• Die EU dreht sich im Kreis

    Soll Europa finanziellen Druck auf Polen und Ungarn ausüben, um sie zum Einhalten von EU-Recht zu bewegen?

    http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/europaeische-union-fluechtlingspolitik-italien-martin-schulz-polen/komplettansicht

    Ein Gastbeitrag von Raphael Bossong

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    Seit mehr als einem Jahr erwägen deutsche und europäische Institutionen finanzielle Druckmittel gegenüber osteuropäischen Staaten, die sich einer Verteilung von Flüchtlingen in der EU grundsätzlich verweigern. Im März 2017 wurden vergleichbare Warnungen vom österreichischen Kanzler Christian Kern erneut öffentlich vorgebracht. Konkrete Schritte erfolgten jedoch bisher nicht. Dies liegt vor allem daran, dass eine kurzfristige Streichung von EU-Fördergeldern weder rechtlich noch politisch umsetzbar ist.

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    Der aktuelle Finanzrahmen läuft von 2014 bis 2020. Somit kann also erst in den kommenden ein bis zwei Jahren politisch verhandelt werden, ob nach dem Jahr 2021 die Vergabe von EU Mitteln mit Anstrengungen in der Flüchtlingskrise verknüpft werden sollte.

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    ... , also die Schaffung positiver Anreize und besonderer Förderprogramme für Länder und Kommunen, die sich für Zuwanderung öffnen.

    Auch wenn dabei nicht direkt von Streichungen die Rede ist, würde dies sehr wahrscheinlich eine Verlagerung der Mittel zu Ungunsten osteuropäischer Länder zur Folge haben. Dabei ist zu bedenken, dass auch andere EU Mitgliedsstaaten Vorbehalte gegenüber der Verteilung von Flüchtlingen haben und konservative Interessen verfolgen. Dies gilt insbesondere für die Gruppe der sogenannten Nettozahler, die nicht nur Deutschland und Italien umfasst. Die Nettozahler müssen nämlich nach 2019 den Ausfall Großbritanniens auffangen und somit wenig Bereitschaft für eine zusätzliche Steigerung des EU Budgets zeigen. Die Flüchtlingsfrage würde vermutlich als unnötiger Störfaktor bei dieser ohnehin schwierigen Anpassung behandelt.

    Denn am Ende ist eine einstimmige Entscheidung aller EU-Mitgliedsländer nötig, um einen neuen langjährigen Finanzrahmen zu verabschieden. Ein konsequent harter Kurs gegenüber osteuropäischen Ländern würde dabei eine Blockade verursachen. In diesem Fall – der mehrfach in der Vergangenheit bei der Diskussion zwischen Großbritannien und Frankreich zum Umfang der Agrarhilfen drohte – würde der aktuelle EU-Haushalt ohne Anpassung fortgeschrieben.

    Somit bleibt zur Sanktionierung nur das reguläre Vertragsverletzungsverfahren. Ein solches Verfahren leitete die EU-Kommission Mitte Juni gegen Polen, Ungarn und Tschechien ein, da diese Staaten grundsätzlich keinen Beitrag zur 2015 beschlossenen einmaligen Umverteilung von bis zu 160.000 Personen aus Griechenland und Italien leisten wollen. Am Ende eines mehrstufigen Prozesses könnten empfindliche finanzielle Strafen durch den europäischen Gerichtshof verhängt werden, die für größere Länder wie Polen sich auf mehr als hunderttausend Euro pro Tag belaufen könnten.

    Ungarn und die Slovakei versuchen ihrerseits, den gesamten EU-Mechanismus vor dem europäischen Gerichtshof für ungültig und illegal erklären zu lassen. Gestern erklärte jedoch der zuständige Generalanwalt des Gerichtshofs, dass diese Anfechtung in allen Punkten zurückzuweisen sei. Der Gerichtshof folgt in der Regel den entsprechenden Plädoyers seiner Generalanwälte, was in diesem Fall besonders wahrscheinlich ist. Aber selbst wenn das Vertragsverletzungsverfahren deshalb weiterlaufen kann, ist der Weg zur endgültigen Verurteilung und Verpflichtung von Strafzahlungen immer noch lang. Deshalb stellte die Kommission bei der Einleitung des Verfahrens ausdrücklich klar, dass die Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen fortbesteht, selbst wenn die rechtliche Grundlage des einmaligen Verteilungsmechanismus im September 2017 erlischt. Es könnte also die Situation eintreten, dass Personen, die bis September 2017 in Italien gelandet sind, in den kommenden zwei bis drei Jahre in andere EU-Mitgliedsländer verteilt werden.

    Dies mag zwar ein wichtiges Signal der Gültigkeit und des Vorrangs von EU-Recht sein, hilft aber den Erstaufnahmeländer sehr wenig. Nach neuestem Umsetzungsbericht des Verteilungsmechanismus sind trotz wachsender Bereitschaft anderer Mitgliedsstaaten immer noch nur knapp 25.000 Personen aus Griechenland und Italien umverteilt worden, während ursprünglich bis zu 160.000 angedacht waren. Selbst wenn aufgrund sinkender Anerkennungsquoten von Flüchtlingen die angepeilten Verteilungszahlen stark nach unten korrigiert wurden, kann dies alles nur ein symbolischer Beitrag sein. Allein für die erste Hälfte des Jahres 2017 kamen bereits mehr als 90.000 Ankommende in Italien hinzu.

    Die Reform des Dublin-Regimes, die einen permanenten Lastenausgleich für Aufnahmeländer schaffen soll, bleibt im politischen Entscheidungsprozess nach wie vor blockiert und würde ebenso wenig einen Befreiungsschlag darstellen. Italien würde aufgrund seiner Größe weiterhin permanent stark beansprucht, während die Zuständigkeit der Grenzländer für die Erstprüfung von Asylgesuchen zusätzlich zementiert würde. Vor allem bleibt die ungelöste Herausforderung im Umgang mit sogenannten gemischten Migrationsströmen, die neben Schutzsuchenden auch viele Personen mit wirtschaftlichen Interessen beinhalten. Bei irregulär Eingereisten mit geringer Bleibeperspektive müsse schnell und rechtlich sauber entschieden werden und diese in Kooperation mit den Herkunftsstaaten zurückgeführt werden.

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    Die EU sieht sich deshalb auf kurze Sicht dazu gedrängt, weiterhin auf den Ausbau der Grenzsicherung in Libyen zu setzen. Die damit verbundenen schwerwiegenden Probleme bei der Wahrung von Menschenrechten sind allen Akteuren bekannt und sollten nicht durch Diskussionen um die Rolle von NGOs bei der Seenotrettung verschleiert werden. Vielmehr ist es zu begrüßen, dass Programme des UNHCR zur legalen Ansiedlung von Flüchtlingskontingenten in verschiedene EU Mitgliedsstaaten stetig auf mehrere Zehntausend Personen pro Jahr anwachsen.

    Gleichzeitig müssen möglichst viele EU-Mitgliedsstaaten Italien jetzt in freiwilligen Formaten entlasten. Deutschland erklärte sich jüngst bereit, seine freiwillige monatliche Übernahme von 500 Flüchtlingen aus Italien auf 750 zu erhöhen. Andere Mitgliedsstaaten wie Frankreich und Spanien sollten in den kommenden Wochen und Monaten vergleichbare Programme auflegen, oder sich doch konzilianter gegenüber der italienischen Forderung zeigen, Häfen für Schiffe mit Flüchtlinge zu öffnen.

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    via https://diasp.eu/posts/5799655

    #migrations #réfugiés #EU #CE #Italie #Hongrie #Slovaquie #Tchéquie #Pologne #Visegrad #Allemagne #Autriche #CJCE

    • oAnth :

      Es wäre sicherlich heillos übertrieben zu behaupten, dass sich im Artikel nach der Empfehlung des EuGh an die Europäische Kommission großartige Perspektiven für Italien und Griechenland in der sich zuspitzenden Flüchtlingssituation wiederfänden, jedoch wird darin die aktuelle Rechtslage auf EU-Ebene und, damit verbunden, die zeitliche Abfolge der Handlungsoptionen kenntnisreich zusammengefasst. Es erscheint demnach evident, wie sehr die Visegrad-Länder, und nicht nur diese, auf Zeit spielen.

      Il serait beaucoup trop exagérant de constater, que - après la recommandation par le CJCE pour la Commission européenne - l’article révélerait des perspectives prometteuses pour l’Italie ou la Grèce vu leurs conditions aggravées par l’afflux des réfugiés, mais la situation juridique au niveau de la CE connectée avec la succession temporelle des options s’y trouve bien résumée. C’est bien évidant, comment les pays de Visegrad (et ne pas que ceux-ci) essaient d’atermoyer les choses.