problem. Nur, dass die politische Zustimmung aus Chisinau hierfür erforderlich wäre, um das Stigma des Aggressorstaates Ukraine zu vermeiden. Um diese Zustimmung wirbt Kiew derzeit. Aber sie hängt davon ab, ob die prowestliche Mannschaft in Moldau davon ausgehen kann, sich nachher an der Macht zu halten. Bei einer »Reintegration« Transnistriens wären jedoch kurzfristig einige hunderttausend »prorussisch« gestimmte Wähler zu verdauen, und das könnte das Gleichgewicht zu Ungunsten der prowestlichen Regierung verschieben. Wahlen gehen in Moldau traditionell knapp aus, soziales Elend fällt immer auf die gerade Regierenden zurück. Außerdem hat Moldau bisher davon profitiert, dass es an der selben Gasleitung hängt wie Transnistrien, und dass es von dort, erzeugt aus unbezahltem russischen Gas, seinen Strom bezieht. Fiele Transnistrien, fiele auch dieser Vorteil. Hinzu kommt, dass, wie auch Kiewer Analysen nüchtern einräumen, sich die moldauische Gesellschaft mit dem Status quo arrangiert hat: regen kleinen Grenzverkehr und größeres Schmuggelgeschäft in beide Richtungen inklusive. Es ist die Ukraine, die daran interessiert ist, den Status quo zu verändern. Falls sich demnächst dort etwas tut, sollte man sich daran erinnern.

  • CDU hat die Wahl
    https://www.jungewelt.de/artikel/445288.wahl-in-der-hauptstadt-cdu-hat-die-wahl.html

    Pour le quotidien communiste Junge Welt le résultat des élections berlinoises est l’expression d’une catastrophe permanente. L’auteur du journal n’a pas tort quand il accuse tous les partis de l’actuel gouvernement municipal d"être responsables d’une politique de privatisation aux conséquences néfastes pour la majorité des berlinoises et berlinois. Sa conclusion : l’élimination du parti libéral FDP du parlement municipal est l’unique résultat positif des élections d’hier.

    Arnold Schölzel - Den Privatisierungswahn haben alle fünf Parteien, die jetzt ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen, gemeinsam – Abstufungen eingeschlossen

    Ein »sehr gutes Ergebnis« seien die 12,5 Prozent bei 1,6 Prozent Verlust für seine Partei Die Linke, meinte Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch kurz nach Schluss der Wahllokale. Sein Maßstab: Im vergangenen Jahr scheiterte Die Linke bei vier Landtagswahlen, in Berlin konnte sie sich auf eine offenbar schmerzfreie Stammwählerschaft stützen. In der städtischen Koalition bestand ihre Funktion darin, der mit CDU und FDP liebäugelnden Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) den Rücken freizuhalten. Das Ja von fast 60 Prozent der Wähler am 26. September 2021 für die Enteignung war eine Ohrfeige für die in Berlin seit Jahrzehnten regierende Kombination aus Berliner Baumafia und Sozialdemokratie und ihre hochfliegenden Pläne, international eine große Nummer zu werden. Die Entscheidung musste entschärft und wirkungslos gemacht haben ­– das wurde mit der Linken geschafft. Eine beachtliche Leistung an Demagogie, die an das Verscherbeln städtischer Wohnungen mit ihrer Hilfe vor fast 20 Jahren heranreicht.

    In Hamburg versteht sich die SPD als politischer Arm der einheimischen Milliardäre ­– Steuerbetrug hinterlässt weniger Spuren als das Berliner sozialdemokratische Hantieren mit Zement und Mörtel, ohne dass dabei anderes entsteht als scheußlichste Ghettoarchitektur. Von 2001 bis heute stiegen in Berlin die Mieten um 159 Prozent, was nun internationale Bauhaie auf den Plan gerufen hat. Endlich Weltniveau beim Ausquetschen von Mietern – das war der Auftrag. Die nächst kleineren Metropolen verzeichneten weniger als die Hälfte an Steigerung. Die Ausgangslage mag in Hamburg oder München höher gewesen sein, Berlin hat in überdimensionierter Bauspekulation die Nase vorn. Wer eine Franziska Giffey und einen Bausenator wie Eike Geisel (SPD) hat, weiß selbstverständlich, dass zum Beispiel einem René Benko und seinem Immobilienschneeballsystem etwa mit Karstadt-Galeria-Grundstücken besonders viel Staatsknete in der Hauptstadt hinterhergeworfen wird. Die knapp 17 Monate seit der sogenannten Wahl 2021 waren für die Lösung des Wohnungsproblems in Berlin verlorene Zeit, für sogenannte Investoren, den Vorreitern des weltweit nach Anlage suchenden Kapitals , eine Fortsetzung goldener Jahre.

    Das Wahlergebnis war Ausdruck von Wut über besonders unfähiges politisches Provinzpersonal. Welche Rolle bei der Wahlentscheidung die Haltung zu Waffenlieferungen nach Kiew spielte, lässt sich nicht sagen. »Erwähnen Sie nicht den Krieg« war Leitfaden des sogenannten Wahlkampfes. Die Spitzen aller drei regierenden Parteien und der CDU setzten sich zwar auf Nachfrage für mehr Kriegsgerät Richtung Osten ein, scheuten sich aber, das zum Thema zu machen. Berlin hat mit rund 100.000 Ukraine-Flüchtlingen bundesweit überproportional Menschen aufgenommen – weitgehend geräuschlos. Es kommt eben darauf an, vor welchem Krieg einer flieht, da funktioniert bei den »richtigen« sogar der Verwaltungsapparat - siehe das Berliner Scheitern 2015 bei der bloßen Registrierung von Menschen, die von einem der Kriege des Westens aus Zentralasien, dem Nahen und Mittleren Osten oder aus Nordafrika vertrieben worden waren.

    Die Berliner CDU hat in den vergangenen Wochen die AfD kopiert, die deutschen Großmedien haben den Bohai um junge Migranten am Silvesterabend kräftig angeheizt. Rechtsaußen und Spitzenkandidat gewann so an die zehn Prozent. Die CDU hat jetzt die Wahl und klar wurde schon am Sonntag: Ihr Favorit sind Bündnis 90/Die Grünen. Ob es zu einem Bündnis kommt, ist offen – bei solchen Entscheidungen hat die Bundesebene das letzte Wort. Eine solche Koalition hätte Rückwirkungen auf die Bundesregierung. Symptomatisch ist, dass die Berliner SPD 51.000 Stimmen an die Union abgab. Das war ein Erdrutsch und erhärtet nur: In der Hauptstadt handelt es sich bei beiden Parteien noch mehr als in der übrigen Republik um zwei Flügel einer Einheitspartei. Ihre Basis ist eine Klientel, die sich zum größten Teil noch in Frontstadtzeiten wähnt und stets Neigung zu extrem rechten Positionen hatte.

    Berlin ist die Armutsmetropole der Bundesrepublik. Die bisherige Koalition hat die längst nicht mehr schwelende, sondern an vielen Stellen sichtbare Verelendung verschärft – allein durch die Weigerung ums Verrecken nicht für bezahlbare Wohnungen, ausreichend Lehrer oder Schulgebäuden, die nicht mehr bröckeln, zu sorgen. Den Privatisierungswahn, das kommunale Heil durch Flucht in die Verscherbelung öffentlichen Eigentums zu suchen, haben alle fünf Parteien, die jetzt ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen, gemeinsam – Abstufungen eingeschlossen. Diese Wahl wird deswegen kein Problem der Stadt lösen. Es bleibt ein einziges positives Ergebnis: Die FDP fliegt raus.

    #Allemage #Berlin #politique #élections

  •  »So funktioniert kein faires Verfahren« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/444578.eu-abschottungspolitik-so-funktioniert-kein-faires-verfahren.html
    Italie : les sauveteurs en mer du "Iuventa" continuent d’être jugés. Ils doivent servir d’exemple. Un entretien avec Kathrin Schmidt

    10.2.2023 von Fabian Lehmann - Im Mai 2022 startete im italienischen Trapani ein Prozess gegen Seenotretter. Sie und weitere Crewmitglieder der »Iuventa« befinden sich seitdem auf der Anklagebank. Was ist bisher im Verfahren geschehen?

    Zum Auftakt war es mir wichtig, der Staatsanwaltschaft in die Augen gucken zu können, um zu verstehen, was das für Menschen sind, die so einen Prozess beginnen. Inhaltlich ist bei dem Termin nicht so viel herumgekommen. Aber in der Zwischenzeit hat die Staatsanwaltschaft nach Anfrage zugestimmt, dass unabhängige Prozessbeobachterinnen und -beobachter von internationalen Organisationen im Gerichtssaal sein dürfen. In Italien darf die Öffentlichkeit normalerweise der Vorverhandlung nicht beiwohnen.

    Wir sind wahnsinnig dankbar dafür, dass wir viel Unterstützung erfahren, auch von größeren Organisationen. Andere Prozesse dieser Art, in denen Migranten angeklagt werden, bekommen sehr wenig oder gar keine Aufmerksamkeit. Und auch im Verfahren erhalten sie keine adäquate Übersetzung, keine gute Verteidigung, haben keinen Kontakt zur Außenwelt und verstehen teilweise gar nicht, was da passiert. Hunderte von ihnen sitzen bereits in Gefängnissen. Dabei wird deutlich, wie privilegiert wir als europäische Seenotretterinnen und -retter auch vor Gericht immer noch sind.

    Ist der Prozess mittlerweile in der Hauptverhandlung angekommen?

    Nein, wir sind noch immer in der Vorverhandlung. Wir haben eine fast 28.000seitige italienische Strafakte erhalten, deren Übersetzung uns bisher verweigert wird. Auf Nachfragen wurde uns eine 700seitige Zusammenfassung übersetzt. Nur ist das eine Interpretation der Ermittlungsbehörden und nichts, worauf wir unsere Verteidigung aufbauen können. So funktioniert kein faires Verfahren.

    Als ich im Mai im Gerichtssaal war, hatten wir eine gerichtlich bestellte Person, die für uns die Verhandlung übersetzen sollte. Wäre ich darauf angewiesen gewesen und hätte meine Anwältinnen nicht gehabt, hätte ich nicht einmal verstanden, weshalb ich vor Gericht stehe. Für juristische Übersetzungen war diese Person nicht qualifiziert. Da ist mir klar geworden, wie sich so ein Verfahren für weniger privilegierte Menschen anfühlen muss: Du sitzt im Gerichtssaal und verstehst gar nichts. Ich komme an die Informationen, aber viele andere nicht. So etwas kann in einem Rechtssystem nicht Standard sein.

    Liegt Ihr beschlagnahmtes Schiff, die »Iuventa«, noch immer im Hafen von Trapani?

    Ja. Der Richter hat festgestellt, dass es nicht rechtens ist, das Schiff nach fünf Jahren an der Kette einfach zerfallen zu lassen. Hafenmeisterei und Küstenwache sind demnach verantwortlich dafür, das Schiff in dem Zustand zu erhalten, in dem es konfisziert wurde. Das ist mit vielen Reparaturen verbunden, falls es überhaupt noch möglich ist. Es ist in einem so schlechten Zustand, dass es Gefahr läuft, im Hafen zu sinken.

    Was der Richter allerdings nicht erwähnt hat, ist die Tatsache, dass die Beschlagnahmung unrechtmäßig war. Sie wurde damals mit dem Verdacht auf illegalen Besitz von Schusswaffen gerechtfertigt, der sich nie bestätigt hat. Dieser Vorwand wurde gebraucht, damit die Staatsanwaltschaft überhaupt einer Beschlagnahmung zustimmt. Es ist übrigens auch vollkommen unnötig gewesen, das Schiff für das Verfahren an die Kette zu nehmen. Das eine hängt mit dem anderen nicht zusammen.

    Zu Beginn des Verfahrens sagten Sie dieser Zeitung, dass der Prozess viel mehr ein politischer als ein juristischer sei. Wie denken Sie heute darüber?

    Ich sehe das mehr denn je so. Mittlerweile hat sich nicht nur das italienische Innenministerium, sondern die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni selbst als Nebenklägerin zu unserem Prozess gemeldet. Vom Gericht wird gerade ausgewertet, ob das zugelassen wird. Die Regierung versteht sich also als Geschädigte, die nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch moralischen Schaden durch unsere Rettungsaktion davongetragen habe, und fordert Schadenersatz. Das ist eine Farce und hat mir bestätigt, dass es klare politische Interessen gibt. In italienischen Gerichtssälen soll an zivilen Seenotrettern ein Exempel statuiert werden.

    Die gelernte Ergotherapeutin Kathrin Schmidt ist seit 2016 in der Seenotrettung tätig

  • Bericht : BRD liefert Kampfpanzer an die Ukraine
    https://www.jungewelt.de/artikel/443860.bericht-brd-liefert-kampfpanzer-an-die-ukraine.html


    Place de la Bataille de Stalingrad à Paris

    Vous êtes croyant ? C’est tant mieux pour vous parce vous pouvez prier et demander à votre dieu qu’il vous épargne alors que nous les fidèles du Sodom de la raison nous sommes impuissants face à la volonté de nos élites de nous exposer aux feux des batailles de leur troisième guerre mondiale.

    Là on envoie des armes pour reconquérir la Crimée. La riposte russe ne se fera pas attendre après la déstruction des premières cibles sur le sol russe. Il est étonnant que la majorité des gens n’ont apparamment pas compris que nos dirigeants sont prêts à nous sacrifier pour une vision historique : La déstruction de l’empire du mal russe.

    Berlin. Die Bundesrepublik wird offenbar Kampfpanzer vom Typ »Leopard 2« an die Ukraine liefern sowie dies Drittstaaten, die über dieses Kriegsgerät verfügen, erlauben. Dies berichteten das Magazin Spiegel und NTV am Dienstag abend. Spiegel nannte keine Quelle, NTV dagegen berief sich auf »Regierungskreise«.

    Den Informationen von Spiegel und NTV zufolge gehe es um mindestens ein Kompanie »Leopard 2 A6«. Eine Kompanie umfasst bei der Bundeswehr 14 Panzer. Weitere Verbündete – unter anderem aus Skandinavien – wollten demnach ebenfalls Kampfpanzer vom Typ »Leopard 2« an die Ukraine liefern. Außerdem sei damit zu rechnen, dass auch Verbündete der NATO-Kriegsallianz »mitziehen«. So könnten aus den USA Kampfpanzer vom Typ »Abrams« der Ukraine zur Verfügung gestellt werden, heißt es in den Berichten.

    Zuvor hatte die Bundesregierung erklärt, schnell über den von Polen eingereichten Antrag zur Lieferung von »Leopards« an die Ukraine zu entscheiden. Da jene Kampfpanzer aus deutscher Produktion stammen, ist eine Zustimmung der Bundesregierung erforderlich, bevor Polen seine an die Ukraine abgeben kann. Zuvor hatte es Meldungen gegeben, die USA könnten, wie von Deutschland gewünscht, eigene Kampfpanzer schicken.

    Die Linke-Politikerin Sevim Dagdelen hatte auf der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14. Januar noch davor gewarnt, die Lieferung von »Leopard«-Panzern würde die Eskalationsspirale weiter drehen. Es sei ein historischer Fehler deutsche Kampfpanzer gegen Russland in Stellung zu bringen, so Dagdelen.

    #guerre #Russie #Ukraine #Allemagne

  • »Asow«-Neonazis in Israel - Ukrainische Ultrarechte auf »Arbeitsbesuch«: Empfang durch Politik, Austausch mit Militär und rassistische Entgleisungen
    https://www.jungewelt.de/artikel/441452.revisionistische-tour-asow-neonazis-in-israel.html


    Offiziell empfangen: »Asow«-Vertreterin Julia Fedosiuk (l.) und Nachrichtendienstoffizier Illja Samoilenko (r.)


    Besuch der »Asow«-Vertreter bei IDF-Reservisten in Uniform samt Wolfsangel


    Bis September in russischer Kriegsgefangenschaft, jetzt auf Propagandatour in der einstigen Wüstenfestung Masada: Nachrichtendienstoffizier Illja Samoilenko

    23.12.2022 von Susann Witt-Stahl - Seit Monaten bereiten Volksvertreter in der westlichen Welt ukrainischen »Asow«-Kämpfern einen begeisterten Empfang. Nach dem Kapitol in Washington und dem EU-Parlament steht nun offenbar die ideologisch wichtigste Eroberung an: die Knesset in Israel, Heimat zahlreicher Juden, die vor Hitlers systematischem Massenmord geflohen waren oder den Holocaust überlebt hatten.

    Vergangene Woche wurde nun erstmals offiziell eine zweiköpfige »Asow«-Delegation ins »Heilige Land« entsendet – »um die von der russischen Propaganda aufgebauten Mythen über das Regiment zu entlarven«, die »in einigen israelischen Kreisen leider immer noch großen Einfluss« hatten, erklärte der »Verband der Familien der Verteidiger von Asowstal«. Dessen stellvertretende Vorsitzende Julia Fedosiuk vertrat die Neonazis zusammen mit dem Nachrichtendienstoffizier Illja Samoilenko, der im September aus russischer Gefangenschaft freigekommen war.

    Der neuntägige »Arbeitsbesuch« in Israel ist eine heikle Mission: »Asow«, das seit dem »Euromaidan« 2014 von einem Regiment zu einer Massenbewegung wuchs, steht bis heute fest in der Tradition der ukrainischen Faschisten, die in den 1940er Jahren als treue Verbündete Nazideutschlands in der Organisation Ukrainischer Nationalisten oder als Angehörige der SS, der Wehrmacht oder der Hilfspolizei am Völkermord an den Juden beteiligt waren.

    Diese verstörende Tatsache versucht die gut geschmierte »Asow«-Propagandamaschine mit allen Mitteln zu verschleiern, besonders in Israel. Seit Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine behaupten Kämpfer des Regiments – wie unlängst der Vizekommandeur Swjatoslaw Palamar in einem Haaretz-Interview – beharrlich, bei dem von SS-Einheiten stammenden Wolfsangelsymbol im »Asow«-Emblem handele es sich nur um die zusammengesetzten Anfangsbuchstaben I und N der Hauptwörter ihres Slogans »Idee der Nation«.

    Folglich gebe es in der Bewegung »keine Nazis«, wie Fedosiuk am Montag gegenüber dem israelischen Nachrichtenportal Detali beteuerte. Dafür aber »Antifaschisten, Sozialisten and Anarchisten«, und »da sind auch Juden, schon die ganze Zeit«, ergänzte Samoilenko im Gespräch mit The Times of Israel. »Einer meiner besten Freunde ist Jude, und der ist in Asow«, setzte Fedosiuk noch einen drauf – während ukrainische Neonazikrieger auf Telegram aktuelle Fotos von »Asow«-Panzern mit den Hoheitszeichen der deutschen Wehrmacht und SS auf Feindfahrt durch die Ostukraine veröffentlichten.

    Für seine groteske Erzählung ist das faschistische Duo infernale nur wenige Tage vorher sogar vom »Asow«-Chefideologen persönlich Lügen gestraft worden: Ohne »Patriot der Ukraine« würde »es sicher kein Asow geben«, würdigte Andrij Bilezkij die Bedeutung des bewaffneten Arms der 2008 gegründeten Neonaziorganisation »Sozial-Nationale Versammlung«, die für eine »rassenreine Ukraine« streitet. Dass Samoilenko genauso denkt wie Bilezkij, der sich vor einigen Jahren für einen »letzten Kreuzzug« gegen »die von Semiten angeführten Untermenschen« ausgesprochen hatte –, das belegt er eindrucksvoll durch rassistische Entgleisungen: »Mittelalterliche Höhlenmenschen« nennt er die Russen gegenüber The Times of Israel. Er sehe Israel und die Ukraine auf der gleichen Seite: »Die Zivilisierten kämpfen gegen die Unzivilisierten um die Zukunft der Menschheit.«

    Das hielt Naama Lazimi, Knesset-Abgeordnete der sozialdemokratischen Awoda-Partei, nicht davon ab, die »Asow«-Delegation zu empfangen und sich für ein Gruppenbild mit Neonazis instrumentalisieren zu lassen. Es gab auch einen Besuch der Ruine der einstigen Wüstenfestung Masada, der Samoilenko zu einem kruden Vergleich seiner »Asow«-Kameraden mit den jüdischen Aufständischen inspirierte, die im Jahr 74 bis in den Tod Widerstand gegen die römischen Besatzer geleistet hatten. Ferner wurde zwecks »Austauschs wertvoller Kampferfahrung« eine Zusammenkunft mit Reservisten der israelischen Armee (Abkürzung IDF) arrangiert. Beide Programmpunkte absolvierte Samoilenko in Kampfuniform mit besagtem SS-Symbol. Ein weiterer Höhepunkt der Reise dürfte die Aufführung eines »Asow«-Propagandafilms in Tel Aviv und Haifa über die russischen »Konzentrationslager des 21. Jahrhunderts« gewesen sein.

    Die von der ukrainischen Botschaft unterstützte Neonazitournee wurde von israelischen Bandera-Anhängern und der Nadav-Stiftung von Leonid Newslin finanziert. Der 2008 in Russland wegen »Verschwörung zum Mord« in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilte Oligarch ist der engste Geschäftspartner des nicht minder für kriminelle Machenschaften bekannten Unternehmers Michail Chodorkowski. Laut Presseberichten war die »Asow«-Delegation sogar zu einem Treffen mit israelischen Regierungsbeamten geladen – ein deutliches Indiz dafür, dass die Neonazis im gelobten Land ein noch dringlicheres Anliegen als Holocaustrelativierung und Persilscheinjagd verfolgen: mehr Waffenlieferungen. Ukrainische Militärs, inklusive der faschistischen Einheiten, werden seit Jahren mit »Tavor«-, »Galil«- und »Negev«-Gewehren sowie anderen Rüstungsgütern aus Israel ausgestattet.

    Einige Israelis zeigten sich in Leserkommentaren »schockiert«, dass »diese Monster« und »Ukronazis«, deren politische Vorgänger »die Ukraine mit dem Blut von Juden getränkt« hatten, nach Israel einreisen durften. Andere reagieren mit bitterer Ironie: »Die IDF-Logik ist simpel: Beim nächsten Krieg gegen die Araber haben wir Neonazikämpfer auf unserer Seite.« Keineswegs überrascht äußerte sich auch der Historiker ­Moshe Zuckermann gegenüber jW: »Schon lange, besonders seit Beginn der Ära Netanjahu, werden Faschisten, Diktatoren, Rassisten, ja selbst Antisemiten in diesem Land willkommen geheißen, wenn sie bloß ›Israel-Solidarität‹ bezeugen.«

    #Israël #Ukraine #fascistes #géopolitique

  • In Verteidigung der DDR
    https://www.jungewelt.de/artikel/441049.wende-und-die-folgen-in-verteidigung-der-ddr.html

    Il y a trente et un ans un groupe d’anciens employés des universités de la RDA avec quelques artistes et employés de l’état fondaient une association pour défendre leurs droits et parer les enquêtes biaisées de l’appareil idéologique et répressif ouest-allemand. La société pour la protection des droits des citoyens et de la dignité humaine a décidé sa dissolution le huit décembre 2022. Elle nous lègue un trésor de témoignages, analyses et documentations. Ce texte est le discours de clôture de son fondateur.

    15.12.2022 von Siegfried Prokop - Die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V. (GBM) beendete am 8. Dezember 2022 mit einer letzten Zusammenkunft in Berlin nach 31 Jahren ihre Tätigkeit. Siegfried Prokop, Historiker und Mitbegründer der einst mehrere tausend Mitglieder in dutzenden Ortsverbänden zählenden Organisation ehemaliger DDR-Eliten, erinnerte in einem Vortrag an Geschichte und Auftrag der GBM. (jW)

    Mit Datum vom 11. Dezember 1990 findet sich in meinen Tagesnotizen ein Eintrag über ein Gespräch mit dem Politologen Klaus Herrmann aus Montreal: »Er ist entsetzt über die Brutalität der Deutschen unter den Deutschen, die er jetzt hier erlebt. Warum werden so viele Wissenschaftler entlassen?« Am 15. Dezember steht da: »Was soll man in solcher Lage mit den Begriffen ›Universitäts-Autonomie‹ oder ›Rechtsstaatlichkeit‹ anfangen? Hohle Worte im Verständnis der Politiker, die jetzt das Sagen haben.«

    Diese Stichworte mögen genügen, um die Erinnerung an die Zeit des Abwicklungsterrors aufzufrischen. Es gab wie in einem Western nur noch das Gut-böse-Schema; tausendfach verstärkt durch die weithin einheitlich argumentierenden, westdominierten Medien.

    Weihnachten 1990, das erste Weihnachten der deutschen Einheit, war für Hunderttausende Ostdeutsche vermutlich das traurigste Fest ihres Lebens. Zur enormen Steigerung der Lebenshaltungskosten nach Einführung der D-Mark kamen Warteschleife oder Entlassung in die Dauerarbeitslosigkeit und der soziale Abstieg hinzu. Der vergiftete Beifall aus dem Westen für die Herbstrevolution der DDR-Bürger und die selbst errungene Demokratisierung war wohlfeil und nichts mehr als Propaganda. Gut war nur noch die Bundesrepublik. Das alles offeriert in süßlichem Selbstlob. DDR – das waren nur noch Stasi und Unrecht. Lebensplanungen wurden zerstört. Der Politologe Fritz Vilmar gab dem Vorgang einen Namen: »strukturelle Kolonialisierung«.

    Die Bürgerrechtler ließen sich als Helden der »friedlichen Revolution« feiern, taten aber nichts für die Verteidigung der Lebensinteressen der Ostdeutschen. Sie waren sehr schnell müde und konzeptionslos geworden.
    Für Recht und Würde

    In jenen Tagen verabredeten Wolfgang Richter, Philosoph und Friedensforscher an der Humboldt-Universität, und ich uns zu einem Waldspaziergang im Norden Berlins. Wir stimmten in der Auffassung überein, dass die neuen, gesamtdeutschen Herrscher sich genau das herausnahmen, was sie der DDR vorwarfen: Sie verletzten die Menschenrechte. Das musste ein Ansatzpunkt für Gegenaktionen bieten, wenn unsere Analyse richtig war. Wenn im »Beitrittsgebiet« nach unserer Wahrnehmung massenhaft Rechtsverletzungen erfolgten, dann musste das dokumentiert und öffentlich gemacht werden. Aber wie sollte das geschehen?

    Wolfgang Richter schlug einen Aufruf vor, der die Opfer dieser Politik zur Bekanntgabe ihres Schicksals aufforderte. Damit sollte die Zeit des bloßen Hinnehmens von Demütigungen beendet werden. Wir entwarfen Texte für einen Aufruf. Aber wo sollten die durch die Siegerpolitik Betroffenen und Gedemütigten ihre Geschichten abgeben?

    Wir entschlossen uns zur Anmietung eines Postfaches. Der Aufruf gefiel uns in der ersten Entwurfsfassung nicht. In Wolfgang Richters Institut für Friedens- und Konfliktforschung arbeitete ein ehemaliger Journalist der Jungen Welt. Hartmut Nehring legte Hand an, nun las sich der Text schon besser. Er war überschrieben mit »Für Recht und Würde« und erinnerte nicht zufällig an die große Aufrufaktion vom Herbst 1989 »Für unser Land«.

    Der Appell forderte ein Deutschland, »das jedes Menschen Recht gleich achtet«. Statt dessen geschehe aber seit der Ostausdehnung der Bundesrepublik »massenhaftes Unrecht«. Im Text klang bereits der Gedanke an, die Dokumente in einem »Weißbuch« der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Nehring erklärte sich auch bereit, als Sekretär der Aktion zu agieren. Daraus wurde aber nichts. Er verunglückte tödlich mit seinem »Trabant« bei Prenzlau. Wir brauchten einen neuen Mitstreiter, die Aufrufaktion »Für Recht und Würde« verzögerte sich um mehr als einen Monat. Schließlich fanden wir Gert Fischer, der als Philosoph der Parteihochschule »Karl Marx« noch zu DDR-Zeiten wegen oppositioneller Haltungen entlassen worden war.

    Gert Fischer war nicht nur aufgrund seiner Biographie ein Glücksfall. Er entfaltete auch eine enorme Aktivität. Keine Demo, auf der Gert nicht mit dem Charme eines Seniors den Aufruf »Für Recht und Würde« verteilte. Die Bürger reagierten nach dem Lesen des Papiers freundlich und mit einer gewissen Verwunderung ob des Mutes in dieser bleiernen, intoleranten Zeit.
    Erschütternde Zeugnisse

    Mittlerweile hatten wir Ende März 1991. Wolfgang Richter machte eine neue Entdeckung: den Arbeitslosenverband. Dessen Präsident Klaus Grehn hatte eine Klage gegen die Warteschleife beim Bundesverfassungsgericht auf den Weg gebracht. Tausende Betroffene hatten dem Arbeitslosenverband in Briefen ihr Schicksal geschildert, die in sieben Aktenordnern abgelegt waren. Die Vizepräsidentin des Verbandes, Germana Ernst, kam uns entgegen. Wir durften die Briefe lesen. Sie waren erschütternd. Wir fühlten uns bestätigt. Das Material reichte für mehr als nur ein Weißbuch. Die Täter mussten national und international angeprangert werden. Wolfgang Richter legte eine Disposition vor. Die Briefe durften aus Datenschutzgründen nicht publiziert werden. Aber wir verfügten über Adressen von Betroffenen und konnten diese anschreiben und deren Zustimmung erbitten.

    Andererseits brachte unser eigener Aufruf zunächst nicht die erhofften Ergebnisse. Es kam nur wenig Material in unser Postschließfach. Wir entschieden uns dazu, aktiver als bisher an die Öffentlichkeit zu gehen. In meinen Tagesnotizen steht unter dem 8. April 1991 der Eintrag: »Es zeichnen sich leichte atmosphärische Veränderungen ab. Kohl wurde in Erfurt am Wochenende mit faulen Eiern empfangen. Die Ossis lassen sich die Demütigungen durch die ›Herrenmenschen‹ nicht mehr gefallen. Wolfgangs und meine Initiative greift allmählich. Heute gab ich dem Schleswig-Holsteinischen Rundfunk ein Interview. Das ND brachte eine Meldung.«

    Einen Tag später berichtete auch die Berliner Zeitung über unser Vorhaben: »Die Initiativgruppe ›Abwicklung‹ beim Arbeitslosenverband Deutschlands hat alle Betroffenen aufgerufen, sich gegen die drohende Arbeitslosigkeit zur Wehr zu setzen. Nach Angaben der Initiative wurden über 600.000 Menschen in den neuen Ländern durch Abwicklung oder Warteschleife ›ohne jeden Rechtsschutz ihres Arbeitsplatzes beraubt‹. Zugleich stelle das Gefühl des Nichtgebrauchtwerdens einen Angriff gegen die von der UNO verabschiedeten Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte dar.«

    Germana Ernst räumte uns das Recht ein, den Sitzungsraum des Arbeitslosenverbandes in der Pettenkofer Straße zu benutzen. Nach den Pressemeldungen waren wir plötzlich gefragte Leute. Es meldeten sich Betroffene und Journalisten. Aber auch Horst van der Meer, der arbeitslose Herausgeber der IPW-Berichte (Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR; jW), meldete sich und bot uns an, über die Abwicklung der DDR zu schreiben. Das Angebot nahmen wir an. Das Buch entstand schnell. Bereits im Herbst 1991 wurde der Titel »Vom Industriestaat — zum Entwicklungsland?« in der Berliner Stadtbibliothek vorgestellt.

    Für Wolfgang Richter waren die ersten Ermutigungen für die »Initiativgruppe Abwicklung« Anlass, dem Aufruf »Für Recht und Würde« seine Anonymität zu nehmen. Er schlug vor, Prominente als Unterstützer zu gewinnen. Nur so werde es den verunsicherten Betroffenen erleichtert, sich mit dem Aufruf zu solidarisieren. Diese Überlegung, der ich anfangs skeptisch gegenüberstand, sollte sich als richtig erweisen. Schnell bekamen wir prominente Unterschriften aus dem In- und Ausland: von Heidrun Hegewald und Käthe Reichel (beide Berlin), Gilbert Badia (Paris) und vielen anderen. Auch aus den Altländern wurde uns Ermutigung zuteil. Zu nennen sind der Politologe Fritz Vilmar von der Freien Universität in Berlin-Dahlem und Kuno Füssel, Theologe in Münster. Nun hatte der Aufruf ein Echo, das wir kurz zuvor nicht für möglich gehalten hatten. Er wurde in über einer Million Exemplaren gedruckt bzw. nachgedruckt und bei Demonstrationen verteilt. Im In- und Ausland wurde er als Beleg für die miese Qualität der Herstellung der deutschen Einheit angeführt.
    Bewegung wie im Bienenstock

    junge Welt Fotowettbewerb, Ausstellung

    Mir selbst fehlt aus jener Zeit ein Stück konkrete Anschauung, weil ich Ende April 1991 zu einer Gastprofessur nach Montreal flog. Ich nahm den Aufruf »Für Recht und Würde« mit über den Großen Teich und verteilte ihn in Kanada und in den USA an bestimmte Persönlichkeiten, denn dort war auf Schritt und Tritt die verfälschende Auslandspropaganda von einer idyllischen deutschen Einheit zu spüren. Nun blieb ich auf Post aus Berlin angewiesen. Am 27. Mai kam der erste Brief von Wolfgang Richter. Er berichtete über den erfolgreichen Fortgang der Aktion, war aber sehr enttäuscht über die Redaktion der Weltbühne, die ihn zwar aufgefordert hatte, über die »Initiativgruppe Abwicklung« einen Artikel zu schreiben, dann jedoch den Abdruck verweigerte. Seine Sicht auf die deutsche Innenpolitik sei zu scharf, ließ die Redaktion, bestehend aus knieweichen Linken und feigen Leuten, durchblicken. Im Juli 1993 stellte die traditionsreiche Wochenschrift ihr Erscheinen ein. Erst einige Jahre danach fand sie mit dem Ossietzky im Westen und dem Blättchen im Osten gleich zwei Nachfolger.

    Wolfgang Richter teilte mir auch mit, dass die Organisationsform der »Initiativgruppe« nicht mehr ausreiche. Zu viele hätten sich auch in anderen Städten inzwischen zur Mitarbeit bereitgefunden. Das zwinge zur Gründung einer Gesellschaft. Sein nächster Brief vom 15. Juni 1991 hatte bereits einen Kopf: »Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V. (i. G.)« und daneben das Logo GBM. Die Fußzeile im Kleindruck nannte unser Postschließfach 627 und das Spendenkonto bei der Sparkasse der Stadt Berlin-West. Keine Adresse.

    Wolfgang Richter schrieb, dass die GBM am Tag zuvor bereits ihre zweite Pressekonferenz veranstaltet habe. Das Presseecho sei gut gewesen, auch Fernsehsender hätten berichtet. Die GBM habe zusammen mit dreizehn Organisationen eine Presseerklärung abgegeben, sie werde an 662 Bundestagsabgeordnete mit einem Anschreiben verschickt. Richter weiter: »Man muss es im großen Stil machen, oder man muss es sein lassen; aber Du kannst Dir vorstellen, dass es viel Arbeit ist und ich mich vielleicht im Gegensatz zu Dir freue, wenn Du wieder zu Hause bist, und das heißt — mitmachst. Das nächste Mal soll ich dort (beim Marzahner Kreis der Pfarrerin Renate Schönfeld, S. P.) reden: ›Was ist Menschenwürde?‹«

    Mitte August 1991 kam ich zurück. Die GBM hatte zwei Büroräume in der Linienstraße zur vorerst kostenlosen Nutzung vom Mieterbund zur Verfügung gestellt bekommen. Das Büro war ständig besetzt. Bewegung wie in einem Bienenstock. Täglich trafen Briefe ein, darunter viele von jenen, die vom Rentenstrafrecht betroffen waren, manchen hatte ein Fernsehauftritt Fritz Vilmars zum Widerstand angeregt. Die GBM nahm Kurs auf eine Klage beim Bundesverfassungsgericht. Dazu kamen die von Wolfgang Richter geleiteten Beratungen des Autorenkollektivs für ein Weißbuch »Unfrieden in Deutschland«, das auch Selbstmorde dokumentieren sollte. Wer wusste schon von der Selbstverbrennung einer Ärztin im Erzgebirge? Die Presse, die seinerzeit über Pastor Oskar Brüsewitz berichtet hatte, verschwieg diesen Suizid absichtsvoll.

    Viele neue Mitstreiter waren plötzlich da, darunter die einstige Schiffsärztin der »Völkerfreundschaft« Christa Anders, bekannte Wissenschaftler wie Friedrich Jung, Adolf Kossakowski und Samuel Mitja Rapoport sowie der Sozial­experte Fritz Rösel. Zu nennen ist an dieser Stelle auch Ernst Bienert. Rösel und Bienert berieten Vorruheständler und Rentner, die vom Rentenstrafrecht betroffen waren. Ihrem Wirken ist der schnelle Mitgliederzuwachs der GBM zu verdanken. Zu erinnern ist auch an Ursula Schönfelder, die etwas später in der GBM aktiv wurde. Sie hatte früher im Audimax der Humboldt-Universität als junge Frau sehr souverän vor 600 Studenten die Vorlesung über den dialektischen Materialismus gehalten.

    Der Anfang war gemacht. Der Besatzermentalität wurde endlich Widerstand entgegengesetzt, und die Interessen von Ostdeutschen wurden artikuliert.
    Gegen den Antikommunismus

    In meinen »Tagesnotizen« steht mit Datum vom 12. Juli 1992: »Das ›Ostdeutsche Memorandum‹ ist auf den Weg gebracht. Uff? Nun werden wir sehen, wie es weitergeht. Pfarrer Dr. Frielinghaus stellte es vor. Wolfgang Harich versuchte zwar für eine KPD Propaganda zu machen. Er schlug aber auch die Gründung einer ›Alternativen Enquetekommission Deutsche Geschichte‹ vor. Diestel und Gysi planen in einer parallelen Veranstaltung, Komitees für Gerechtigkeit zu gründen.«

    Ich ahnte nicht, dass dieser Tag der Anfang einer engen Beziehung zu Wolfgang Harich, diesem bedeutenden DDR-Dissidenten, werden sollte. Ich traf ihn im Haus der Demokratie in der Friedrichstraße 165. Ostdeutsche Verbände berieten darüber, wie die tiefe Krise im Osten überwunden werden sollte, die 1992 allenthalben spürbar war. Neben mir saß ein alter Mann mit schlohweißem Haar, eine christusähnliche Gestalt. Plötzlich stand er auf, gab mir die Hand und sagte seinen Namen. Ich reichte ihm meine Visitenkarte. Danach schob er mir einen Zettel zu, auf dem er seine Telefonnummer notiert hatte.

    Von diesem Tage an rief Harich bis zu dreimal täglich bei mir an. Immer hatte er Fragen. Ich spürte: Dieser Mann litt unter der Isolierung, in der er sich seit Entlassung aus dem Gefängnis im Jahre 1964 befand. Er hatte Fragen, die noch immer um seine Verhaftung im Jahre 1956 kreisten. Er wollte sein Verhalten vom Zeithistoriker eingeordnet wissen. Seine Wut auf Ulbricht konnte er immer noch nicht verbergen. Aber er war sich da keineswegs sicher. Schließlich hatte ihm schon Spiegel-Chef Rudolf Augstein bei einem Treffen im November 1956 in Hamburg vorgeworfen, unter einer Ulbricht-Phobie zu leiden. Ich wurde wohl oder übel gezwungen, mich tief in Harichs Lebensgeschichte einzuarbeiten.

    Zunächst stand aber die ganz einfache Frage im Mittelpunkt, wie sich ostdeutsche Verbände gegenüber dem antikommunistischen Zeitgeist verhalten sollten. Klar war, dass es um die Versachlichung der Geschichtsdebatte gehen musste.

    Harichs Vorschlag, eine Alternative Enquetekommission (AEK) zu bilden, fand Anklang. Sie sollte die Antwort sein auf die im März 1992 vom Bundestag beschlossene Enquetekommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Dieser gehörten 16 Bundestagsabgeordnete, entsprechend dem Parteiproporz im Parlament, und elf externe Sachverständige an, Leiter der Kommission wurde der ehemalige DDR-Pfarrer Rainer Eppelmann (CDU), für den eine Aufgabe gesucht worden war. Der ideologisch motivierte Auftrag war klar.

    Harich wurde nach langem Hin und Her als Vorsitzender der AEK gewählt, der namhafte ostdeutsche Historiker Walter Markov wurde Ehrenvorsitzender. Im Februar 1993 legte die Alternative Enquetekommission im Journal der GBM ihre erste geschlossene Publikation vor. Darin befand sich auch ihre Konzeption »Die Alternative Enquetekommission Deutsche Zeitgeschichte. Ihr Selbstverständnis und ihre Aufgaben«.
    Alternative Enquetekommission

    Die Alternative Enquetekommission trat an, um die Geschichtsdebatte zu versachlichen. An die Stelle der praktizierten Einseitigkeit setzte sie die Mehrdimensionalität und die Differenzierung. Es ging ihr um eine historisch-kritische Betrachtung der ganzen deutschen Zeitgeschichte. Dazu gehörte auch, sich kritisch mit dem politischen System der DDR auseinanderzusetzen. Bei der Aufarbeitung der deutschen Zeitgeschichte durften kein Thema und kein wesentlicher Fakt ausgespart bleiben.

    Entschieden wandte sich Wolfgang Harich von Anfang an gegen jegliche Schönfärberei: »Kritik muss, wo immer sie am Platze ist, uneingeschränkt zum Zuge kommen, Fehlleistungen, gar Verbrechen, sind klar zu benennen. Kein Jota ist der Einsicht (…) abzuhandeln, dass wir uns in einer welthistorischen Sackgasse befunden haben und unser Sozialismus-Versuch von Anbeginn, international wie auch auf deutschem Boden, mit dem Geburtsfehler behaftet gewesen ist, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Erfolg um jeden Preis und zu früh, unter noch unreifen Bedingungen, zur Eintracht zwingen zu wollen.«

    Besonders gut tat der AEK, dass Wolfgang Harich in jeder Phase der Arbeit auf Pluralismus bestand. Er lehnte nivellierende Erklärungen zu geschichtlichen Vorgängen durch die AEK ab. Es ging ihm immer um die Meinung des einzelnen AEK-Mitglieds. Auch lehnte er es ab, dass die PDS in der AEK allein das Sagen hatte. Im Gegenteil, er übte in Interviews starke Kritik etwa an Gregor Gysi, dem Kopf der PDS.

    Besondere Bedeutung erhielt eine Veranstaltung Ende Mai 1994 im Berliner Ensemble unter dem Titel »Duell im Dunkeln«, die von Heiner Müller eröffnet wurde. Erstmals stellten sich die ehemaligen Geheimdienstchefs aus beiden deutschen Staaten Heribert Hellenbroich und Elmar Schmähling (Bundesrepublik), Werner Großmann und Markus Wolf (DDR) einer öffentlichen Diskussion. Zum Abschluss intonierte im Rahmen einer Brecht-Ehrung der Chor der Berliner Pädagogen unter Leitung von Hans-Eckardt Thomas die Brechtsche »Kinderhymne« zur Haydn-Melodie, was laut Protokoll »mit großem, langem Beifall bedacht« wurde. Gewertet wurde der Vorgang als Welturaufführung der neuen deutschen Nationalhymne.

    Harich war zu dieser Veranstaltung mit seinem Arzt erschienen. Es war der Höhepunkt in seinem politischen Leben. Danach konnte er nicht mehr viel unternehmen, da ihn seine Krankheit ans Bett fesselte. Im Oktober 1994 trat er von seiner Funktion zurück und schlug mich für die Nachfolge vor.

    Mittlerweile war die AEK bekannt geworden. Der Deutschlandfunk lud regelmäßig zu Geschichtsdebatten ein. Dabei lernte ich viele interessante Personen kennen: Wolfgang Benz, Wolfgang Leonhard, Jörg Friedrich und Wolfgang Seiffert. Organisiert hat diese Veranstaltungen Peter Joachim Lapp, dessen Sachlichkeit ich schätzenlernte. Wir blieben auch später weiter in Kontakt.

    Im März 1995 starb Harich. Ich konzentrierte mich darauf, zum ersten Todestag 1996 ein Gedenkkolloquium zu organisieren. An diesem Kolloquium nahmen auch Rupert Neudeck und Gerhard Zwerenz teil, Wolfgang Leonhard äußerte sich in einem Telefoninterview zu seinem Treffen mit Harich im Jahre 1945.
    Gegen Ignoranz und Dummheit

    Am 3. Juni 1996 berichtete das ND darüber, dass die GBM eine Beschwerde über Menschenrechtsverletzungen im Einigungsprozess an die UNO auf den Weg gebracht habe. Aufgelistet wurden: Verletzungen des Diskriminierungsverbots, Fälle von Rentenstrafrecht, rückwirkende Strafverfolgung und Enteignungen. Diese Initiative wurde von den Komitees für Gerechtigkeit und von der Initiative gegen Berufsverbote unterstützt.

    Zu erinnern ist auch an das Europäische Friedensforum, das im Zusammenhang mit der NATO-Aggression gegen Jugoslawien aktiv wurde und das Wirken der GBM im internationalen Rahmen ermöglichte.

    Die Zeitschrift Icarus wurde 1994 von dem Theologen Kuno Füssel, von Uwe-Jens Heuer, Wolfgang Richter und mir gegründet. Sie war das wissenschaftliche und publizistische Organ der GBM und beschäftigte sich vor allem mit Fragen der sozialen Theorie, der Menschenrechte und der Kultur. Ständig verfolgt wurden die Aktivitäten des Freundeskreises »Kunst aus der DDR«, der sich innerhalb der GBM als aktiver ehrenamtlicher Zusammenschluss gebildet hatte. Seit Beginn des Jahres 2004 erschien die Zeitschrift dank der engagierten Mitarbeit des bekannten Graphikdesigners Rudolf Grüttner in einem neuen gestalterischen Gewand. Der Icarus wurde zu einem Periodikum, mit dem das wissenschaftliche und publizistische Potential der GBM, auch ihre stärkere Hinwendung zu kulturpolitischen Problemen, selbstbewusst und nachhaltig nicht nur zu ihren Mitgliedern, sondern auch in die Öffentlichkeit getragen wurde. Im Jahre 2017 stellte die GBM das Erscheinen des Icarus ein.

    Die GBM-Galerie wurde schnell zur Heimat vieler DDR-Künstler, die in diesem Land nach Strich und Faden verleumdet wurden. Zu erinnern ist an Willi Sitte, Ronald Paris und Walter Womacka und viele andere. Zu erinnern ist auch an Peter Michel und Peter H. Feist, die hervorragende Eröffnungsreden zu Ausstellungen hielten und diese dann im Icarus veröffentlichten.

    Nur auf eine Geschichte zum Thema GBM-Galerie sei hier verwiesen. Im Sommer 2001 wurde eine geplante Jubiläumsaustellung aus Anlass des 80. Geburtstages von Willi Sitte im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom Verwaltungsrat kurzfristig verschoben, weil man Sittes Rolle als DDR-Kulturfunktionär erst noch genauer untersuchen wollte. Sitte sagte daraufhin die Ausstellung ab. Darüber informierte ich Ugo Winkler in Trient – ich hatte dort gerade als Gast der italienischen Kulturorganisation ARCI einen Vortrag gehalten. Es dauerte nicht lange, da meldete sich ein Vertreter von ARCI aus Rom bei mir. Ergebnis: Kurz danach saß Tom Benetollo, Präsident von ARCI, am Tisch von Wolfgang Richter. Willi Sitte bekam eine Vernissage in Mailand. Dabei konnte auch daran erinnert werden, dass Sitte im Zweiten Weltkrieg zu den italienischen Partisanen gestoßen war. Mit Verwunderung hörte ich in dieser Zeit einen Kommentar im Deutschlandfunk, der die Dummheit des Nürnberger Verwaltungsrates kritisch beleuchtete.

    Es könnte noch viel zum Wirken der GBM in den letzten drei Jahrzehnten gesagt werden. Hinzuweisen wäre auch auf die GBM-Organisationen in anderen Städten. Ich erhielt Einladungen nach Frankfurt (Oder), Halberstadt und Rostock. Eine besondere Aktivität entfaltete Dieter Siegert in Chemnitz, wohin Gerhard Fischer und ich mehrmals zu Vorträgen eingeladen wurden.

    Wenn ich heute zu einer Gesamtbewertung kommen wollte, würde ich am liebsten Wolfgang Richter danach fragen. Ich habe keine Zweifel – wir beide hatten uns 1990/91 einiges erhofft – die GBM hat in den drei Jahrzehnten ihres Wirkens unsere damaligen Vorstellungen um ein Vielfaches übertroffen. Ich wüsste auch, was er antworten würde, wenn ich ihn nach dem aktuellen Rüstungsrausch der Herrschenden fragen würde.

    Siegfried Prokop war von 1983 bis 1996 an der Berliner Humboldt-Universität Hochschullehrer und ist Autor zahlreicher Publikationen zur DDR-Geschichte.

    #histoire #DDR #Allemagne #privatisation

  • Mit Melnyk im Plenarsaal
    https://www.jungewelt.de/artikel/440140.geschichtspolitik-mit-melnyk-im-plenarsaal.html

    Résumé de la discussion scientifique des origines de la grande famine en Union Soviétique et de la qualification de génocide de sa partie ukrainienne. Texte assez complet et différencié.

    2.12.2022 von Reinhard Lauterbach - Die Erzählung vom »Hunger-Genozid« gegen die ukrainische Bevölkerung entstand in den späten 1970er Jahren in Kanada, wo die größte ukrainische Exilcommunitiy lebt und bereits 1983 ein erstes Denkmal zur Erinnerung an den »Holodomor« eingeweiht wurde.

    Ginge es nur um historische Erkenntnis, könnte man den Beschluss des Bundestages, die Hungersnot in der Ukraine während der Kollektivierung Anfang der 1930er Jahre (nachfolgend auch: »Holodomor«) als »Genozid« einzustufen, ignorieren. Denn zur Klärung dessen, was passiert ist, trägt er nichts Neues bei, und was er beiträgt, ist eine moralisierende Einordnung, durch die man auch nicht klüger wird. Solcher gedankliche Mummenschanz ist kein Zufall. Die Demokratie als »Legitimation durch Verfahren« (Niklas Luhmann) hat sich mit dem Mehrheitsprinzip ein Kriterium für Entscheidungen gewählt, das sich von Inhalten irgendeiner Art unabhängig macht. Papier ist geduldig, und beschließen kann man alles, wofür man eine Mehrheit findet. Das Parlament der Republik Polen hat vor ein paar Jahren auch schon einmal die Jungfrau Maria als Königin Polens anerkannt,¹ ohne dass irgend jemand hierin den Staatsstreich gewittert hat, der dieser Beschluss objektiv gewesen wäre, wenn man ihn ernstgenommen hätte.

    Aber etwas mehr als ein beliebiger Unsinn ist dieser Beschluss natürlich schon. Er ist – und soll es sein – eine politische Solidarisierung mit einer Ideologie, die in der Ukraine den Charakter der zentralen Herrschaftslegitimation angenommen hat, obwohl ihre Argumentationsgrundlage zumindest erhebliche Zweifel weckt. Die Ukrainer seien Anfang der 1930er Jahre Opfer eines sowjetisch-russischen Genozidversuchs geworden, so die Erzählung. Bebildert wird diese Behauptung mit der tatsächlich hohen Zahl der Opfer, die die Kollektivierung in den sowjetischen Dörfern forderte, darunter auch in der Ukraine. Die meisten Autoren gehen von sieben bis acht Millionen durch Gewalt oder Hunger getötete Menschen in den Agrarregionen der Sowjetunion aus, darunter etwa die Hälfte in der Ukrainischen Sowjetrepu­blik. Aber eben bei weitem nicht nur dort.
    Beschleunigte Kollektivierung

    Diese hohe Zahl an Opfern lässt sich erklären, auch ohne dass man dafür die Vermutung eines antiukrainischen Komplotts der (als russisch unterstellten, faktisch durchaus multinationalen) Sowjetführung bemühen müsste. Der Mainstream der historischen Forschung unterstellt, dass die sowjetische Führung den Beschluss des Jahres 1928, die Landwirtschaft beschleunigt zu kollektivieren (also die Agrarrevolution der Jahre 1917 bis 1920 zurückzunehmen, der die Bolschewiki in der frühen Phase ihrer Herrschaft immerhin den Sieg ihrer Revolution verdankten, weil die Bauern dem zaristischen und bürgerlichen System die Gefolgschaft verweigerten und sich statt dessen Landanteile sicherten), aus im wesentlichen drei Motiven heraus fasste:

    Erstens, den Aufwand für die Industrialisierung des Landes auf Kosten der Dorfbevölkerung zu finanzieren; Stalin selbst hat diese Überlegung damit verglichen, den Bauern eine »Industrialisierungsrente« abzuverlangen ähnlich derjenigen, mit der die kapitalistischen Industriestaaten ihre ursprüngliche Akkumulation durch die Extraausbeutung der Kolonien und ihrer Bewohner finanziert hatten: eine Phase »ungleichen Tausches« mit dem Ziel, die UdSSR industriell zu entwickeln und dadurch auch zur Abwehr imperialistischer Angriffe zu befähigen. Die Ukrai­ne war zu diesem Zeitpunkt das wichtigste Getreideüberschussgebiet der Sowjetunion – die Urbarmachung des Kaukasusvorlands und der östlichen Ausläufer der Schwarzerderegion in Kasachstan stand erst noch bevor. Damals war in der Ukraine schlicht das meiste für die staatlichen Ziele zu holen, deshalb wurde sie zwangsläufig auch zu einer Schwerpunktregion der Repression gegen den Widerstand der bäuerlichen Bevölkerung gegen ihre faktische Enteignung.

    Denn der zweite Aspekt der Kollektivierung bestand darin, dass sie eine Reihe von Widersprüchen der 1921 von Lenin proklamierten »Neuen Ökonomischen Politik« (NÖP) gewaltsam auflösen sollte. Die NÖP hatte faktisch die Wiederzulassung des Kapitalismus in Landwirtschaft und Leichtindustrie bedeutet. 1921 war das eine aus der wirtschaftlichen Zerrüttung nach dem Bürgerkrieg geborene Notmaßnahme gewesen, ausgelöst auch vom beharrlichen Widerstand der Bauern gegen die Getreidekonfiskationen zugunsten von Städten und Armee. Im Zuge der 1920er Jahre brachte sie neue (bzw. alte) Klasseninteressen hervor: die der Privateigentümer in Landwirtschaft, Kleinhandel und Leichtindustrie, also den konsumnahen Branchen der sowjetischen Wirtschaft. Diese sozialen Interessen liefen denen der zentralen Industrialisierungsplanung zuwider. Bauern verhielten sich zu ihren Produkten wie die Eigentümer, die sie waren, das bedeutete auch, dass sie sie verkauften, wenn es ihnen profitabel erschien, und dies unterließen, wenn ihnen die staatlichen Aufkaufpreise zu niedrig waren. Sie mussten aber niedrig – also aus Sicht der Bauern nicht kostendeckend – sein, wenn mit ihnen das politisch vorgegebene Ziel erreicht werden sollte, Mittel für die Industrialisierung zu beschaffen. Als Folge geriet das andere Ziel in Gefahr, um dessentwillen die Bolschewiki den privaten Handel der Bauern wieder zugelassen hatten: die Versorgung der Industrieregionen und der Arbeiterklasse als ihrer sozialen Hauptstütze zu garantieren. Sie ließ sich eben nicht garantieren, solange man das Interesse der aus der Agrarrevolution ohne Zutun der Bolschewiki hervorgegangenen und durch die NÖP gesetzlich anerkannten privaten Parzellenbauern politisch gelten ließ.

    Damit stellte sich drittens die Frage, wie lange auf dieser Grundlage die Herrschaft der Bolschewiki als Partei noch aufrechtzuerhalten sein würde. Wenn Stalin die »Rechtsabweichler« um Nikolai Bucharin, die dafür eintraten, die NÖP laufen zu lassen und der Sowjetwirtschaft ein gemäßigteres und eher an den Konsumbedürfnissen der Bevölkerung orientiertes Wachstum zu erlauben, als Gefahr für die Herrschaft der Bolschewiki ausmachte, war das nicht völlig aus der Luft gegriffen. Es wäre tatsächlich wahrscheinlich früher oder später auf die Notwendigkeit eines Klassenkompromisses mit den Bauern und den sonstigen sozialen Nutznießern der NÖP hinausgelaufen – genau das, was Lenin in seinen Reden und Schriften zur Einführung der NÖP als drohende Gefahr erkannt hatte, die die Partei aber, so seine Überzeugung, neutralisieren könne, wenn sie die politische Kontrolle fest in der Hand behalte.

    Die »Scherenkrise« der späten 1920er Jahre (der Umstand, dass die Preise für Industrieprodukte beständig stiegen, während landwirtschaftliche Güter immer niedriger vergütet wurden) demonstrierte der sowjetischen Führung, dass das so einfach nicht war. Von daher gewann der Gedanke, den gordischen Knoten widerstreitender Klasseninteressen lieber früher als später zu durchschlagen, an Plausibilität. Dass dies einen neuen Bürgerkrieg lostreten könnte, war für niemanden in der Parteiführung eine Überraschung; die passende Theorie über den im Verlaufe des Aufbaus des Sozialismus angeblich immer schärfer werdenden Klassenkampf war schnell postuliert, und das für den Sieg in diesem neuen Bürgerkrieg absehbar erforderliche Maß an Gewalt gegen einen Teil der eigenen Gesellschaft, den man noch vor kurzem als Verbündeten der Arbeiterklasse hofiert hatte, bereitete den überlieferten Quellen zufolge nur wenigen in der Parteiführung Probleme, schon gar keine moralischen. Alle Beteiligten hatten den ersten Bürgerkrieg mitgemacht und waren überzeugt, dass dies eben die Regeln des politischen Kampfes seien. Man kann dies im nachhinein bedauern oder kritisieren, aber solche Kritik bleibt moralisch, solange nicht erkannt wird, dass der Handlungs- und Vorstellungsraum der damaligen politischen Akteure eben durch die Gewalterfahrung von Revolution und Bürgerkrieg geprägt worden war.

    Keine Beweise

    All dies ist in der russischen und auch internationalen Forschung umfassend diskutiert worden. Die führende Studie dazu stammt von dem an der russischen Universität Penza lehrenden Historiker Wiktor Kondraschin,² und die Überzeugungskraft des ukrainischen Narrativs könnte insbesondere durch die Tatsache geschmälert werden, dass dieses gut 500 Seiten starke Werk 2008 unter Schirmherrschaft der inzwischen in Russland verbotenen, antisowjetischen NGO »Memorial« und im Verlag des »Jelzin-Zentrums« in Jekaterinburg herausgegeben wurde, also von aus westlicher Sicht »guten« Russen. Auch der notorische Kommunistenfresser Jörg Baberowski von der Humboldt-Universität in Berlin hat sich im Kern dieser Argumentation angeschlossen,³ und sogar die US-Historikerin und -Journalistin Anne Applebaum, die sich in ihrem seit 2010 aus offenkundig ideologischen Beweggründen unter Nutzung ganz überwiegend ukrainischer Quellen entstandenen Buch »Roter Hunger«⁴ bemüht hat, für ein breiteres Lesepublikum die spezielle ukrainisch-nationalistische Sichtweise auf den tragischen Verlauf der Kollektivierung im Westen zu popularisieren, kommt nicht umhin, im Nachwort zu diesem umfangreichen Werk zuzugeben, dass die Argumentation der »funktionalistischen« Historiker wie Wiktor Kondraschin »teilweise richtig« sei.⁵

    Auch Applebaum schafft es nicht, den schlüssigen Beweis zu führen, dass die Opfer der Kollektivierungsphase nicht die Folge einer mit höchster Beschleunigung und maximalem Gewalteinsatz durchgesetzten Enteignung der Bauern, konkret der Rücknahme der Agrarrevolution der Jahre 1918 bis 1920, gewesen sei, sondern der Ausdruck einer gezielt gegen die Ukraine und ihre Bevölkerung gerichteten Politik der Bolschewiki. Ihr Trick besteht darin, parallel auf zwei Ebenen zu argumentieren und die Gleichzeitigkeit der Ereignisse auf beiden zum Beleg ihres inneren Zusammenhangs zu erklären, konkret: die Kollektivierung auf der einen Seite und das Zurückdrängen der nationalukrainischen Einflüsse im Kulturleben der ukrainischen Sowjetrepublik ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auf der anderen Seite.

    Selbst wenn man Applebaums These folgt, dass die siegreichen Bolschewiki nach 1917 in mehreren Teilen des Imperiums, das sie aus der Konkursmasse der provisorischen Regierung übernommen hatten, mit nationalen Abspaltungsbewegungen konfrontiert gewesen seien, von denen die in der Ukraine für sie aus verschiedenen Gründen die gefährlichste gewesen sei und sie deshalb über Jahre bemüht waren, diese politisch zu neutralisieren, ist die Folgerung der Autorin, die vielen Kollektivierungsopfer in der Ukraine seien primär Ausdruck einer antiukrainischen Kampagne gewesen (was waren sie dann in Russland oder Kasachstan?) nicht zwingend.

    Mit der Parallelisierung beider Entwicklungen versucht sich Applebaum um ein zentrales Beweisproblem herumzudrücken, das Politik und Rechtsprechung seit der Entwicklung des Genozidbegriffs durch den polnischen Juristen Raphael Lemkin in den 1940er Jahren im US-Exil prägt: Lemkin hatte in seiner Pionierstudie »Axis Rule in Occupied Europe« (1944) Genozid definiert als einen »koordinierten Plan verschiedener Aktionen, der auf die Zerstörung essentieller Grundlagen des Lebens einer Bevölkerungsgruppe gerichtet ist mit dem Ziel, die Gruppe zu vernichten«.⁶ Lemkin setzt also erstens Absicht voraus, und zweitens das Ziel, die Zielgruppe des Völkermordes insgesamt zu vernichten. Applebaum räumt selbst ein, dass die Kollektivierungskampagne Stalins dieses Ziel gar nicht verfolgt habe⁷; gleichwohl ist sie bemüht, einen Genozid zu suggerieren. Sie erreicht das, indem sie das Element der Intentionalität aus dem Vorgehen gegen die ukrainische Intelligenz entnimmt (die ja aber nur ein Teil der ukrainischen Bevölkerung war und an der sich – sogar im hypothetischen Fall ihrer vollständigen Vernichtung – das Kriterium der universellen Mordabsicht nicht hätte demonstrieren lassen können) und mit dem Element der Massenhaftigkeit der Repression aus dem Vorgehen gegen die Bauern in der Ukrai­ne (das sich aber nicht auf diese Republik beschränkte) verbindet.

    Politische Motive

    Applebaum räumt im Nachwort, das der »Wiederkehr der ukrainischen Frage« im Zuge der Diskussion um den »Holodomor« gewidmet ist, verklausuliert ein, dass die von ihr im übrigen propagierte These vom antiukrainischen Völkermord Resultat einer politischen Absichtserklärung unter dem »prowestlichen« ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko (2005–2010) gewesen sei, demselben Juschtschenko, der politisch stark unter dem Einfluss der ukrainischen Diaspora in den USA und Kanada stand und dessen politischer Nachlass im wesentlichen darin besteht, dass er 2006 die Hungersnot zum Genozid und 2010 den Antisemiten und Nazikollaborateur Stepan Bandera sowie etliche seiner Gesinnungsgenossen zu »Helden der Ukrai­ne« erklärt hat. Applebaum ist sich übrigens völlig klar über den manipulativen Charakter von Juschtschenkos Holodomor-Argumentation: »Juschtschenko verstand die Macht der Hungersnot als einigende nationale Erinnerung der Ukrainer (…). Zweifellos politisierte er sie, (…) einige seiner Zahlenangaben waren übertrieben«.⁸

    Der schwedische Historiker Per Anders Rudling hat rekonstruiert, wie die Legende vom Hungerverbrechen an den Ukrainern entstanden ist.⁹ Nach seinen Erkenntnissen haben die ehemaligen ukrainischen Nazikollaborateure, die sich nach 1945 mit Protektion insbesondere des britischen Geheimdienstes trotz ihrer den Alliierten bekannten Nazivergangenheit über den Atlantik retten konnten,¹⁰ die Erzählung vom »Holodomor« in den späten 1970er Jahren entwickelt, als unter dem Eindruck der US-Fernsehserie »Holocaust« (1978) die Auswirkungen der Debatte über die Akteure und Profiteure der Judenvernichtung in Osteuropa spürbar wurden; mit einer Gegenerzählung hätten sie versucht, von ihrer eigenen Verwicklung bzw. der ihrer Organisationen in jene Verbrechen abzulenken. Es ist eine Chuzpe, wie sie in ukrainischen Nationalistenkreisen kein Einzelfall ist. Andrij Melnyk, der langjährige Botschafter der Ukraine in der Bundesrepublik, hat nie etwas dabei gefunden, sich einerseits als Bandera-Fan zu outen, andererseits aber die deutsche Gesellschaft an die Naziopfer in der Ukraine zu erinnern.

    Es ist also eine ausgesprochen trübe Suppe, aus der der Bundestag seinen Holodomor-Beschluss geschöpft hat. Die Frage ist, warum; nur die Tatsache, dass zuvor bereits die Parlamente Kanadas (2008) und der USA (2010) ähnliche Beschlüsse gefasst haben, kann es nicht gewesen sein, sie bindet den Bundestag ja nicht. Unkenntnis kann auch nicht geltend gemacht werden, schließlich unterhält der Bundestag »Wissenschaftliche Dienste«, die genau die Aufgabe haben, die politisch Verantwortlichen auf Unsicherheiten, Zweifelsfälle und potentielle Peinlichkeiten hinzuweisen, bevor sie politisch aktenkundig werden.

    Allerdings ist es dann die politische Entscheidung der Abgeordneten, ob sie diesen Ratschlägen folgen. Dass sie das nicht tun, wenn ihnen die Schlussfolgerung der Experten nicht in den Kram passt, hat bereits im Frühjahr dieses Jahres die Auseinandersetzung um die Frage gezeigt, ob es eine indirekte Kriegsbeteiligung sei, wenn die Bundeswehr ukrainische Soldaten auf deutschem Boden ausbilde.¹¹ Während die Experten dies bejahten, beschloss die große Mehrheit der Abgeordneten, diese Bedenken zu ignorieren und mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten auf deutschem Boden fortzufahren. Nach genau derselben Logik ignorierten die Parlamentarier jetzt die schwache Argumentationsgrundlage und die fragwürdige Entstehungsgeschichte des »Hunger-Genozids«.

    Schlag gegen Russland

    Es liegt nahe anzunehmen, dass es die Absicht der den Beschluss tragenden Fraktionen ist, Russland auf geschichtspolitischer Ebene einen symbolischen Schlag zuzufügen. Mehr ist es in der Sache nicht, auch wenn sich jetzt schlechtinformierte Leitartikler auf den Bundestagsbeschluss berufen können, um dessen Inhalt nachzuplappern. Was der Beschluss aber tatsächlich bezwecken soll, ist nicht recht absehbar. Die Vermutung, hier solle durch die Unterstellung eines »sowjetischen Holocaust« die Bedeutung des von Deutschland ins Werk gesetzten Völkermords an den europäischen Juden relativiert werden, wirkt wenig überzeugend. Zu gut hat die bundesdeutsche Geschichtsmoral genau mit der – billig zu habenden – Anerkennung der »Einzigartigkeit« der deutschen Verbrechen international Punkte gemacht, nicht zuletzt in Israel, das aus der Behauptung dieser Einzigartigkeit ein Element seiner Staatsräson gemacht hat. Wozu sich an dieser Stelle den Ärger einhandeln, den sich die Ukraine bereits 2019 eingefangen hat, als Präsident Wolodimir Selenskij Israel aufgefordert hat, die Anerkennung der Hungersnot der frühen 1930er Jahre als mit dem Holocaust vergleichbar vorzunehmen.¹² An der Stelle hört für Israel der Spaß auf. Das ukrainische Ansinnen wurde brüsk zurückgewiesen.

    Das hindert die ukrainische Seite freilich nicht, für ein Publikum ohne philologische Kenntnisse diese Gleichsetzung über den ähnlichen Anlaut der beiden Wörter »Holodomor« und »Holocaust« zu suggerieren. Dabei hat das eine slawische und das andere griechische Wurzeln, beide haben also nichts miteinander zu tun. Trotzdem hat sich das Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften nicht entblödet, 2009 den Artikel einer rumänischen Autorin zu veröffentlichen, der diese peinliche Dummheit zumindest als Eingangsfrage wiederholt.¹³

    Eher könnte die Resolution der Versuch sein, die innerdeutsche Debatte zu zensieren. Denn schon im Oktober ist das Strafgesetzbuch um einen Paragraphen 130b erweitert worden, der »das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen« unter Strafe stellt.¹⁴ Damit wäre auch das juristische Dilemma umschifft, dass zwar eine Bestrafung nur auf Grund eines Gesetzes möglich ist, dass jedoch der Inhalt der neuen Vorschrift nicht präzisiert, was das Kriterium solcher »Verharmlosung« ist: womöglich auch ein inhaltlich fragwürdiger und von seinem Charakter her rein deklarativer Parlamentsbeschluss ohne Gesetzeskraft. Wenn sich der Bundestag von ukrainischen Geschichtsideologen vorschreiben lässt, was in Deutschland gesagt und geschrieben werden darf, wäre dies nicht verwunderlich, nachdem das politische Berlin die monatelangen Pöbeleien eines Andrij Melnyk widerstandslos hingenommen hat. Insofern ist leider, so belanglos die Resolution inhaltlich ist, Schlimmes für die Diskussionsfreiheit in Deutschland zu befürchten: die Melnykisierung des Diskurses.

    Anmerkungen:

    1 http://orka.sejm.gov.pl/proc8.nsf/uchwaly/1128_u.htm, Beschluss vom 15.12.2016

    2 Wiktor Kondraschin: Golod 1932-33gg. Tragedija sowetskoj derewni (Der Hunger der Jahre 1932/33. Die Tragödie des sowjetischen Dorfes), Moskwa 2008, online unter: http://library.khpg.org/files/docs/1388162603.pdf

    3 Jörg Baberowski: Die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Terror gegen die Kulaken (2007), https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1311

    4 Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine, München 2019

    5 Ebd., S. 440 f.

    6 »a coordinated plan of different actions aiming at the destruction of essential foundations of the life of national groups, with the aim of annihilating the groups themselves«. Rafael Lemkin: Axis Rule in Occupied Europe. Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposals for Redress, New Jersey 2005 [1944], S. 79

    7 Applebaum, a. a. O., S. 437: »Der Holodomor entspricht diesem Kriterium nicht. Die ukrainische Hungersnot war nicht der Versuch, jeden Einzelnen Ukrainer zu vernichten, außerdem endete sie im Sommer 1933, bevor sie das gesamte ukrainische Volk auslöschen konnte.«

    8 Ebda., S. 438:

    9 Per Anders Rudling: Memories of »Holodomor« and National Socialism in Ukrainian political culture. In: Yves Bizeul (Hg.): Rekonstruktion des Nationalmythos? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich. Göttingen 2013. S. 227-258

    10 Richard Breitman; Norman J. W. Goda: Hitler’s Shadow. Nazi Criminals, US Intelligence, and the Cold War, Washington D.C. 2007, online unter: https://www.archives.gov/files/iwg/reports/hitlers-shadow.pdf

    11 Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme (16.3.2022), https://kurzelinks.de/Wissenschaftlicher_Dienst

    12 https://www.president.gov.ua/en/news/glava-derzhavi-zaklikav-izrayil-viznati-golodomor-aktom-geno-56861

    13 Alexandra Ilie: Holodomor, the Ukrainian Holocaust? In: Studia Politica: Romanian Political Science Review 11 (2011), No. 1, 137-154, https://kurzelinks.de/Ukrainian_Holocaust

    14 https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9096

    #Ukraine #URSS #Russie #histoire #génocide #stalinisme

  • Widerspruch verschwunden
    https://www.jungewelt.de/artikel/440114.linke-debatte-widerspruch-verschwunden.html

    5.12.2022 von Christian Stache - Konsum und Klassengesellschaft, hier in der Kölner Innenstadt

    Es hatte sich schon bei den zuvor publizierten Aufsätzen und Vorträgen abgezeichnet, die in diesem Buch zu Kapiteln verarbeitet wurden, dass die US-Professorin für Philosophie und Politikwissenschaften eine neue große Erzählung vorbereitete. Mit »Cannibal Capitalism« legt Nancy Fraser nun ihre neue, »strukturell« und »historisch« angelegte Kapitalismustheorie vor. Mit ihr beansprucht sie nichts Geringeres, als die gegenwärtige Entwicklungsphase und »allgemeine Krise« auf den Begriff zu bringen, um damit »die Beziehungen der verschiedenen Kämpfe unserer Zeit« zueinander zu klären und deren »fortgeschrittenste Elemente in einem antisystemischen Block« zusammenzuführen.

    Frasers Update kritischer Gesellschaftstheorie ist das Buch zum neuen Katechismus der herrschaftskritischen Bewegungslinken im Westen, ihre Abhandlung sicher die elaborierteste intersektionale Kapitalismustheorie, die es bis dato gibt. Dazu trägt auch die Darbietung der keineswegs trivialen Argumentation in einer Allgemeinverständlichkeit bei, die an Lenin erinnert. Aber der entscheidende Grund ist Frasers maßgeblicher theoretischer Schachzug, den sie im ersten von sechs Kapiteln darlegt. Dieser besteht darin, den Kapitalismus als »eine institutionalisierte Sozialordnung« zu konzipieren. Mit diesem Begriff bezeichnet sie ihre »Revision« der marxschen Theorie, derzufolge der Kapitalismus ein Set unterschiedlicher, miteinander in Wechselwirkung stehender und gleichrangiger Felder mit jeweils spezifischen »Sozialontologien« ist.

    Die kapitalistische Ökonomie ist eines dieser Felder. Aber gegen Marx behauptet die Autorin, dass dessen »verborgene Stätte der Produktion« auf vier »nichtökonomischen Hintergrundbedingungen« basiere, die die Ausbeutung in der Ökonomie erst ermöglichten und – »das echte Geheimnis der Akkumulation« – diese immer um Überausbeutung und Enteignung ergänzten. Zu diesen Voraussetzungen der Kapitalakkumulation zählt Fraser die soziale Reproduktion, die Ökologie, das politische Gemeinwesen und die »Enteignung« rassistisch abgewerteter Lohnabhängiger in den Zentren und in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems.

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    Die »institutionalisierte Trennung« zwischen diesen, nach eigenen »normativen Grammatiken« funktionierenden »Zonen« und der auf Anhäufung von Kapital ausgerichteten Ökonomie sowie das dialektische Zusammenwirken beider Bereiche seien »konstitutiv für den Kapitalismus«. Generell kannibalisiere die kapitalistische Wirtschaft ihr Außen, so dass mit systemischer Notwendigkeit vier weitere, dem Kapitalismus inhärente »Widersprüche« entstünden, die zwangsläufig periodisch in Krisen mündeten. Die konkrete Ausgestaltung der Beziehung zwischen bürgerlicher Ökonomie und ihren Vorfeldern obliege sogenannten Grenzkämpfen an den jeweiligen Berührungslinien.

    Im Anschluss entwickelt Fraser in den folgenden vier Kapiteln die ihrer Meinung nach »strukturellen« Grenzbeziehungen zwischen der kapitalistischen Wirtschaft auf der einen und der sozialen Reproduktion, der Natur, der Politik und der Extraaneignung fremder Arbeit durch Rassismus auf der anderen Seite. Ergänzt werden diese Ausführungen jeweils um ihr »historisches« Argument. Denn alle Zonen der Sozialordnung existierten immer nur als geschichtlich besondere »Akkumulationsregime«, in denen die fünf Konstituenzien des Kapitalismus vorübergehend eine stabile Einheit bilden.

    Die vier Phasen kapitalistischer Entwicklung sind laut Fraser der »Handelskapitalismus« (16. bis 18. Jahrhundert), der »liberal-koloniale Kapitalismus« (19. Jahrhundert), der »staatlich verwaltete Monopolkapitalismus« (Mitte des 20. Jahrhundert) und der heutige »finanzialisierte Kapitalismus«. Die Übergänge zwischen diesen markierten »allgemeine« beziehungsweise »epochale Krisen« der Sozialordnung, in denen die fünf möglichen Teilbereichskrisen zusammenfallen. Es ist unschwer zu erraten, dass Fraser die gegenwärtige Krise ebenfalls als eine solche deutet, die fortschrittlich nur durch einen analog zum Kapitalismus »erweiterten Sozialismus« gelöst werden kann, der im abschließenden Kapitel kurz umrissen wird.

    Fraser formuliert das zentrale Problem zeitgenössischer Gesellschaftskritik; und die zu formulieren, führt kein Weg an der Auseinandersetzung mit ihr vorbei. Aber mit ihrer Erklärung für das Zusammenwirken verschiedener Formen der Ausbeutung und Herrschaft ebnet sie die Sonderstellung des Kapitalverhältnisses in der bürgerlichen Gesellschaftsformation – der eigentliche Begriff, dessen Platz Frasers »institutionalisierte Sozialordnung« beansprucht – ein und verkehrt das Verhältnis von ökonomischer Ausbeutung und politischer Herrschaft. Entsprechend verschwindet bei ihr der Klassenwiderspruch als übergreifender, und die Historie des Kapitalismus wird wieder als politische Geschichte erzählt. Zudem wird die an Karl Polanyi anschließende Idee, die Beziehungen der Klassen zur Natur, sozialen Reproduktion und so weiter als eine »der Ökonomie« zu ihrem Außen zu konzipieren, diesen nicht gerecht.

    Nancy Fraser: Cannibal Capitalism. How Our System Is Devouring Democracy, Care, and the Planet – and What We Can Do About It. Verso, London 2022, 208 Seiten, 14,99 Pfund

  • Suche nach dem zweiten Auschwitz
    https://www.jungewelt.de/artikel/440157.geschichtspolitik-suche-nach-dem-zweiten-auschwitz.html

    Ca y est, le Bundestag vient de voter une résolution qui soutient la position que la grande famine dans URSS sous Staline aurait été une mesure censée éradiquer le peuple ukrainien, un génocide d’envergure historique. Quand on connaît l’histoire de l’Union Soviétique et la politique de Staline on sait que cette famine est le résultat d’une politique inhumaine qui touchait la population de plusieurs régions de l’immense pays, qu’elle ne visait aucunement les Ukrainiens en tant que tels et que les nationalistes ukrainiens d’aujourd’hui essayent d’établir le terme Holodomor malgré sa ridicule réminiscence tolkinienne (c’est un anagramme de Mordor , le pays du mal dans la trilogie Le Seigneur des anneaux ) comme synonyme d’ Auschwitz 2.0 .

    Soit. Melnyk et les autres admirateurs de Bandera ont réussi à faire marcher les politiciens allemands peu scrupuleux en matière de vérité historique et très enclins à donner l’exemple aux alliés étatsuniens que les barbares que nous sommes considèrons tous comme un peu arrièrés depuis la présidence du clown aux racines teutones.

    Sur la scène politique allemande on aura l’occasion de poursuivre le jeux amusant appellé « Trouvez le véritable Génocide ». Les cartes sur table affichent un NON pour les peuple africains victimes du colonialisme allemand. La carte des interventions historiques en Chine aussi affiche NON simplement car nos compatriotes ne disposaient pas encore d’outils suffisamment efficaces pour anéantir un peuple qui comptait déjà par centaines de millions. On a donc laissé la chance d’en accomplir la tâche dans un avenir incertain à notre allié d’ôutre mer. La place de l’Avenue des Champs-Élysées et de la rue de la Paix dans notre Monopoly barbare sera évidemment occupée par le couple Holocauste et Holodomor malgré le petit risque de confusion suite à la possibilité éventuelle d’une participation de victimes du deuxième génocide au premier. Pas grave, ce n’est qu’un jeu qu’il ne faut pas prende trop au sérieux, pas vrai ? On y risque pas grand chose, non ?

    Vous comprenez que l’abandon de toute réserve civilisée par nos élus me fasse abandonner une vision politique des choses et me force au rire sardonique l’unique option amusante pour les Muselmänner et morts en vacances dont je crains faire désormais partie.

    30.11.2022 von Nico Popp - Der Bundestag hat am Mittwoch abend per Mehrheitsbeschluss die Hungerkatastrophe in mehreren Teilrepubliken der UdSSR in den Jahren 1932 und 1933 als gegen das ukrainische Volk gerichteten Genozid eingestuft. Der entsprechende Antrag war von den drei Regierungsfraktionen und der Unionsfraktion eingebracht worden. In Anwesenheit des ukrainischen Botschafters Oleksij Makejew und des stellvertretenden ukrainischen Außenministers Andrij Melnyk stimmten die Abgeordneten von SPD, Grünen, FDP und Unionsparteien für den Antrag. Die Abgeordneten von Die Linke und AfD enthielten sich. Es gab keine Gegenstimmen.

    »Aus heutiger Perspektive« liege »eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe«, heißt es in dem beschlossenen Antrag. Der Bundestag »teilt eine solche Einordnung«. Der »Holodomor« reihe sich ein »in die Liste menschenverachtender Verbrechen totalitärer Systeme, in deren Zuge vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen Menschenleben ausgelöscht wurden«.

    Die Antragsteller haben den »Holodomor«-Beschluss direkt mit aktuellen außenpolitischen Fragen verknüpft. In dem Dokument wird die Bundesregierung aufgefordert, »die Ukraine als Opfer des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands und der imperialistischen Politik Wladimir Putins im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel weiterhin politisch, finanziell, humanitär und militärisch zu unterstützen«.

    Vor der Beschlussfassung fand eine etwa dreiviertelstündige Aussprache zu dem Antrag statt. Robin Wagener (Grüne), Vorsitzender der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe, stellte fest, »der Horror« habe »seine Ursache im Kreml« gehabt. Es sei um die Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins, von Sprache und Kultur gegangen. Man sehe hier die »brutale Wahrheit stalinistischer Gewalt«. Zweck des Antrags sei allerdings nicht, die deutschen Verbrechen in der Sowjetunion zu relativieren.

    Der CDU-Abgeordnete Michael Brand behauptete, die Ukraine sei von der sowjetischen Führung zum Opfer eines Völkermordes gemacht worden. »Es wurde systematisch selektiert«, so Brand. »Nie wieder darf weder in deutschem noch im russischen Namen geschehen, was durch den Holodomor und die Nazis an Massenmord in der Ukraine begangen wurde«, sagte der Abgeordnete. Das sei die »Lehre der eigenen deutschen Geschichte«. Brand beschwerte sich darüber, dass kein einziger Bundesminister anwesend sei und beendete seine Rede mit dem ukrainischen Nationalistengruß »Slawa Ukrajini«.

    Die SPD-Abgeordnete Gabriela Heinrich gab sich überzeugt, dass das »ungeheure Verbrechen« nicht auf Missernten zurückzuführen sei. Der Bevölkerung sei das Essen einfach weggenommen worden. Ziel sei die Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins gewesen; es handele sich um eine gewollte und geplante Hungersnot.

    Für die AfD nutzte der Abgeordnete Marc Jongen die von der Ampel und der Union geschaffene günstige Gelegenheit zu einem kleinen geschichtsrevisionistischen Rundumschlag. Den »Holodomor« nannte Jongen eines der großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Lenin habe das 1922 bereits »angekündigt«. Die Lehre müsse sein, dass die »sozialistische Ideologie« abzulehnen und zu bekämpfen sei, wo immer sie »in neuer Verkleidung ihr scheußliches Haupt erhebt«. Das gelte für die »nationalsozialistische Variante« wie auch für die »internationale Variante«, die sich hinter »wohlklingenden Parolen« wie »Gerechtigkeit oder Fortschritt versteckt«. Die AfD habe vor drei Jahren über den »Holodomor« informiert, damals habe es aber kaum jemanden interessiert. Das »linkslastige politische Establishment« habe bei »Verbrechen im kommunistischen Machtbereich« jahrzehntelang weggeschaut. Man komme ja auch bei dem »Gedenken an die SED-Verbrechen« nicht recht voran. Jongen wandte sich im weiteren Verlauf seiner Rede gegen die »Instrumentalisierung der Geschichte« im Kontext des Ukraine-Krieges; die AfD lehne das ab.

    Der FDP-Abgeordnete Ulrich Lechte sah in dem »Massenmord« eine Strafe für den Widerstand gegen die Zwangskollektivierung und für die Ablehnung der sowjetischen Herrschaft. Die Hungerkatastrophe sei »politisch künstlich herbeigeführt« und »systematisch durchgeführt« worden.

    Für die Fraktion Die Linke sprach Gregor Gysi. »Terroristische Industrialisierung und Zwangskollektivierung« seien ein »schlimmes Verbrechen« gewesen. Stalin habe sich freilich gegen alle gewendet, die diese »terroristische Industrialisierung und Zwangskollektivierung« abgelehnt haben – also nicht nur gegen Ukrainer. Der Petitionsausschuss des Bundestages habe 2017 festgestellt, dass manches gegen eine Einstufung des »Holodomor« als Völkermord spreche. Auch der Europarat habe das abgelehnt. Beim Lesen des vorliegenden Antrages erhalte man den Eindruck einer »Gleichstellung« von Hitler und Stalin. In Deutschland aber solle man die »Suche nach einem zweiten Hitler und nach einem zweiten Auschwitz aufgeben«. Gysi verwies darauf, dass die Außenministerin Russland soeben einen Zivilisationsbruch vorgehalten habe - »ein Begriff, der bislang ausschließlich für die Shoah angewandt wurde«. Das sei »mehr als bedenklich«. Die Linke verurteile das Verbrechen, könne also nicht gegen diesen Antrag stimmen. Die Kritik verbiete auch eine Zustimmung. Man enthalte sich deshalb.

    https://fr.wikipedia.org/wiki/Muselmann

    Eugen Leviné
    https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Levin%C3%A9

    Aus seiner Verteidigungsrede vor Gericht stammt der bekannte Satz: „Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub.“ Am 3. Juni 1919 wurde er wegen Hochverrat zum Tode verurteilt und zwei Tage später im Gefängnis Stadelheim erschossen.

    #Ukraine #Allemagne #politique #guerre

  • Revolution von oben
    https://www.jungewelt.de/artikel/439565.aufkl%C3%A4rer-und-bonapartist-revolution-von-oben.html

    25.11.2022 von Marc Püschel - »Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: Dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahre 2440 überlassen, wenn sie anders je für den Menschen gemacht ist.« Als der Hannoveraner Karl August von Hardenberg (#Hardenbergstraße, #Hardenbergplatz) dies 1807 niederschreibt, ist es eigentlich schon keine Provokation mehr. Von Napoleon lernen heißt siegen lernen, das wusste ganz Europa in diesen Tagen. Und doch war es nicht selbstverständlich, sich inmitten einer allgemeinen Reaktion gegen Frankreich nicht dessen militärisches oder diplomatisch-außenpolitisches, sondern gerade das innenpolitische Reformprogramm zum Vorbild zu nehmen. Es bedurfte eines außergewöhnlichen Staatsmannes, um dies in Preußen (#Preußenallee, #Preußenstraße) durchzuführen.
    Frühe Reformversuche

    Hardenberg wird 1750 in eine Adelsfamilie geboren, die traditionell im Dienste Hannovers stand. Sein Vater diente sich in der Armee des Kurfürsten Georg III. (der zugleich König Großbritanniens war) bis zum Generalfeldmarschall hoch. Für die damalige Zeit des aufgeklärten Absolutismus in der deutschen Kleinstaatenwelt ist Karl Augusts Lebenslauf geradezu typisch: 1766 immatrikuliert er sich zum Studium der Jurisprudenz in Göttingen, das allerdings mehr ein Vorwand ist, um sich über die Jahre einen breiten Bildungshorizont – von antiker Philologie, Musik, Philosophie bis hin zu Staatswissenschaft und Manufakturwesen – zu erwerben. Auf einer »Kavaliersreise« durch das Heilige Römische Reich im Jahr 1772 fällt ihm die Reformbedürftigkeit der Reichsinstitutionen ins Auge, und so nimmt es nicht Wunder, dass er, als er 1775 eine Stelle als Kammerrat in Hannover annimmt, sogleich den Dienstherren mit hochfliegenden Reformvorschlägen aufwartet. Doch seine Forderungen nach einer zentralstaatlichen Regierung und einer unabhängigen Beamtenschaft (die sich damals weitestgehend durch Entgelte, die Untertanen für Amtshandlungen zu bezahlen hatten, finanzierte) stoßen auf taube Ohren.

    Auch ein Herrscherwechsel bringt nicht die gewünschte Macht. Zwar erlangt Hardenberg in den 1780er Jahren eine einflussreiche Ministerstelle in Braunschweig (#Braunschweiger_Straße), doch als die Französische Revolution ausbricht und die deutschen Landesherren es mit der Angst zu tun bekommen, ist an größere Reformen nicht mehr zu denken. Ein glücklicher Zufall verschafft dem ambitionierten Hardenberg doch noch Einfluss: Preußen sucht 1790 einen leitenden Minister für die Markgrafschaften Ansbach (#Ansbacher_Straße)und Bayreuth (#Bayreuther_Straße) , die von einer Nebenlinie des Hauses Hohenzollern (#Hohenzollerndamm, #Hohenzollernplatz, #Hohenzollernstraße u.v.m.) regiert werden, aber formell unabhängig bleiben sollen, um keine außenpolitischen Querelen auszulösen. Friedrich Anton von Heynitz, preußischer Minister für Bergwerksangelegenheiten, schafft es, in Potsdam (#Potsdamer_Straße) seinen entfernten Verwandten Hardenberg für diesen Posten durchzusetzen. Plötzlich findet sich der Hannoveraner als »Vizekönig« in Franken (#Frankenallee) wieder, mit freier politischer Hand und nur dem preußischen König (#Königsallee u.v.m.) rechenschaftspflichtig. Sein Reformprogramm konnte er dennoch nicht ohne weiteres durchsetzen. Insbesondere mit dem fränkischen Adel, nach dessen Geschmack der Aufklärer Hardenberg nicht eben war, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, die letztlich ungelöst bleiben. Als 1797 in Preußen der neue König Friedrich Wilhelm III. (#Friedrich_Wilhelm_Platz) den Thron besteigt, zieht es den ehrgeizigen Hardenberg weiter nach Berlin (#Berliner_Straße, #Berliner_Allee). Frucht seiner Arbeit in Franken ist immerhin ein Kreis von loyalen und kompetenten Beamten, darunter Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum Altenstein, der später der wichtigste Förderer Hegels (#Hegelplatz) in Berlin werden wird.
    Zwischen den Fronten

    In Berlin angekommen, ist Hardenberg schnell mit der schwierigen außenpolitischen Lage Preußens konfrontiert. Von dem zögerlichen Friedrich Wilhelm III. regiert, schwebt das Land knappe zehn Jahre in einer prekären Neutralität, eingekeilt zwischen einem Jahr für Jahr mächtiger werdenden Frankreich und dem Block seiner Gegner Russland, Österreich und England (#Englische_Straße). Hardenberg, seit 1804 der für Außenpolitik zuständige leitende Kabinettsminister, steht zwar politisch Napoleon näher als alle anderen seiner Kollegen, ist aber hellsichtiger Realpolitiker genug, um die schließliche Übermacht von dessen Gegnern vorauszusehen. Noch während sein König Napoleon und Talleyrand den Schwarzen Adlerorden verleiht, streckt Hardenberg seine Fühler nach Russland aus und riskiert damit – der letztlich zustandegekommenen Defensivallianz Preußens mit Russland von 1804 zum Trotz – seine Karriere.

    Angesichts des militärischen Genies Napoleons erscheint Hardenberg zunächst als Verlierer der Geschichte. Nachdem Frankreich im Dezember 1805 bei Austerlitz die russisch-österreichische Armee besiegt hatte, schlägt das Pendel auch in Berlin nach Westen aus: Preußen wird mit dem »Pariser Vertrag« (#Pariser_Platz, #Pariser_Straße) vom 15. Februar 1806 faktisch Frankreichs Verbündeter und erhält dafür Hannover (#Hannoversche_Straße). In den Genuss, quasi seine Heimat mitzuregieren, kommt Hardenberg nicht. Napoleon, der genau weiß, wer sein wichtigster preußischer Gegenspieler ist, fordert seine Entlassung als »Feind Frankreichs«. Der politisch isolierte Hardenberg wird nach einem Rücktrittsgesuch beurlaubt, hält aber von seinem Landgut Tempelberg aus weiterhin den Kanal nach Russland offen – im Auftrag des preußischen Königs. Dessen außenpolitische Sprünge werden immer gewagter: Als er Mitte 1806 erfährt, dass Frankreich (#Französische_Straße) überlegt, mit England Frieden zu schließen und den Briten Hannover zurückzugeben, lässt er in einem fast schon irrationalen Akt die preußische Armee mobilisieren. Für Napoleon ist das politisch isolierte Preußen mehr lästig als ein ernsthaftes Problem. Nach den deutlichen Niederlagen von Jena (#Jenaer_Straße) und Auerstedt im Oktober 1806 besetzt er große Teile des norddeutschen Königreichs und macht es zu einem Satellitenstaat. Friedrich Wilhelm III. muss nach Ostpreußen fliehen, das nach der in einem Patt endenden Schlacht bei Eylau (#Eylauer_Straße) im Februar 1807 immerhin sicher ist. Hier, am äußersten östlichen Rand des Königreichs, eingeklemmt zwischen Frankreich und Russland, die im Juli 1807 auf Kosten des territorial stark geschrumpften Preußens den Frieden von Tilsit schließen, wird Friedrich Wilhelm III. klar, dass es politisch nicht mehr weitergehen kann wie bisher. Die »französische Partei« an seinem Hofe, die innenpolitisch alles beim Alten belassen will, ist schlagartig erledigt. Der »Russenfreund« Hardenberg, der französisch regieren will, ist dagegen plötzlich der Mann der Stunde.
    Der Berg zum Propheten

    Preußen macht sich in diesen Jahren an ein Reformprogramm, das außerhalb Frankreichs seinesgleichen sucht. Offiziell darf Hardenberg mit der Politik des Landes, das jetzt endgültig unter der Fuchtel Napoleons steht, nichts zu tun haben. Doch glücklicherweise hat er einen Verbündeten, der die Reformpolitik in seinem Sinne am Königshof im wahrsten Sinne des Wortes »durchboxt«.

    Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, Spross eines reichsritterschaftlichen Geschlechts aus Nassau, hatte einen dem Hardenbergs verblüffend ähnlichen Lebenslauf. Wie dieser studierte er in Göttingen Jura, hörte Reichsrecht bei dem berühmten Johann Stephan Pütter, interessierte sich wie Hardenberg unter anderem für Montesquieu und die englisch-schottische Aufklärung und stieg – gleichfalls protegiert von Bergwerksminister Heynitz – in der preußischen Provinz rasch im Staatsdienst auf. In Westfalen wurde Stein zu einem »Fachmann für Frühindustrialisierung«¹ und war bis 1792 Leiter sämtlicher preußischer Bergämter im Westen, bevor er Anfang des neuen Jahrhunderts Minister im Generaldirektorium wurde, der obersten Verwaltungsbehörde Preußens. Wie Hardenberg war ihm jedoch die Staatsstruktur, der er diente, verhasst. Das Generaldirektorium selbst trug noch ein halb mittelalterliches Gepräge und bestand aus einer wüsten Mischung von sachlichen und territorialen Zuständigkeiten, die sich an allen Ecken und Enden überschnitten. Zum Kompetenzwirrwarr trat die Machtlosigkeit: Die eigentlichen Regenten waren die Handvoll Räte des königlichen Kabinetts, denen das Ohr des absoluten Monarchen gehörte; die Minister des Generaldirektoriums besaßen noch nicht einmal ein Vorspracherecht beim König. An eine effiziente, moderne Verwaltung war in diesem Unsystem nicht zu denken. Stein trat an, es zu stürzen.

    Den später oft gebrauchten Titel der »Stein-Hardenbergschen Reformen« trägt diese Umwälzung von oben jedoch zu Unrecht. Im positiven Sinne habe Stein, so urteilt der Historiker Eckart Kehr, gar nichts erreicht. Seine einzige selbständige Tätigkeit bestehe in einem »Verleumdungsfeldzug großen Stils«² gegen die Kabinettsräte, denen er von Amtsunfähigkeit über physische und moralische »Lähmungen« bis hin zur Teilnahme an angeblichen Orgien alles vorgeworfen habe, was man sich ausdenken konnte. Trotz des starken persönlichen Widerwillens, den der König gegen den Hitzkopf Stein hegt, wird dieser im Juli 1807 zum leitenden Staatsminister berufen. Nun ist die Bahn frei für eine umfassende Reformation von Staat und Gesellschaft, mit der Stein inhaltlich jedoch kaum etwas zu tun hat, denn alle neuen Gesetze liegen bereits mehr oder wenig ausformuliert vor – in den Schubladen der Schüler Immanuel Kants.

    Im stillen hatte sich in der entlegenen preußischen Provinz der Philosoph eine Schar örtlicher Beamter als Anhänger herangezogen, in deren Händen nun, ein denkwürdiger Zufall der Geschichte, nach der Flucht des Königs nach Königsberg die faktische Entscheidungsmacht über den neu zu schaffenden Staat liegt. Dieser Kreis war von Kants aufgeklärtem Ideal einer freien, sich selbst entfaltenden Individualität durchdrungen. Und gerade der obrigkeitstreue Einschlag, den Kants populäre Schriften hatten, machte seine Lehre prädestiniert für die Rezeption unter den Staatsdienern. Den Grundsätzen der Französischen Revolution war Kant nicht abgeneigt, doch könne Fortschritt ohne Chaos nur von oben erwartet werden. Der Staat, so fordert es Kant in »Der Streit der Fakultäten«, müsse »sich von Zeit zu Zeit auch selbst reformiere(n) und, statt Revolution Evolution versuchend, zum Besseren beständig fortschreite(n)«.

    Das war nun ganz nach dem Geschmack der Beamten, die Stein die gesellschaftlichen Reformen in die Feder diktierten. Hermann von Boyen (#Boyenallee), der die Heeresreform mit der allgemeinen Wehrpflicht konzipierte, hatte die Kriegsschule in Königsberg (#Königsberger_Straße) besucht und war durch die nebenbei besuchten Kant-Vorlesungen in den Bann der kritischen Philosophie geraten. Theodor von Schön, der das berühmte Oktoberedikt vorformulierte, war Sohn eines der besten Kant-Freunde. Der Königsberger Polizeidirektor Johann Gottfried Frey(#Freybrücke ?) , der die neue Städteordnung von 1808 schrieb, war Freund und Teilnehmer der legendären Tischgesellschaft des Philosophen. Auch Friedrich August von Staegemann und der ostpreußische Provinzialminister Friedrich Leopold von Schrötter, die beide das Oktoberedikt und die Finanzreformen maßgeblich beeinflussten, waren Kantianer. Wilhelm von Humboldt (#Humboldtstraße u.v.m.), Georg Niebuhr (#Niebuhrstraße ) und Stein (#Steinplatz, #Steinstraße) waren es durch ihre philosophische Lektüre ohnehin. Bedeutend war auch der Einfluss von Christian Jakob Kraus, der in Königsberg zunächst Kants (#Kantstraße) Vorlesungen besucht hatte, später dessen Kollege und entscheidend für die Rezeption der ökonomischen Theorien von Adam Smith in Deutschland wurde (der erwähnte Schrötter verpflichtete jeden Mitarbeiter des ostpreußischen Finanzdepartements, dessen Vorlesungen zu besuchen).

    Man kann das Außergewöhnliche dieser Situation gar nicht deutlich genug hervorheben. Mindestens ostelbisch war die altständisch-feudale Gesellschaftsordnung noch völlig intakt, ein freies Wirtschaftsbürgertum, das als revolutionäre Kraft oder auch nur als Opposition hätte fungieren können, gab es damals nicht. Um 1800 herum lebten noch 87 Prozent der preußischen Bevölkerung auf dem Land, und nur etwa eine halbe Millionen Menschen lebte in Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern, die Mehrheit von ihnen einfache Bedienstete, Beamte oder Bildungsbürger.³ Dieser Gesellschaft wurde nun von einer kleinen Gruppe gebildeter Beamter – ökonomisch Smithianer, weltanschaulich-politisch Kantianer – eine bürgerliche Rechts- und Wirtschaftssphäre, wie sie sich in Frankreich revolutionär durchgesetzt hatte, von oben oktroyiert. So hatte ironischerweise der zurückgezogenste Philosoph der Neuzeit, quasi über die Bande seiner Schüler spielend, den wahrscheinlich größten Einfluss auf ein Staatswesen, den ein Philosoph seit der Antike je besessen hatte.

    An der Spitze aller Reformen standen das Oktoberedikt und die Reform der Staatsverwaltung. Ersteres sorgte nicht nur für die Befreiung der Bauern von Leibeigenschaft und Frondiensten, sondern schaffte in den ersten beiden Paragraphen auch die von Friedrich II. eingeführte strikte Trennung von adliger Landwirtschaft und bürgerlichem Gewerbe ab – was dafür sorgte, dass sich in Preußen im Laufe des 19. Jahrhunderts eine der englischen Gentry vergleichbare mächtige ländliche Unternehmerklasse herausbildete. Der Hardenberg-Intimus Schön sah in dem Oktoberedikt eine »Habeas-corpus-Akte der Freiheit« (der bürgerlichen Freiheit wohlgemerkt). Die Staatsverwaltung selbst wurde nun erstmals zentral organisiert, das undurchsichtige Kabinettswesen und das Generaldirektorium wurden durch eine einheitliche Regierung mit den in ihren Zuständigkeiten klar abgegrenzten Ministerien Inneres, Finanzen, Justiz, Außenpolitik und Heereswesen ersetzt.
    Mächtig wie Richelieu

    Hardenberg selbst, der in diesen Jahren ein zurückgezogenes Leben an der Ostsee führt, beeinflusst die Reformpolitik vor allem durch seine berühmte Denkschrift »Über die Reorganisation des Preußischen Staates, verfasst auf höchsten Befehl Seiner Majestät des Königs«, die er im September 1807 in Riga niederschreibt. Darin konstatiert er: »Der Wahn, dass man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der durch solche geltend gemachten Grundsätze entgegenstreben könne, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern und derselben eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, dass der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergange oder der erzwungenen Annahme derselben entgegensehen muss.«

    Auch beschreibt er hier bereits die Position eines leitenden Beamten, in dessen Hand alle Fäden der Verwaltung zusammenlaufen und dem alle anderen Staatsdiener loyal zuarbeiten müssen. Und in seiner »Braunsberger Denkschrift« tritt er 1808 bereits, »obwohl nach wie vor ohne Amt und aus Preußen verbannt, quasi als leitender Minister auf, der sich in Absprache mit seinem König seine Mannschaft zusammenstellte«⁴. Kaum gibt Napoleon im Mai 1810 seinen Widerstand gegen den Hannoveraner auf – er scheint nun die politische Verwandtschaft zu erkennen –, erhält Hardenberg am 4. Juni 1810 die neugeschaffene Stelle des Staatskanzlers, die er bis zu seinem Tode ausfüllen wird. Dank seines Monopols auf beratende Vorträge beim König wird Hardenberg der Unterordnung unter den König zum Trotz so mächtig, wie vor ihm als Staatsdiener wohl nur Kardinal Richelieu es gewesen ist.

    Mit Hardenberg erhalten die Reformen ein »französisches« Gesicht. »Wenige einsichtsvolle Männer müssen die Ausführung (der Reformen) leiten«, formuliert Hardenberg und versucht den Staatsaufbau napoleonisch-zentralistisch umzugestalten. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Liberalismus, den das Oktoberedikt mehr proklamiert hat, wird unter seiner Führung ab 1810 in einer rasanten Abfolge neuer Gesetze erst wirklich durchgesetzt. Mit dem Gewerbesteueredikt vom 28. Oktober 1810 und dem Gewerbepolizeigesetz vom 7. September 1811 wird die Gewerbefreiheit eingeführt. Die Regulierungs- und Landeskulturedikte vom September 1811 regeln die genaueren Abläufe der Agrarreform und die Umwandlung der Frondienste in einmalige Abschlagszahlungen. Zusätzlich bemüht man sich um eine einheitliche Besteuerung von Stadt und Land (Edikt über die Konsumtionssteuern und Finanzedikt vom 20./27. Oktober 1810). Allgemeine Wehrpflicht und städtische Selbstverwaltung helfen, die alte Ständeordnung zu sprengen, und nicht zuletzt Humboldts Bildungsreformen und das 1812 erlassene Emanzipationsedikt für die Juden, deren Gleichstellung ein besonderes Anliegen von Hardenberg war, weisen den Weg in eine bürgerliche Gesellschaft (#Bürgerstraße) freier und gleicher Staatsbürger. Doch die progressive Welle brach sich schließlich am ständischen Widerstand.
    Frondezeit

    Der Friede unter all den Reformern hatte ohnehin nur kurze Zeit gewährt. Bereits Steins Staatsdienst endete 1808 nach nur 14 Monaten, abgefangene Briefe entlarvten ihn als Konspirateur für einen Krieg gegen Frankreich, Napoleon machte Druck. Hardenberg konnte das nur recht sein, denn Stein hatte sich als Reformator ganz anderer Prägung erwiesen. Der Nassauer war immer Anhänger einer altständischen Gesellschaft geblieben. Ein neuer Staatsaufbau diente ihm in erster Linie der Destruktion des Absolutismus. Eine eigenständige Rolle des Beamtenapparats, wie es sich der Bonapartist Hardenberg wünschte, war ihm verhasst. Stein forderte statt dessen, die adligen Eigentümer an der staatlichen Verwaltung zu beteiligen. Die bestehenden Behörden sollten von ständischen Vertretern durchdrungen werden, wovon sich Stein eine schrittweise Selbstaufhebung der Behörden zugunsten des Adels versprach. Bereits die Preußische Städteordnung, die letzte unter Stein ausgearbeitete Reform, ging Hardenberg ob ihres Schwerpunkts auf dezentraler Selbstverwaltung zu weit (obwohl das neue, nur noch an einen Einkommensnachweis geknüpfte Bürgerrecht relativ fortschrittlich war).

    Als der ständische Hoffnungsträger Stein durch Hardenberg ersetzt ist, erhebt sich der adlige und bürgerlich-zünftige Widerstand mit aller Macht. Gefährlich wird diese ständische Renaissance in Person der 1810 rebellierenden Adligen Friedrich August Ludwig von der Marwitz und Graf Finck von Finckenstein (#Finckensteinallee) vor allem in Verbindung mit den romantischen Intellektuellen, die sich in Berlin sammeln. 1811 entsteht in Berlin die »Christlich-teutsche Tischgesellschaft«, an der unter anderem Adam Heinrich Müller, Achim von Arnim, Heinrich von Kleist (#Kleiststraße, #Kleistweg), Clemens Brentano (#Brentanostraße), Friedrich Carl von Savigny(#Savignyplatz) und Karl Friedrich Eichhorn (#Eichhornstraße) teilnahmen. Der gemeinsame Nenner, auf den ihre politische Abneigung zu bringen ist, heißt Hardenberg. Er regiert ihnen zu autoritär, zu aufgeklärt, zu französisch und zu judenfreundlich. Eine politische Zukunft hatte dieses antisemitisch-nationalistische Gebräu nicht. Die ständischen Opponenten um Marwitz wurden in Spandau inhaftiert, die Romantiker zerstreuten sich rasch.

    Wie stark der Adel trotz dieser Niederlage blieb, beweist jedoch das Gendarmerieedikt aus dem Jahre 1812. Dieses Gesetz war der Versuch einer völligen Neuordnung der Kreisverfassung. Der altpreußische Landrat, der immer dem lokalen Adel entstammen und damit dessen Interessenvertreter sein musste, wäre durch einen vom König ernannten Kreisdirektor ersetzt worden, die Gendarmerie zu einer gut ausgebauten und allein von der Zentralregierung befehligten Polizei geworden. Der preußische Behördenapparat hätte erstmals die Möglichkeit erhalten, Politik auch gegen den lokalen Adel durchzusetzen. Doch musste das Edikt nach zwei Jahren anhaltender Gegenwehr aufgegeben werden. Die preußische Provinz blieb fest in Junkerhand.

    Die größte Gefahr droht Hardenberg aus seinem eigenen Beamtenapparat. Seiner Stellung als fast schon allmächtiger Beamtenfürst zum Dank macht er sich schrittweise die meisten Bürokraten zum Feind. Sein bedeutendster Rivale wird Wilhelm von Humboldt. Seit Januar 1819 steht dieser, eigentlich im Innenministerium für Bildung zuständig, auch dem Ministerium für ständische Angelegenheiten vor und greift von dieser Position aus Hardenberg an. Er »sammelte von seinem ersten Tag im neuen Amt an alle um sich, die aus welchen Gründen auch immer gegen Hardenberg und seine Amtsführung zu mobilisieren waren«⁵. Der Konflikt eskaliert schließlich in der Verfassungsfrage, die Humboldt mit seiner »Denkschrift über ständische Verfassung« vom Oktober 1819 zu beeinflussen sucht. In der Forderung nach mitregierenden Ständekörperschaften weiß Humboldt sich mit Stein, der ihm für die Denkschrift zuarbeitet, einig. Hardenberg dagegen unternimmt alles, um eine nationale Repräsentation der Stände zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern – in vollem Bewusstsein darüber, dass ein unweigerlich von Adel und Zunftbürgertum dominiertes preußisches Parlament sofort alle Reformen inklusive der Bauernbefreiung rückgängig machen würde. Gegen Humboldt bleibt er siegreich und kann im Dezember 1819 dessen Entlassung durchsetzen. Mit ihm verliert auch Stein den letzten politischen Einfluss in Preußen.

    Für Hardenberg ist es ein Pyrrhussieg. Mit den ausscheidenden liberalen Kräften fehlt ihm das Gegengewicht zu den konservativen Beamten um Karl Albert von Kamptz. 1821 kann der Polizeiminister Fürst Wittgenstein (#Wittgensteiner_Weg ) Hardenbergs Monopol auf beratende Vorträge beim König brechen, schrittweise wird der Staatskanzler in die politische Bedeutungslosigkeit gedrängt. Auch außenpolitisch fehlt ihm die Durchsetzungskraft, auf dem Wiener Kongress unterliegt er in den meisten seiner Gebietsforderungen Metternich. Am 26. November 1822 stirbt Hardenberg während einer Reise in Genua an einer Lungenentzündung. Sein Leichnam wird später nach Schloss Neuhardenberg im östlichen Brandenburg (#Brandenburgische Straße) verbracht, ein Herrensitz, den Friedrich Wilhelm III. dem 1814 zum Fürsten erhobenen Staatskanzler geschenkt hatte. Noch heute ist in der Schinkelkirche in Neuhardenberg in einem Glaskasten – Skurrilität preußischer Erinnerungskultur – Hardenbergs vertrocknetes Herz zu bestaunen.

    Anmerkungen

    1 Heinz Durchhardt: Freiherr vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit, München 2010, S. 22

    2 Eckart Kehr: Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaats. In: ders.: Der Primat der Innenpolitik, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, 2., durchges. Aufl., Berlin 1970, S. 31–52, hier: S. 36

    3 Vgl. Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende, 8. Aufl. Hamburg 1998, S. 207

    4 Lothar Gall: Hardenberg. Reformer und Staatsmann, München/Berlin 2016, S. 181

    5 Ders.: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, Berlin 2011, S. 327