?v=v5fA1tzO-tc&feature=youtu.be

  • 99 Posse zu G20: „Jeder definiert Gewalt anders“ | Telepolis
    https://www.heise.de/tp/features/99-Posse-zu-G20-Jeder-definiert-Gewalt-anders-3797960.html
    https://www.youtube.com/watch?v=v5fA1tzO-tc&feature=youtu.be

    In einem Exklusiv-Interview äußern sich erstmals gegenüber deutschen Medien nicht anonym Wortführer der Autonomen aus Südeuropa. „Brigaden“ aus Kampanien sollen hauptverantwortlich für die G20-Ereignisse von Hamburg gewesen sein

    Die 99 Posse aus Neapel gilt als das Sprachrohr des Schwarzen Blocks in Italien. Die Gruppe ist als Musik-Band in Italien und Spanien beliebt bis in linksbürgerliche Kreise, mit ihren Releases regelmäßig in den Charts, tritt in TV-Shows der staatlichen RAI auf und war nominiert für den MTV Europe Music Award.

    Musikalisch repräsentiert die 99 Posse seit gut 20 Jahren das Genre „Popmusik der Autonomen“, das sie begründeten - eine italienische Eigenheit und massenpopulär als dort breit akzeptierte militante Protestartikulation. Im Gegensatz etwa zur vergeistigten „Hamburger Schule“ (z.B. Tocotronic) changiert diese Szene zwischen Rap, Punk, Hardcore, Electro, Dub, Italo-Pop und Raggamuffin. Seit den 1990ern entwickelte sich im Raum Neapel die größte HipHop-Szene außerhalb der USA heraus, deren Vielfalt von Pro-Camorra-Titeln über Glam-R’n’B bis zu Polit-Raggamuffin reicht und die auch in Roberto Savianos Sky-TV-Serie „Gomorra“ zum Primetime-Hit wurde.

    Aus diesem Genre entstand landesweit das Movimento delle posse, quasi die musikalisch-ästhetische Jugendkultur des in ganz Italien seit den 1980ern politisch sehr einflussreichen und nun staatlich finanzierten Netzwerks der Centri Sociali ("C.S."), das heute tausende Jugendklubs, Bauernhöfe, Seniorenheime, Restaurants, Diskotheken, Rechtsberatungen, Galerien, Gärten, Sportvereine etc. betreibt. National-Ikone Adriano Celentano ist ihr Unterstützer, die C.S. gründeten in Palermo die Anti-Mafia-Initiative „Addio Pizzo!“ ("Verpiß Dich, Schutzgeld!").

    Dass besonders in Süditalien politische Militanz in weiten Kreisen der Bevölkerung Akzeptanz findet - wie die 99 Posse im folgenden Gespräch zum Ausdruck bringt -, verdankt sich wohl den besonderen italienischen Verhältnissen im 20. Jahrhundert, als auch der sehr besonderen langen Geschichte Neapels, die wohl die uneuropäischste Stadt Europas ist, was man dort an jeder Ecke spürt. In dramatischer Erinnerung sind den Ältesten vor allem die „Quattro giornate di Napule“, in denen sich die Bevölkerung todesmutig als einzige Großstadt mit eigener Waffengewalt von der deutschen Wehrmacht befreite.

    Soziohistorisch hat die politische Kampfform des Schwarzen Blocks wohl große Bedeutung bei der Erkämpfung der heutigen Arbeitnehmerrechte und des westlichen Sozialstaats liberal-demokratischer Prägung. Autonome Gruppen formierten sich erstmals vor rund 100 Jahren während der ersten großen Arbeiterbewegungen der Moderne. In Abgrenzung zur strikten frühgewerkschaftlichen Orientierung an der russischen KP Lenins vor allem entstanden in Südeuropa, aber auch in italienisch, irisch und jüdisch geprägten US-Städten wie NYC, SF oder Chicago (Sacco/Vanzetti) sich als freigeistig und teils anarchistisch verstehende Basisgewerkschaften als sogenannte „Syndikate“ mit insgesamt Millionen von Mitgliedern.

    Die Taktik des Schwarzen Blocks wandten erstmals sizilianische Kleinbauern während erster großer Anti-Mafia-Proteste in den 1920ern an und wurde später z.B. von der bis heute mächtigen CGT übernommen, welche aus dem Anarcho-FN-Syndikat entstand und Leon Blum 1936 zum ersten sozialistischen und jüdischen Premier Frankreichs machte. Im Spanischen Bürgerkrieg stellten diese „libertären Brigaden“ zehntausende Kämpfer - ganze staatliche Museen in Italien oder Mexico sind dem revolutionärem „A“-Syndikalismus gewidmet. Die Nachfolgegruppierungen stellen bis heute einen wichtigen politischen Faktor z.B. in Frankreich dar mit dem drittplazierten Kandidaten (19%) der Präsidentschaftswahlen, Melenchon.

    In der popkulturellen Ästhetisierung von Negation und Radikalopposition erlebte der Schwarze Block eine Wiedererstarkung seit den 1960ern durch die US-Black Panther, die Fiat-Streiks, No Future, den Kreuzberger 1.Mai 1987 und die sog. „neuen sozialen Bewegungen“. Seine maskiert-militante Stilistik wurde auch in Hunderten von Mainstream-Musik-Videos „verewigt“ von Rage against the Machine, Niggas with Attitude, Michael Jackson und Manu Chao bis hin zu Nicole-Scherzinger. Vor allem im Mezzogiorno, aber auch in Süd-Spanien oder Zentral-Griechenland sind Autonome Gruppen bis heute Hauptträger der Sozialversorgung, z.B. durch organisierte Essensverteilung an finanziell Diskriminierte.

    Politische Bedeutung aufgrund seiner zahlenmäßigen Stärke hat der Black bloc heute neben Italien vor allem in Regionen mit extrem stark politisierten Jugendkulturen: Brasilien, Mexico, Argentinien, Chile, Venezuela, Griechenland, Andalusien, im Baskenland, in ehemals kommunistisch dominierten Provinzen Indonesiens sowie in traditionell linken US-Städten mit „black block style tactics“ (Washington Post) wie Portland und Oakland/CA. Ehemals starke Gruppen in Schweden sind aufgrund ihrer zunehmenden völkischen Agitation heute kaum noch von Neo-Nazis zu unterscheiden. In Deutschland ging das Bundesamt für Verfassungsschutz in den letzten Jahren von rd. 8000 gewaltbereiten Linksextremisten aus.

    „Va bene, man hält uns für unsichtbare, vermummte Zombies“

    Nicht nur in Deutschland herrschte großes Entsetzen nach G20. Sogar das größte US-Blatt USAToday fragte sich: „What is a Black Bloc?“ Wie würden Sie das einem Normalbürger erklären?

    99 Posse: Der Schwarze Block ist ein europaweites bis internationales Netzwerk - ein Zusammenhang sehr unterschiedlicher Individuen, die alle miteinander vernetzt sind, trotz kleinerer politischer Unterschiede. In Italien, aber auch anderswo, entstand er in den 1980ern vor allem als Reaktion auf Repressionsversuche der Sicherheitsbehörden gegenüber linker Opposition generell. Wir als „Blocco nero“ entschieden uns als Reaktion auf diese politischen Zuspitzungen in der Gesellschaft damals, in den 1980er und 1990er Jahren, auch und vor allem physischen Widerstand zu leisten.

    Widerstand? Sie meinen Gewalt?

    99 Posse: Naja, jeder definiert Gewalt anders ... Die Vermummung legen wir an, um „Azioni“ durchführen zu können, ganz einfach. Aktionen, die viel, sehr viel Aufmerksamkeit erzeugen als Ergänzung zu linken Großdemonstrationen und anderen Ereignissen. Aktionen in Serie! Warum wir uns vermummen? Um nicht als Person aufzufallen während dieser Aktionen.

    Aktionen? Aber in Hamburg hatten viele nur Angst vor dem schwarzen Block?

    99 Posse: Okay, nicht jeder mag den Schwarzen Block - aber eines muss jeder einsehen: Es gibt eine globale Krise, eine Verrohung durch Verarmung. Wir müssen darauf reagieren. Leute wie wir müssen zusammenstehen, um Druck auszuüben.

    Wir als 99 Posse sind entstanden aus dem schwarzen Block der späten 1990er und 2000er, unsere centri sociali wie das C.S.O.A. Officina 99 sind unsere Kommunikationszentren. Wir haben das erkämpft in all den Jahren diese Strukturen der C.S. Wir haben sehr gute Verbindungen zur Stadtverwaltung von Napule, danke dafür, Leute! Sie kennen unsere Bedeutung, unsere Kraft! Es gibt große Sympathien für uns in linken Stadtverwaltungen wie hier - das gibt uns ja erst die Möglichkeit, uns auszudrücken, zu versammeln, zu vernetzen und europaweit zu agieren …

    Nun ja, Napule ist bekanntlich eine andere Welt, nicht nur im Spanischen Viertel und in Giuliano ... Aber warum Hamburg?

    99 Posse: Genua 2001 war eine große Sache für uns, der Startpunkt - wir haben aus diesem Erfolg gelernt und uns weiterentwickelt bis G20. Es ist eine sehr erfolgreiche Strategie, die sich bis Hamburg entwickelt hat in Bezug auf unsere Militanz des Blocco Nero. Va bene, man hält uns für unsichtbare, vermummte Zombies, va bene, sehr gut für den schwarzen Block!

    Sicherheitsbehörden und Politiker hier gehen nun davon aus, dass hauptsächlich italienische Aktivisten hinter den großen Zerstörungen in Amburgo stehen. Sind Eure Leute wirklich gefährlich - oder übertreibt man in der Darstellung der Polizei?

    99 Posse: Die deutsche Polizei sollte sich lieber mal erinnern an ihre Geschichte, an unsere Geschichte. Unsere Väter und Großväter waren Partisanen im Guerilla-Krieg gegen die Nazis. In den 1970ern hatten wir in Italien die Massenbewegungen von Potere Operaia und dann Autonomia Operaia. Danach kamen die großen Anti-Imp-Proteste der 1980er. Sie haben viel erreicht! Wir haben viel erreicht! Es gab eine grausame Unterdrückung gegen alles Linke in dieser Zeit - wir sagen bewusst „grausam“! Aber wir haben viel erreicht, wir werden viel erreichen!

    Also, deutsche Polizei, was wollt Ihr: Wir sind gefährlich? Ihr seid eine Bedrohung, nicht wir!

    Das heißt, Leute von Ihnen haben die Dutzenden von Autos in der Elbchaussee angezündet und die Stadtviertel verwüstet?

    Wir sagen stolz: Das Beste, was dort passiert ist, aus unserer Sicht, das wurde ausgeführt von Leuten aus Italien. Wir kennen die Leute, die es getan haben. Nicht jeden einzelnen, denn es waren viele. Aber wir wissen, wer diese direkten „Aktionen“ ausführte.

    Was soll denn das für die Zukunft heißen? „No justice - no peace“? Krawall ist also Protest für Sie?

    99 Posse: Es wird keinen Frieden geben, nicht den kleinsten. No any peace. Senza giustizia nessuna pace! Das bestimmt unser Handeln, das fordern wir vom Staat! Ihr müsst eines wissen: Für uns zählt Ghandi nichts.

    Aber zwischen Ghandi und Krieg gibt es doch auch Zwischentöne politischer Intervention!?

    99 Posse: Wir lehnen Pazifismus ab. Unser Ziel ist eine Bewegung des Drucks, die Verhältnisse angreift. Wir wollen keine struggle army wie die Black Panther, aber wir sind bereit, Angriffe auf unsere Aktionen abzuwehren. Wir sagen ganz klar: Wir provozieren keinen Bürgerkrieg. Aber sollte die Repression gegen uns als Aktivisten der Radikalopposition zunehmen, werden wir angemessen darauf zu reagieren wissen. Es wird weitergehen!

    Krawalle sind also Protest für Sie!?

    99 Posse: Die teilweise und punktuelle Gewalt des Schwarzen Blocks zu einzelnen Anlässen ist doch nur die massenmedial sichtbare Gewalt und die Reaktion auf die unsichtbare und die, die im Kapitalismus weltweit jeden Tag als sehr konkrete stattfindet gegen Milliarden von Menschen, nicht nur im Trikont. Wenn die wirkliche Gewalt thematisiert wird von der Medien-Öffentlichkeit aufgrund unserer Azioni, ja, dann haben wir unser strategisches Ziel erreicht. Unsere Azioni sind Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck. So ist es!

    Also: Unsere Kampfformen sind sehr starke Aktionen, aber auch Blockademanöver in Kooperation mit Gruppen aus der Zivilgesellschaft. Die Unzufriedenheit verschiedenster Opponenten aus der ganzen Gesellschaft versuchen wir, offensiv zu bündeln, um in jeder Form anzugreifen. Ja, natürlich, es geht um Aufmerksamkeit. Diese Serien von Aktionen sind ganz einfach notwendig.

    Notwendig? Für was denn?

    99 Posse: Es sind die Regeln der Gesellschaft, nach denen wir spielen: Aktionen, Aufmerksamkeit, weitere Proteste, noch größere Aktionen, noch mehr Aufmerksamkeit!

    Aber in Hamburg haben doch anscheinend auch unpolitische Gaffer mitgewirkt an der Gewalt?

    99 Posse: Das, was an Aktionen ausgeführt wurde, war notwendig. Diese Art des militanten Kampfes ist ganz einfach notwendig als politische Einwirkung aller Wütenden. Wir setzen auf die Kraft aller Leute, die mittun an unseren Aktionen.

    Ja, und das soll heißen: Jede Aktion ist politisch ... Ist das nicht zusammenhanglos?

    99 Posse: Seht die Welt an: Eine Veränderung ist notwendig. Wenn das notwendig ist, sind auch unsere Aktionen in jeder Form notwendig. Unser Protest heißt: Den Willen der Leute, der Unzufriedenen, der Radikalopposition, der Widerständigen in Bilder zu verwandeln! Das ist der Kern: Solo la volontà forte del popolo può cambiare le cose. Quasi alla porte. Dieser Kampf steht nun „vor der Tür“. Wir erhoffen uns viel, sehr viel von der nahen Zukunft ... Diese Protestformen der Azioni müssen wachsen.
    Je stärker die soziale Ungleichheit zunimmt, desto mehr nimmt natürlich auch die Wut unpolitischer ragazzi zu ... Das ist nun mal der Mechanismus dieses Kapitalismus heute, der ja vor allem in Deutschland und Italien im Postfaschismus gründet.

    Die Entwicklung des Widerstandes ist noch lange nicht vorbei mit dem Erfolg von Hamburg. Wir sind immer mehr geworden. Und wir werden noch viel mehr werden. Das war nur der Anfang.

    „Ausbeutung ist doch auch Gewalt, oder nicht?“

    Euer Kampf-Song „Antifa“ ist heute die Hymne der italienischen Militanten und des Schwarzen Blocks in ganz Südeuropa. Was heißt denn Antifa für Euch?

    99 Posse: Nun, in Italien wird der Faschismus von damals bis heute sträflich ignoriert, bis heute werden Faschisten gedeckt von Behörden. Es ist einfach ein Skandal!

    Sie meinen offene Symbole der faschistischen Ära, die im Gegensatz zu Deutschland bis heute nicht verboten sind: z.B. die Mussolini-Statue vor dem Olympiastadion von Lazio Roma, den jeder in Italien für einen Nazi-Club hält, den Hitler-/Duxgruß des Lazio-Kapitäns Paolo di Canio nach jedem Tor oder die Neonazi-Mordserie von Firenze 2011!?

    99 Posse: Ja, aber nicht nur das ... Wiederum: Antifa heißt: Aufmerksamkeit zu schaffen. Dinge sichtbar machen. Es geht nicht nur um kurzweilige Symbole, es geht darum, die dahinterstehenden, langfristigen Strukturen aufzudecken, zu zeigen, anzuklagen - in jeder Form!

    Was denn sichtbar machen?

    99 Posse: In Südeuropa gibt es immer noch einen alltäglichen und institutionellen Zusammenhang zwischen alten Strukturen der Faschisten, neuen Faschisten und der kapitalistisch-normalisierenden Realität im Alltag. Wir als handelnde Antifaschisten aber haben auch Zellen von Napoli bis Milano. Diesem Konglomerat der Mächtigen werden wir nicht weichen, in keiner Stadt!

    Ist der militante Schwarze Block in Italien derart aktiver als hier?

    99 Posse: Naja, die Geschichte ist einfach eine ganz andere. Die Bewegungen hier und dort haben sich unterschiedlich entwickelt, die Anknüpfungen sind andere, auch das diffus und undefinierbar Linke allgemein als alltägliche Haltung „ganz normaler“ Leute - vor allem aus der sogenannten Unterschicht - gegen den Staat ist hier viel größer, eine Art Charakterhaltung der Skepsis, in Italien wird Militanz akzeptiert von vielen, auch von Nicht-Militanten, Nicht-Linksradikalen, als Weiterung des Überlebenskampfes der Partisanen der 1940er betrachtet.

    Damals der Kampf gegen die Deutschen, nun der gegen die Armut. Gerechtigkeit heißt Abschaffung der Armut. Gerechtigkeit heißt soziale und finanzielle Gerechtigkeit. Umfassend und für alle. Ja, und solange das nicht erreicht ist, wird es eben keinen Frieden geben. Ausbeutung ist doch auch Gewalt, oder nicht? Unsere Gewalt richtet sich nur gegen diese Gewalt - als offensive Selbstverteidigung. Niemand sollte sich Gewalt durch Ausbeutung gefallen lassen! All das läßt die Szene in Italien natürlich viel stärker werden.

    Aber Italien ist nicht gleich Europa!?

    99 Posse: Ausbeutung erzeugt Wut erzeugt Gewalt, überall - es liegt an den Mächtigen und an den Menschen, diese völlig irre und zerstörerische Logik des Kapitalismus zu beenden, so wie auch der Faschismus in den 1940ern bewaffnet besiegt wurde. Es geht uns nicht um Lust an Gewalt, es geht um ihre Notwendigkeit. Wird die Ausbeutung beendet, so wird auch die Gewalt enden ...

    Also Ihr in Deutschland seht her: Hamburg hat es gezeigt. Wir sind sehr, sehr viele in Südeuropa, aber nicht nur im Mezzogiorno, nicht nur in Italien, auch andere Autonome zeigten ja Präsenz!

    #Italie #99_Posse #Allemagne #politique #violence #résistance #nazis