Von Christian Thomas - Eine kleine Ukraine-Bibliothek (42): Mikhail Zygars „Krieg und Sühne“.
Bloß keine Witze über amtierende Präsidenten, lautete die Devise – die Pointe eines Gags, denn jeder könne der nächste Staatschef sein, und der heutige Possenreißer bald schon selbst zur Zielscheibe werden. So erging es an einem Abend im Jahr 1997, in einem Sketch von beißender Ironie, niemand geringerem als dem russischen Staatsoberhaupt Boris Jelzin. Doch damit nicht genug, die Posse wollte es, dass aus den Kulissen ein Kandidat auf die prekäre Präsidentennachfolge trat – ein Komiker, ein ukrainischer Comedian.
Der Clou damals, vor 25 Jahren für das Publikum im Saal und vor den Fernsehgeräten, darf heute als ein Coup des Wolodymyr (damals „Wowo“) Selenskyj bezeichnet werden. Auch wenn der Triumph des Neunzehnjährigen und seines Teams „Transit“, der Sieg in einem Comedy-Wettbewerb schließlich hintertrieben wurde, nicht von ungefähr durch Korruption, wie Mikhail Zygar in seinem Buch „Krieg und Sühne“ erzählt. Um rund 40 Seiten später eine weitere Parodie wiederzugeben, die erste auf Wladimir Putin im Jahr 2002, einen abermals blamierten Präsidenten in einem Sketch mit dem Schlüsselsatz: „Du liebst uns nicht, Russland!“
Eine sarkastische Prophetie vor 20 Jahren. Hinauslaufend auf die nicht nur heutige Konfrontation im Rahmen des „Kampfes“ der Ukraine „gegen die russische Unterdrückung“, vielmehr ein seit 350 Jahren anhaltendes Ringen, seit dem Vertrag von Perejaslaw, 1654, als Kiew seine Selbstständigkeit an Moskau verlor, der Kosakenstaat seine Autonomie gegenüber dem Zaren.
Weniger bekannt ist die für die Ukraine brisante Geschichte, dass die Theorie von der dreieinigen Nation, Russland, Ukraine, Belarus, ausgerechnet in Kiew formuliert wurde, von dem aus dem preußischen Königsberg stammenden Mönch Innozenz Giesel, 1674 verfasst in dessen „Synopsis“. Das Buch wurde zum Bestseller, zu einem Standardwerk fortan, der „tendenziöse Wälzer“ schließlich eine „Blaupause“, mit der das Moskauer Zarentum angeblich direkt auf Kiew als „Ursprungszentrum“ zurückgehe. Für eine mit der Ukraine genauer vertraute Leserschaft ist die Erkenntnis kein Novum, aber die Tatsache, dass Zygar diesen Mythos an den Anfang seines Buches stellt, verweist auf die Bedeutung, die er den daraus entstehenden Konfusionen beimisst.
Zygar, geboren 1981, war von 2010 bis 2015 Chefredakteur des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd. 2015 erschien sein Bestseller „Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin“. Zygar, der seit seiner Flucht aus Russland in Berlin lebt, lässt sein Buch, das im englischen Original „War and Punishment“, Krieg und Bestrafung betitelt ist, auf Deutsch unter dem Titel „Krieg und Sühne“ veröffentlichen; ausdrücklich will er im Epilog auf eine auf Einsicht basierende Reue hinaus.
Zygar hat sein Buch auf die Quintessenz hingeschrieben: „Wir müssen aufhören, an unsere Einzigartigkeit zu glauben; (...) aufhören zu glauben, dass wir etwas Besonderes sind; aufhören, uns als Zentrum der Welt anzusehen, als ihr Gewissen, ihre Quelle der Spiritualität.“ Seine Geschichte, hier und da nicht frei von nicht belegbaren Spekulationen, verfolgt das Erzählprinzip sich überkreuzender Ereignisse. Häufig fixiert in kurzen Szenen, fügen sich die Short Cuts zu einem monumentalen Cold Case.
Dafür rekonstruiert er in zwei mal sieben Kapiteln die Mythen der ukrainisch-russischen Verflechtungsgeschichte. Der erste Teil deckt die Legenden auf, die im Zuge der kolonialen Unterdrückung verbreitet wurden, der zweite, etwa zwei Drittel umfassende, die von Fiktionen beeinflusste Entwicklung der letzten rund 25 Jahre. Dazu gehört die putineske Verfälschung, die Ukraine sei eine „Erfindung Lenins“. Auch Zygar belegt, wie der unabhängige ukrainische Staat vielmehr „gegen Lenins Willen entstanden“ war.
Ein seit langem wirkmächtiger Mythos rankt sich um den Kosakenführer Mazepa (1639-1709). Der Kosakenhetman und Peter I., lange Verbündete, schließlich verfeindet, lebten ein komplexes, von Machtinteressen geleitetes Verhältnis. Hundert Jahre nach dem Tod des Kosakenführers, den schon zu Lebzeiten Widersacher denunzierten, wurde dessen historische Rolle durch die literarische Romantik manipuliert, ob nun durch den Briten Byron oder den Russen Puschkin, beide wiederum unter Bezug auf Schilderungen eines Aufklärers wie Voltaire. Sie alle, fasziniert von Sex and Crime, kolportierten das Bild eines gewissenlosen Verräters.
Bei aller Fokussierung auf die ukrainisch-russische Konfrontation vermag Zygar Horizonte aufzureißen. Dazu zählt eine Gegenüberstellung von globalen Dimensionen, wenn er auf das Jahr 1773 verweist, den Vergleich zwischen dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und der Rebellion jenseits des Urals. Mit Blick auf den Aufstand der Amerikaner und der Empörung der Kosaken erlaubt sich Zygar die kontrafaktische Spekulation, wie sich die russische Geschichte entwickelt hätte, wenn so etwas wie „Vereinigte Staaten von Sibirien“ entstanden wären? Es ist eine für den Autor wichtige Frage, denn sonst hätte er in der deutschen Ausgabe nicht deren Dringlichkeit eingefügt.
Nicht nur amüsant, dass im Jahr 1993 der Präsident der Ukraine, Kutschma, ehemaliger Manager in einem Raketenwerk, in dem der gefürchtete „Satan“ fabriziert wurde, bei Zygar gleichsam auf teuflischem Geschoss nach Moskau ritt – ähnlich dem Leibhaftigen in Gogols Weihnachtsgeschichte bei seinem Flug an den Hof Katharinas II. in St. Petersburg. Überhaupt bedeutend die Rolle der Literatur, ob nun der antiukrainische Imperialismus eines Alexander Solschenizyn oder der vollkommen verblende Ukrainehass eines Joseph Brodsky. Düsterste Unterdrückungsphantasien des Ukrainischen ausgerechnet von zwei Literaturnobelpreisträgern.
Die Ukraine hatte 1991 die Kraft, sich von der Sowjetunion loszusagen, sich auf ihre Unabhängigkeit zu besinnen und damit dem russischen Imperium eine Absage zu erteilen. Zygar beschreibt eine seitdem defizitäre Demokratie, einen instabilen Rechtsstaat, beherrscht von Oligarchen und nicht weniger skrupellosen Politikern. Massiv die kriminellen Energien – umso gigantischer der Mut auf dem Maidan, und zwar mehrfach, wodurch der Regierung die „Revolution der Würde“ abgetrotzt und mir ihr auch einem Putin die Stirn geboten wurde. Wo dieser doch spätestens seit 2004 sich nicht nur in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einmischte, sondern diese massiv manipulierte. Für Verhandlungspartner bedeutete das, dass sie von russischer Seite persönlich bedrängt und mit einem sexualisierten Gangsterjargon konfrontiert wurden.
Dreimal in den letzten 14 Jahren nutzte Russland die Olympischen Spiele zur Ablenkung der Weltöffentlichkeit, 2008 die Sommerspiele in Peking für den Krieg gegen Georgien, 2014 die Winterspiele in Sotschi für den Krieg in der Ukraine, 2022 die Winterspiele in Peking für den Überfall auf die Ukraine. Zum Betrug gehört der Selbstbetrug. Nicht von ungefähr berüchtigt wurde die Reise Katharinas II. durch ihr „Neurussland“, ihre Propagandatour durch die Ukraine, inszeniert von ihrem Geliebten, dem Fürsten Potemkin, der entlang der Route gefakte Bauten installierte, die sprichwörtlich gewordenen „Potemkinschen Dörfer“. Für Zygar bedeutet die historische Analogie eine sehr aktuelle Allegorie. In ihr zeigt sich das gegenwärtige Russland als ein monströses Potemkinsches Dorf. Die Kreml-Propaganda als permanenter Lug und Trug. Putins imperiale Vision als das Lügengebäude schlechthin.