• Arbeitszwang für alle
    https://jungle.world/artikel/2017/45/arbeitszwang-fuer-alle

    09.11.2017 - Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller hat ein »solidarisches Grundeinkommen« vorgeschlagen. Dies sollte als Drohung begriffen werden.

    Von Alexander Nabert

    Markige Sprüche, ein paar Binsen, Ausrufezeichen hinter »Bildung«, hier und da ein Zitat von Willy Brandt – das sind die Grundzutaten für ein SPD-Positionspapier. So macht man das da, und so macht das auch Michael Müller. Der Regierende Bürgermeister von Berlin hat in einem langen Gastbeitrag im Tagesspiegel, dem selbsternannten »Leitmedium der Hauptstadt«, Vorschläge zum Umbau des Sozialstaats gemacht. Ausgangspunkte seiner Überlegungen sind die Digitalisierung und die damit einhergehende Veränderung der Arbeitswelt. »Es geht um Wohlstand für alle in Zeiten der Digitalisierung«, schreibt er.

    Michael Müller gibt sich als sozialer Visionär, der Ideen für die SPD von morgen entwickelt, ohne dabei den Kern sozialdemokratischer Politik im 21. Jahrhundert – Hartz IV – zu verraten.

    Müller fordert in dem Papier, Hartz IV teilweise zu ersetzen – durch ein »solidarisches Grundeinkommen«. Solidarität heißt dabei aber nicht etwa, dass prekär Beschäftigten, Armen und Erwerbslosen ein sanktionsfreies Grundeinkommen ausgezahlt würde. Stattdessen sollen Arbeitslose, die »es« auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt nicht schaffen, nur dann ein Grundeinkommen erhalten, wenn sie gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeiten wie etwa »Sperrmüllbeseitigung, Säubern von Parks, Bepflanzen von Grünstreifen« und dergleichen erledigen. Da das Grundeinkommen in Höhe des Mindestlohns liegen und sozialversicherungspflichtig sein soll, belaufe es sich auf etwa 1 200 Euro brutto, wenn diese Arbeit in Vollzeit ausgeübt werde, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ausgerechnet hat. »Arbeit ist Teilhabe und deshalb muss das politische Ziel Vollbeschäftigung sein«, schreibt Müller und betont, man müsse »wieder über eine sinnvolle Politik des ›Förderns und Forderns‹ nachdenken«.

    Müllers »solidarisches Grundeinkommen« ist weder solidarisch noch eine neue Idee. Erwerbslose sollen, wie schon mit dem Hartz-IV-Sanktionssystem, zum Arbeiten gezwungen werden. Die Arbeitsagenturen will Müller in »Arbeit-für-alle-Agenturen« umbenennen. Das kann durchaus als Drohung verstanden werden, auch wenn Müllers Aussagen von Worthülsen wie »Solidarität«, »Gleichheit«, »Gerechtigkeit« und »sozialer Sicherheit« flankiert werden.

    Der Armutsforscher Christoph Butterwegge spricht von einem Etikettenschwindel. Mit einem Grundeinkommen habe Müllers Vorschlag nichts zu tun. »Solidarisch wäre es, diese Form der Arbeit tariflich zu entlohnen«, sagte der emeritierte Professor aus Köln mit Blick auf die Tätigkeiten, die Müller als Gegenleistung für das Grundeinkommen vorschweben. Dies solle in einem »öffentlichen Beschäftigungssektor« organisiert werden. Einen solchen gab es in Berlin bereits. Bis 2011 schuf der rot-rote Senat sozialversicherungspflichtige Stellen im öffentlichen Beschäftigungssektor – der jedoch abgeschafft wurde, als er der SPD zu teuer wurde. Wenn Müller Wert darauf legen würde, dass jemand Müll in Parks sammelt, könnte er entsprechende Stellen ausschreiben lassen. Stattdessen präsentiert er eine an das Zeitalter des Mindestlohns angepasste Form der Ein-Euro-Jobs und verkauft das als großen sozialen Wurf angesichts der Veränderungen des Arbeitsmarkts durch die Digitalisierung.

    Doch Müller dürfte bei dem Papier noch etwas anderes im Blick haben als den Wandel der Arbeitswelt: die Krise der Sozialdemokratie. Nach der krachend verlorenen Bundestagswahl befindet sich die SPD im Überlebenskampf. In anderen westlichen Ländern, etwa in Frankreich oder den Niederlanden, ist die Sozialdemokratie längst pulverisiert. Hierzulande reicht es gerade noch für die Oppositionsführung – aber auch nur dank der Stimmen aus Westdeutschland. Im Osten liegt die extrem rechte AfD bereits vor der SPD. In der Partei wird darum gerungen, wie man sie, wenn auch vielleicht nicht zu alter Kraft führen, so doch wenigstens am Leben halten kann. Müllers Papier mit dem Titel »Wandel und Umbruch – mit Sicherheit« kann als Beitrag dazu verstanden werden.

    Kurz nach der Veröffentlichung im Tagesspiegel trat Müller seinen neuen Nebenjob an. Turnusmäßig übernahm das Land Berlin, und damit Müller, am 1. November die Bundesratspräsidentschaft. Der Bundesratspräsident steht nicht nur der Länderkammer vor, sondern ist formell auch Stellvertreter des Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland. Diese bundesweite Aufmerksamkeit dürfte Müller gelegen kommen, denn in seinem eigenen kleinen Bundesland sieht es für ihn derzeit nicht gerade rosig aus. Nach dem verlorenen Volksentscheid über die Offenhaltung des Flughafen Tegel und der Bundestagswahl, bei der die Berliner Linkspartei die von Müller geführte SPD überholte, sägt die innerparteiliche Konkurrenz an seinem Stuhl. Schon lange will Raed Saleh, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus, an Müllers Stelle treten. Jede Niederlage Müllers ist ihm Munition im innerparteilichen Machtkampf.

    Müllers bundespolitischer Vorschlag ist eine Flucht nach vorn. Der Regierende Bürgermeister gibt sich als sozialer Visionär, der Ideen für die SPD von morgen entwickelt, ohne dabei den Kern sozialdemokratischer Politik im 21. Jahrhundert – Hartz IV – zu verraten. Dass die SPD in der Opposition sitzt und nur über den Bundesrat Einfluss auf die Bundespolitik nehmen kann, stärkt Müller im innerparteilichen Machtkampf. Mit dieser neuen Rolle könnte es ihm gelingen, sich während der Neuformierung der SPD unersetzbar zu machen – und seinen Job vorerst zu retten.

    #ALlemagne #social #chômage #SGE

  • jungle.world - »Massiv aus dem nahöstlichen Raum finanziert«
    https://jungle.world/artikel/2017/43/massiv-aus-dem-nahoestlichen-raum-finanziert

    Was beschreibt der Begriff Scharia-Kapitalismus, den Sie als Titel Ihres Buchs gewählt haben?
    Scharia-Kapitalismus ist kein wissenschaftlicher Begriff, er soll Interesse wecken und entstand durch die Frage, wie sich denn eigentlich die islamistische Radikalisierung finanziert. Ich war etwa bei Koran-Verteilung der »Lies«-Kampagne dabei und habe dazu recherchiert. Dabei habe ich die Information bekommen, dass Katar damit zu tun habe, aber man wisse nichts Genaues. Mittlerweile glaube ich, man wollte es nicht so genau wissen. Ich habe herausgefunden, dass solche Kampagnen ganz massiv aus dem nahöstlichen Raum finanziert werden, von Staaten, in denen die Scharia im Staatsrecht verankert ist. Sie alle sind auch sehr gute Handelspartner Deutschlands. Alle Scharia-Staaten zusammengezählt verfügten im vorigen Jahr über ein Handelsvolumen von 58 Milliarden Euro mit Deutschland, das ist mehr als ein Drittel des Handels mit den USA. Der Titel Scharia-Kapitalismus ist allerdings auch doppelbödig, da die Scharia theoretisch viele der Dinge verbietet, die zu Recht kritisiert werden, also bestimmte Finanzgeschäfte, Drogen­handel, Waffenhandel. Nur sieht die Realität ganz anders aus.

  • jungle.world - Viel Verschleiß, wenig Lohn
    https://jungle.world/artikel/2017/27/viel-verschleiss-wenig-lohn
    https://jungle.world/sites/files/styles/medium/public/2017-07/09.jpg?itok=Qeyg_vOb

    Am Mittwoch voriger Woche beim Protesttag von »Deliverunion« luden Georgia P. und mehrere Dutzend Kollegen vor der Deliveroo-Zentrale in Kreuzberg alte Fahrradteile ab, um auf den hohen Verschleiß ihres Arbeitsgeräts hinzuweisen, für dessen Kosten sie bislang selbst aufkommen müssen. Die anschließende Fahrraddemonstration führte zur Foodora-Zentrale in Berlin-Mitte, wo die Abschlusskundgebung stattfand.
    ...
    Die meisten Beiträge auf der Kundgebung wurden auf Englisch gehalten, schließlich kommen die Beschäftigten der Lieferdienste aus den unterschiedlichsten Ländern. »Bei Deliveroo in Berlin arbeiten etwas über 500 Fahrer, gut 100 von ihnen sind Freelancer. Bei Foodora in Berlin sind alle Fahrer festangestellt, das sind 503«, berichtet Melzer. »Wir schätzen, dass die Hälfte der knapp 1 000 Fahrer in Berlin aus dem Ausland kommt, viele sprechen kaum Deutsch.« Die meisten kämen aus südeuropäischen Krisenländern wie Spa­nien, Italien oder Portugal.

    Die FAU ist die Anlaufstelle für Fahrer, die für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen kämpfen, sich juristisch beraten lassen und Protestaktionen wie die in der vergangenen Woche planen wollen. Auch in vielen anderen europäischen Ländern versuchen Basisgewerkschaften, die Beschäftigten von Essenslieferdiensten zu organisieren. In den vergangenen Monaten protestierten in Großbritannien, Spanien und Italien Beschäftigte gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen. »Wir beziehen uns in den unterschiedlichen Ländern aufeinander. So wird von den Kollegen in Spanien und Italien genau beobachtet, was in Berlin passiert, und wir ­unterstützen die Kämpfe in den anderen europäischen Ländern«, so Melzer.
    ...
    Nur wenige ­Medien berichteten über die basisgewerkschaftliche Protestaktion vom Mittwoch, der erfolgreiche Börsengang des Foodora-Mutterunternehmens Delivery Hero in Frankfurt am Main am Freitag bestimmte die Schlagzeilen. Dass die schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne die Voraussetzung für die Gewinne an der Börse sind, wird kaum erwähnt.

    Andreas Komrowski von der Taxi-AG bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi berichtete in seiner Solidaritätserklärung, dass auch die Taxifahrer mit Überwachung und geringen Einkommen zu kämpfen hätten. Komrowski schilderte, wie sich Taxiunternehmen um die Zahlung des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns zu drücken versuchten. So würden Wartezeiten an den Standplätzen zu Pausenzeiten umdeklariert, wodurch rechnerisch der Stundenlohn steigt. Mittlerweile ist auch die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales auf diese Praxis aufmerksam geworden. In einem Schreiben an den Berliner Taxibund stellte die Behörde klar: »Reguläre Standzeiten, während derer auf Kunden gewartet wird, gehören zur Arbeitszeit.« Dass die gewerkschaftlich organisierten Taxifahrer mit der Kampagne »Deliverunion« kooperieren, ist für FAU-Sprecher Melzer ein Hoffnungszeichen. Prekäre Arbeitsbedingungen sind die Regel in der wachsenden sogenannten Gig-Ökonomie, in der Beschäftigte sich über Internetplattformen von einem Auftrag – englisch: gig – zum nächsten hangeln. Kollektiver Widerstand dagegen ist bislang die Ausnahme.

    #Berlin #Arbeit #Fahrradkuriere #Taxi #Gewerkschaft #Solidarität