»Es ging ihnen um Rache, nicht um Gerechtigkeit« (Tageszeitung junge Welt)

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  • 29.07.2017: »Es ging ihnen um Rache, nicht um Gerechtigkeit« (Tageszeitung junge Welt)
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    Gespräch mit Friedrich Wolff. Über den gescheiterten Versuch der juristischen Abrechnung mit Erich Honecker durch die BRD und einen Anwalt, der gern Justizminister geworden wäre
    Interview: Frank Schumann

    Sie hatten vor 1989 nie persönlichen Kontakt zu Politbüromitgliedern der SED. Wie kam es dazu, dass plötzlich Erich Honecker Sie als seinen Anwalt nahm?

    Mich rief Anfang Dezember 1989 mein Kollege Wolfgang Vogel an, der gemeinhin Honeckers Interessen vertrat. Doch Vogel hatte bereits das Mandat von Alexander Schalck-Golodkowski – des heute nur noch als Devisenbeschaffer titulierten DDR-Staatssekretärs – übernommen und sah einen Interessenkonflikt. Er fragte mich also am Telefon, ob ich den »großen Erich« oder den »kleinen Erich« verteidigen wolle. Bekanntlich hatte der Generalstaatsanwalt der DDR am 5. Dezember Ermittlungsverfahren gegen eine Reihe von Spitzenfunktionären eingeleitet, darunter auch Erich Honecker und Erich Mielke.

    Sonderlich groß waren ja beide nicht …

    Ich bin auch kein Riese. Aber wir wissen doch, was gemeint ist.

    Und, warum entschieden Sie sich für den »großen Erich«?

    Ehrlich? Weil er mir sympathischer war. Außerdem war es eine größere Herausforderung.

    Fürchteten Sie angesichts der Stasi-Hysterie in Mithaftung genommen zu werden, wenn Sie den Minister für Staatssicherheit verteidigt hätten?

    Das machte keinen Unterschied. Als ich am 29. Juli 1992 in die JVA Moabit fuhr, um mit meinem Mandanten zu sprechen, empfing mich dort eine wütende Menge mit dem Ruf: »Wer einen Verbrecher verteidigt, ist selbst ein Verbrecher!« Erich Honecker war so wenig Verbrecher wie ich selbst, er war mein Genosse. Auch wenn die SED ihn inzwischen ausgeschlossen hatte. Politische Überzeugung und Haltung sind ja keine Sache des Parteibuchs.

    Wann trafen Sie Ihren Mandanten zum ersten Mal?

    Am Nachmittag des 16. Dezember 1989 in der Waldsiedlung in Wandlitz, an der ich bis dahin immer vorbeigefahren war. Meine Frau und ich besaßen ein paar Kilometer weiter ein Wochenendgrundstück. Honecker stand unter Hausarrest, vor dem Gebäude wachten Posten, die Telefonleitung war gekappt. Das waren übrigens Maßnahmen, die die Strafprozessordnung der DDR nicht vorsah. Das Treffen war von den Umständen diktiert. Honecker war auch gesundheitlich merklich angeschlagen. Im Sommer hatte man ihn an der Galle operiert, eine OP an der Niere stand bevor. Er bewegte sich unsicher, sprach leise und schwer verständlich.

    Wie haben Sie ihn angeredet?

    Das war ein Problem. In der SED duzte man sich aus Prinzip, aber konnte man beim ehemaligen Generalsekretär diesen vertraulichen Ton anschlagen? Außerdem achtete ich immer auf eine angemessene Distanz zu meinen Mandanten. Honecker und seine Frau Margot redeten mich aber sofort mit »Du« an – wenn ich sie dann gesiezt hätte, wäre dies möglicherweise als Affront verstanden worden. Das Vertrauensverhältnis, das doch zwischen Verteidiger und Mandant herrschen muss, wäre dann wohl nie zustandegekommen.

    Sie waren befangen?

    Kann man so sagen. Mit Verlaub: Ich hätte, wäre ich Mitglied des Politbüros gewesen, auch für seine Ablösung gestimmt. Ich gehörte der SED seit dem ersten Tag an. Die Fehlleistungen und Versäumnisse, die mit dem Namen Honecker verbunden waren, hatte ich alle präsent wie wohl die meisten Genossen. Aber das war die politische Seite – hier ging es um die strafrechtliche Verantwortung. Das muss­te man scharf trennen.

    Trennten Sie das auch so scharf, als Sie 1960 Verteidiger von Theodor Oberländer und drei Jahre später von Hans Globke waren?

    Ich nehme das als rhetorische Frage. In beiden Fällen wurde ich per Beschluss des Obersten Gerichts der DDR als Pflichtverteidiger beigeordnet. Falls diese beiden Figuren, gegen die in Abwesenheit in der DDR-Hauptstadt verhandelt wurde, nicht mehr bekannt sind: Oberländer (früher NSDAP, dann CDU, jW) gehörte der Adenauer-Regierung seit 1953 als Vertriebenenminister an. Im Faschismus war er an Nazi- und Kriegsverbrechen beteiligt gewesen. Die Bonner »Graue Eminenz« Globke führte seit 1953 das Bundeskanzleramt und hatte als Ministerialbeamter im Reichsinnenministerium der Faschisten die Kommentare zu den sogenannten Nürnberger Rassegesetzen abgesondert; das in den Pässen von Juden eingeprägte »J« zum Beispiel ging auch auf sein Konto. Oberländer, um die Sache kurz zu machen, wurde wegen der Ermordung von mehreren tausend Juden und Polen zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Er war nach Überzeugung des Gerichts als deutscher Geheimdienstler Verbindungsoffizier zu den ukrainischen Nationalisten und neben Massenmorden auch an Anschlägen hinter der Front beteiligt.

    Globke erhielt ebenfalls lebenslänglich, er trug nachweislich Mitverantwortung für die Deportation Zehntausender Juden in deutsche Vernichtungslager.

    Natürlich waren das Verfahren, mit denen die DDR die personelle Kontinuität von Nazireich und Bundesrepublik gerichtsnotorisch machte. Die Auseinandersetzung mit dem Faschismus fand bis dahin in der BRD überhaupt nicht statt. Die Auschwitz-Prozesse sollten erst Jahre später beginnen. Doch ein Gerichtsverfahren in absentia durfte in einem sozialistischen Rechtsstaat nun mal nicht ohne Verteidiger stattfinden. Also verpflichtete man mich.

    Aber ohne Angeklagten? Hatten Sie versucht, zu Ihrem Mandanten Oberländer Kontakt in Bonn aufzunehmen?

    Selbstverständlich. Der Brief kam, nachdem er geöffnet und wieder verschlossen worden war, mit der handschriftlichen Bemerkung auf dem Kuvert zurück: »Annahme nachträglich verweigert. Pförtner hat keine Vollmacht für Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte.«

    Machen wir mal einen großen Sprung, weg von dem lächerlichen Verfahren, das noch in der DDR wegen Landesverrat angezettelt worden war und sich mit der DDR erledigt hatte. Sprechen wir über den Prozess in der Bundesrepublik zwei Jahre später. Der Antifaschist Honecker, von Nazijuristen vom Schlage Globkes einst zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, kam 1992 in dasselbe Gefängnis in Moabit, in das ihn 1935 die Gestapo eingeliefert hatte. Das Verfahren, das schließlich am 12. November 1992 begann, war eine Farce.

    Es war insofern eine Farce, als Honecker aus medizinischer Sicht nicht verhandlungsfähig und überdies seine mediale Vorverurteilung schon längst erfolgt war. In erster Linie jedoch war es ein Politikum. Es ging ihnen um Rache, nicht um Gerechtigkeit. Dazu gab es den unverschämten und die wirklichen Hintergründe verschleiernden Hinweis, die deutsche Justiz wolle die bei der »Aufarbeitung« des Dritten Reiches begangenen Versäumnisse und Fehler nicht wiederholen. Deshalb sollte nunmehr mit der DDR-Vergangenheit besonders gründlich und konsequent abgerechnet werden. Die Nachfahren jener Juristen, die schon einmal über Honecker zu Gericht gesessen hatten und ergo Klassenbrüder im Geiste waren, besaßen weder das moralische noch das juristische Recht, über Honecker und seinesgleichen zu urteilen. Denn auf welcher Basis? Mit dem Recht der BRD, das bis 1989 für Honecker nicht galt? Mit dem Recht der DDR, das inzwischen mit dem Land verschwunden war? Und worüber sollte befunden werden? Dass Honecker seinen Staat gegen die Wand gefahren hatte? Diesen hatte die BRD doch von seiner Gründung an selbst entschlossen bekämpft. Nein, sie machten kein Hehl daraus, dass es primär um eine Abrechnung mit dem politischen System ging, deren Repräsentant Honecker gewesen ist.

    Die eigentliche Geschichtslüge bestand jedoch darin, dass mit dem Verweis auf ungenügende Vergangenheitsaufarbeitung in der BRD die verbrecherische Nazidiktatur, welche den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen und systematisch ganze Ethnien ausgerottet hatte, quasi mit der DDR gleichgesetzt wurde. Sie wollten beweisen, dass das Honecker-Reich wie das Hitler-Reich Leichenberge geschaffen hatte. Deshalb lautete die Anklage gegen Honecker auch »mehrfacher Totschlag«.

    Ihre und die Bemühungen der beiden anderen Verteidiger, Nicolas Becker und Wolfgang Ziegler, die von Honecker und der DDR verfolgte Politik in die Historie des Kalten Krieges und damit in einen internationalen Kontext zu stellen, liefen ins Leere. Die Verteidigung kam – nachdem alle drei Beschwerden gegen den »Haftfortdauerbeschluss« des Landgerichts verworfen worden waren – auf die Idee, das Berliner Verfassungsgericht anzurufen.

    Ja. Am 29. Dezember 1992 ließen wir von einem in Verfassungsbeschwerden erfahrenen Kollegen einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Beendigung des Verfahrens gegen Honecker und der U-Haft stellen. Wir begründeten das mit der Verletzung der Menschenwürde, die doch laut Grundgesetz unantastbar sei. Obwohl, sieht man die Rechtspraxis der BRD bis heute, die »Unverletzbarkeit der Würde« für Kommunisten nicht zu gelten scheint. Wäre dies anders, müsste keine Initiative zur Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges noch immer die Rechte und die verletzte Würde Tausender Bundesbürger einfordern.

    In Honeckers Fall machten wir also darauf aufmerksam, dass die erkennbare Absicht des Landgerichts, den »Gerichtssaal für den Angeklagten zum Sterbezimmer werden« zu lassen, gegen die Menschenwürde verstoße. Inzwischen hatte sich auch ein wenig die öffentliche Meinung in diesem angeblich »wichtigsten Prozess in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte«, so damals die Berliner Zeitung, geändert. Die Süddeutsche Zeitung sprach inzwischen auch von einer Farce, und selbst die Grünen im Bundestag, die nie als Verteidiger der DDR in Erscheinung getreten waren, forderten, den Prozess gegen Honecker zu beenden.

    Und das Verfassungsgericht teilte die Auffassung der Verteidigung?

    Ja. Am 7. Januar 1993 war die Hauptverhandlung vorm Landgericht noch planmäßig mit einem neuen Richter fortgesetzt worden. Am 12. Januar jedoch entschied der Verfassungsgerichtshof überraschenderweise, das Verfahren gegen Honecker einzustellen und den Haftbefehl aufzuheben.

    Wie reagierte Honecker darauf?

    Ich fürchtete, dass er die gute Nachricht nicht überleben würde. Tage zuvor war er, zum ersten Mal, mut- und lustlos gewesen. Er wollte auch keine Briefe mehr an Familie und Freunde schreiben. Am 13. Januar kurz nach 9 Uhr war ich im Haftkrankenhaus, um mich von ihm zu verabschieden. Ich traf ihn in der Kleiderkammer in Unterwäsche, als er gerade seine persönliche Kleidung erhielt. Ich stellte mir vor, wie sich wohl andere Staatsoberhäupter in einer entsprechenden Situation verhalten würden. Bei Honecker verlief die Szene ganz natürlich. Er war überhaupt ein angenehmer Mandant: pflegeleicht, offen für Ratschläge, die er befolgte, ohne jedes Misstrauen gegenüber dem Anwalt. Das übrigens kann ein Problem im Verhältnis zwischen Verteidiger und Beklagten sein – der Argwohn des Mandanten, vom Anwalt hinter die Fichte geführt zu werden. Nicht so Honecker. Er war ohne Arg. Das sage ich bewusst auch im Hinblick auf seine Etikettierung als »Diktator«. Diktatoren misstrauen im Prinzip allen und trauen keinem über den Weg.

    Es lebe der deutsche Rechtsstaat.

    Nana. Das juristische Gezerre im Hintergrund ging doch weiter, wovon Honecker gar nichts mehr mitbekam. Gott sei Dank, muss man sagen. 20.25 Uhr ging der Flieger von Tegel nach Frankfurt am Main, dort hob kurz vor Mitternacht die brasilianische Maschine ab, Umstieg in São Paulo, Ankunft in Santiago de Chile nach 22 Stunden. Klaus Feske, ein Genosse aus dem Westteil Berlins, begleitete ihn.

    Honecker soll sich nach dem Flug beim Staatsschutz und beim Luft­hansa-Personal bedankt haben?

    Er war ein höflicher Mensch. Es stimmt, dass die beiden Beamten, die ihn begleiteten, gute Arbeit geleistet haben. Sie fanden die Mikrofone unter seinem Sitz und auch die von Journalisten installierten Richtmikrofone, und beim Umstieg in Frankfurt am Main sorgten sie dafür, dass uniformierte Polizisten ihn in einem sicheren Raum unterbrachten und anschließend in einem gepanzerten Fahrzeug zur Gangway fuhren. Es waren fünfzehn Attentatsdrohungen eingegangen. Bevor die Linienmaschine mit Verspätung startete, wurden darum die Passagiere gefragt, ob sie den prominenten Mitreisenden akzeptierten, denn das bedeutete zwangsläufig eine Gefährdung ihrer Sicherheit. Alle sprachen sich für Honeckers Verbleib in der Maschine aus.

    Honecker erhielt, kaum dass er in Chile gelandet war, vom Berliner Landgericht die Vorladung zum nächsten Verhandlungstag am 8. Februar, 9.30 Uhr. Darin hieß es: »Für den Fall, dass Sie zu diesem Termin nicht erscheinen sollten und die Kammer Ihr Ausbleiben als eigenmächtig ansehen würde, bestünde die Möglichkeit (...) des Erlasses eines erneuten Haftbefehls.« Am 29. Januar erklärte Erich Honecker, dass er »definitiv zu diesem Termin nicht erscheinen« werde.

    Sie vergessen die Pointe: Am 4. Februar 1993 hob das Berliner Landgericht den Termin auf und erklärte im formvollendeten Juristendeutsch: »Sofern im Gesundheitszustand des Angeklagten Honecker keine entscheidende Besserung eintritt, wird die Kammer nach Ablauf der Frist des § 229 StPO eine das Verfahren abschließende Entscheidung treffen.« Das geschah dann zwei Monate später: Das Verfahren wurde eingestellt.

    Ende gut, alles gut?

    Von wegen. Ich wollte das Erbe freibekommen und beschwerte mich im Namen der Witwe (Erich Honecker war am 29. Mai 1994 gestorben, jW) gegen die Einziehung der Konten von Erich Honecker, auf denen zusammen 234.873,07 Mark der DDR, also etwa 60.000 Euro lagen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied am 15. November 2001: Die Beschwerde von Margot Honecker als Erbin von Erich Honecker ist unzulässig. Mit anderen Worten: Einem deutschen Antifaschisten, dem bereits die Nazis jeglichen materiellen Besitz abgesprochen und zehn Jahre seines Lebens genommen hatten, verlor, postum per Gerichtsbeschluss sanktioniert, sein in jahrzehntelanger Arbeit Erworbenes und aus Alters- und Entschädigungsrenten Gespartes. Ich nenne das unverändert eine unrechtmäßige Enteignung in einem vermeintlichen Rechtsstaat.

    Es heißt, die Nachricht von der Abschiebung Honeckers aus Moskau am 29. Juli 1992 habe Ihre Kanzlei bei dringenden Verrichtungen gestört.

    So dramatisch war das nun auch wieder nicht. Die Mitarbeiter bereiteten meinen 70. Geburtstag vor, den ich am 30. Juli beging.

    An diesem Sonntag werden Sie 95. Sie haben einen Wunsch frei: Was wären Sie, außer Honecker-Verteidiger, als Jurist gern geworden?

    In der DDR? Justizminister! Ja, ich wäre gern Justizminister geworden, um unsere Defizite auf diesem Gebiet aufzuarbeiten. Aber mich hat ja keiner gefragt. Und nun ist es zu spät.

    Friedrich Wolff, geboren am 30. Juli 1922 in Berlin-Neukölln als Sohn eines jüdischen Arztes, ist Kommunist, Rechtsanwalt, langjähriger Vorsitzender des Berliner Rechtsanwaltskollegiums und in dieser Funktion Leiter des Rates der Kollegien der Rechtsanwälte der DDR

    Vor 25 Jahren, am 29. Juli 1992, lieferte Russland Erich Honecker an die BRD aus. Obgleich todkrank, wurde gegen den 80jährigen prozessiert. Nach 169 Tagen Untersuchungshaft, als die zynische Quälerei weltweit für Empörung sorgte, wurde der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt. Honecker konnte zur Familie nach Chile ausreisen, wo er im Mai 1994 verstarb.

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