Zeitbomben auf Autobahnen / Durch das EU-Mobilitätspaket sollen Ruhezeiten für Lkw- und Busfahrer begrenzt sowie das Lohnniveau gesenkt werden (junge Welt)

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  • Zeitbomben auf Autobahnen / Durch das EU-Mobilitätspaket sollen Ruhezeiten für Lkw- und Busfahrer begrenzt sowie das Lohnniveau gesenkt werden (junge Welt)
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    Wer die Lkw-Kolonnen auf überfüllten Bundesautobahnen und völlig überfüllte Rastplätze wahrnimmt, kann nur ahnen, wie unromantisch das Leben der Fernfahrer heutzutage ist. Enthüllungen über Hungerlöhne und unmenschliche Zustände sorgen für Empörung. Viele Fahrer sind Tag und Nacht auf Achse. Sie schlafen, essen und erholen sich in ihren Fahrzeugen und haben kaum freie Tage im Kreise ihrer Angehörigen.

    Doch der Wahnsinn hat Methode, und eine Besserung ist nicht in Sicht. Nun lassen Pläne der EU-Kommission für ein neues »Mobilitätspaket« die Gewerkschaften aufhorchen. Das in Brüssel ausgebrütete Richtlinienpaket solle, so die Behauptung seiner Urheber, eine stärkere »Harmonisierung« des europaweiten Straßengüterverkehrs herbeiführen und für »fairen Wettbewerb und Rechtssicherheit« sorgen. Doch die Gewerkschaften warnen vor verstärktem Sozialdumping.

    »Anstatt die schwarzen Schafe in der Branche zu bekämpfen, will die EU-Kommission bislang illegale Praktiken legalisieren«, bringt es Verdi-Chef Frank Bsirske auf den Punkt. Er warnt davor, dass mit den Berufskraftfahrern erstmals eine hochmobile Beschäftigtengruppe aus der europäischen Entsenderichtlinie herausgenommen werden soll. Dies stärke Lohndumping und führe zur Aushebelung nationaler gesetzlicher Mindestlöhne, sagte Bsirske. Mit der in den 1990er Jahren eingeführten EU-Entsenderichtlinie sollen für entsandte Beschäftigte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Aufnahmemitgliedsstaats gelten. Ohne Anerkennung des deutschen Mindestlohns droht etwa in der BRD eingesetzten bulgarischen Fahrern ein hoher Lohnverlust.

    Zudem sehen die EU-Pläne eine Verkürzung der vorgeschriebenen gesetzlichen Ruhezeiten und eine Verlängerung der Lenkzeiten vor. Dies betrifft alle Berufskraftfahrer von Brummis und Bussen. »Damit verabschiedet sich die EU-Kommission offen von einem sozialen Europa«, so Bsirske. Der Richtlinienentwurf will bestimmte Schutzregelungen erst ab dem dritten Tag wirksam werden lassen und die Möglichkeit öffnen, in drei aufeinanderfolgenden Wochen die wöchentliche Ruhezeit auf 24 Stunden zu verkürzen. Erst nach der dritten Woche sollen Fahrer etwa ein Anrecht auf eine 45stündige Ruhezeit bekommen. Damit würde sich die monatlich erlaubte Lenkzeit deutlich erhöhen. Dies habe gefährliche Auswirkungen für Fahrer im europaweiten Lkw- und Fernbusverkehr. »Lkw und Busse werden zu tickenden Zeitbomben auf unseren Straßen«, so der Verdi-Vorsitzende. Zunehmend könnten deutsche Unternehmen über Briefkastenfirmen in Osteuropa von den dortigen Arbeitsbedingungen profitieren, warnt Bsirskes Vorstandskollegin Andrea Kocsis und bescheinigt der EU-Kommission einen »eklatanten Eingriff in Arbeitnehmerrechte«.

    »Gerade für unsere Kollegen in Osteuropa wäre ein starker rechtlicher Rahmen wichtig, weil die Gewerkschaften oft nicht stark genug sind, nationale Regelungen oder Tarife durchzusetzen«, so Christina Tilling vom Dachverband Europäische Transportarbeiterföderation (ETF). Regelmäßige Ruhezeiten sollten zu Hause bei der Familie verbracht werden oder in Unterkünften, die den Standards des 21. Jahrhunderts entsprechen – einschließlich bewachtem Parkplatz für die Lkw«, verlangt der Vertreter der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc, Tomasz Michalak.

    Dass die Übermüdung der Fahrer schon jetzt ein riesiges Problem ist, zeigen Polizeiberichte über schwere Lkw-Unfälle, die auf bundesdeutschen Autobahnen und Transitstrecken immer wieder Todesopfer fordern sowie stundenlange Staus und chaotische Verkehrsverhältnisse auf Ausweichstrecken nach sich ziehen. Eine wirksame staatliche Überwachung der Einhaltung bestehender Vorschriften scheitert in der Praxis am Personal- und Ressourcenmangel der zuständigen Stellen.

    Die Gewerkschaften beanstanden, dass die EU-Bürokratie konkrete Vorschläge etwa für eine zügige Einführung intelligenter Fahrtenschreiber ignoriere und vielen EU-Abgeordneten die Brisanz gar nicht klar sei. Vor einer Beschlussfassung im EU-Parlament wolle man auch im Schulterschluss mit kleinen deutschen Spediteuren verstärkt Öffentlichkeit und Abgeordnete aufklären. Einige dieser Unternehmen teilten in vielen Punkten die Verdi-Bedenken, so Kocsis.