Ein Glücksfall: Die wiederentdeckten Filme der Staatlichen Filmdokumentation der DDR
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11.7.2025 von Frank Schirrmeister - Im Staatsauftrag wurden Dokumentationen des Alltags in der DDR hergestellt, verschwanden aber ungesehen im Archiv. Nun können sie kostenlos besichtigt werden.
Sämtliche Filme, die in der DDR gedreht wurden, unterlagen der behördlichen Zensur und verbreiteten demzufolge höchst selten ein reelles Abbild des sozialistischen Alltags. Alle Filme? Nein! Es gab eine Nische, in der Filmemacher weitgehend frei von staatlicher Bevormundung arbeiten und (Dokumentar-)Filme drehen konnten, die keiner Abnahmepflicht durch die Hauptverwaltung Film im Kulturministerium unterlagen. Einzige, aber wesentliche Voraussetzung war, dass kein gewöhnlicher Zeitgenosse diese Filme jemals zu Gesicht bekommen sollte, sie zeitlebens der DDR also weder im Kino noch im Fernsehen oder auf Festivals liefen. Klingt seltsam? Durchaus, aber genau das war der Auftrag der Staatlichen Filmdokumentation, einer Abteilung des Filmarchivs der DDR.
Aus heutiger Sicht mutet es wie die Ausgeburt einer kafkaesken Bürokratie an, dass eine kleine Schar von Filmemachern im Staatsauftrag zwischen 1971 und 1986 filmische Dokumentationen des Alltags in der DDR herstellte, die dann jedoch nie öffentlich gezeigt werden durften und im Archiv verschwanden. Dort lagerten sie und gerieten in Vergessenheit. Erst seit etwa zehn Jahren wird der Bestand systematisch erschlossen und im Bundesarchiv digital aufbereitet.
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Auch die Arbeit wurde vom SFD dokumentiert.fossiphoto/imago
Das Berliner Zeughauskino präsentierte gerade erstmals in einer Filmreihe eine Auswahl dieses hochinteressanten Materials einer staunenden Öffentlichkeit. Tatsächlich hat man solcherart ungeschminkte, authentische filmische Einblicke in verschiedenste Aspekte des Alltags- und Arbeitslebens der DDR nie bisher gesehen. Eine Fundgrube für Historiker, Ethnologen, Interessierte, Nostalgiker, Soziologen ...!
Faszinierende Reportage über die Berliner Stadtreinigung
Gemäß dem Selbstverständnis als Arbeitsgesellschaft spielte die Dokumentation der Arbeitswelt eine zentrale Rolle. In den zahlreichen Filmen, in denen Arbeiter beobachtet und befragt, Arbeitsprozesse sowie Fort- und Rückschritte untersucht werden, wird deutlich, welch hohen Stellenwert die Arbeit für den Alltag der Menschen hatte, zugleich aber auch, unter welch widrigen Umständen die Arbeit oft verrichtet wurde.
In einem Bericht über den VEB Elektrokohle Berlin, dem einzigen Hersteller für Graphitprodukte in der DDR, spricht der Werksleiter freimütig über den völlig überalterten Maschinenpark; die Bilder aus den Werkshallen dazu unterstreichen das eindrücklich, unterstützt durch das körnige Schwarzweiß des 16mm-Filmmaterials.
Ebenso faszinierend ist eine Reportage über die Berliner Stadtreinigung. Einen Tag lang werden die Männer eines Müllautos auf ihrer Tour durch den Prenzlauer Berg begleitet. Fast hat man vergessen, in welchem Ausmaß die Gebäudesubstanz des Altbaubezirks von Baufälligkeit und Verfall gezeichnet war. An verwitterten Fassaden vorbei geht die Fahrt durch die Gegend um den Kollwitzplatz; wo sich heute die bourgeoise Bohème in den unbezahlbaren Eigentumswohnungen räkelt, schleppen die Müllmänner die schweren Tonnen durch finstere Treppenhäuser und verwahrloste Hinterhöfe. Am Ende der Schicht sortieren sie den Müll notdürftig beim Ausladen auf der Deponie. Auffällig viel Brot befindet sich darunter, was vom Irrsinn einer fehlgeleiteten Subventionspolitik erzählt, die zu solcherart Missachtung von Lebensmitteln führte, die letztlich oftmals an die Schweine verfüttert wurden.
Andere Themenfelder beschäftigen sich mit Familiensituationen und Formen des Zusammenlebens, sei es eine Straßenumfrage zum Thema „Was halten Sie von Partnerschaft ohne Trauschein?“ (die meisten finden das tolerabel) oder eine Untersuchung von Lebens- und Wohnverhältnissen im Gebiet des Berliner Scheunenviertels.
Überhaupt das Wohnen: Kaum etwas beschäftigte die Menschen mehr und griff in ihr Leben ein, wie der Mangel an Wohnraum bzw. dessen schlechter Zustand. Zwar versuchte die Parteiführung, mit massenhaftem, standardisiertem Wohnungsbau diesen Mangel zu mildern, gleichzeitig verfielen jedoch die Innenstädte, mussten Familien in eigentlich unzumutbaren Verhältnissen wohnen, entstand das Phänomen illegal besetzter Wohnungen.
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Wohnraum war eines der kontinuierlichen Problemfelder der DDR-Gesellschaft und wurde auch von der SFD dokumentiert.Sächsische Zeitung/imago
Jeder Anflug von Nostalgie vergeht beim Anblick der Schlange vor der „Wohnraumlenkung“ genannten Behörde und den dort geführten Bittgesprächen im Kampf um eine bewohnbare Wohnung. Zitat: „Nun bitte ich den Herrn Stadtbezirksrat für Wohnungswesen, für meinen Sohn doch nun die Möglichkeit zu suchen, eine Wohnung zu bekommen.“
Vollends die Fassung verliert der Betrachter beim Report über zwei Familien mit jeweils einem Kind, die sich eine kleine Hinterhof-Zweiraumwohnung teilen müssen und deren Fazit auf die entsprechende Frage hin tatsächlich lautet: „Als Notfall würde ich uns nicht unbedingt bezeichnen.“ Immerhin kostet die Wohnung lediglich 37,50 Mark, auch das eine unsinnige Subventionierung, erwachsen aus der Erfahrung der Wohnungsnot in den 1920er Jahren, in der die führenden Genossen des Landes politisiert wurden.
Auch Bühnenstücke und Musik wurden gemaßregelt
Die ideellen Anfänge der Staatlichen Filmdokumentation (SFD) liegen im Dunkel der Eiszeit nach dem 11. Plenum des Zentralkomitee der SED 1965, auf dem fast eine ganze Jahresproduktion der Deutschen Film AG (Defa) dem Verbot anheim fiel und auch Bücher, Bühnenstücke und Musik gemaßregelt wurden. In den Jahren danach reifte unter den Funktionären die Idee, den widersprüchlichen Weg hin zum wahren Sozialismus filmisch zu dokumentieren, ihn aber fürs Erste ins Archiv zu verbannen, um „unsere Menschen“ nicht zu verwirren.
Das hat wohl mit dem paternalistischen Grundverständnis der führenden Genossen zu tun, die am besten wussten, was man dem Volk, dem „großen Lümmel“ (H. Heine) zumuten durfte und was lieber nicht. Wenn schon die offizielle Kunstproduktion einen propagandistischen Auftrag zu erfüllen hatte, sollte wenigstens inoffiziell ein unverstellter Einblick in realsozialistische Lebensverhältnisse festgehalten und für die Nachwelt archiviert werden.
Das entsprach dem marxistischen Sendungsgedanken von der „historischen Mission“, demzufolge der Weg hin zum Kommunismus ein gesetzmäßiger war. Wenn dann sozusagen das Ende der Geschichte erreicht wäre, sollten die Filme vor zukünftigen Generationen Zeugnis ablegen vom schwierigen Anfang und den mühevollen Schritten, die gegangen werden mussten.
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Der Prenzlauer Berg in der DDR-ZeitJürgen Ritter/imago
Für Recherchen außerhalb der Hauptstadt fehlte oft das Geld
Unter diesen Vorzeichen entstanden ungefähr 300 sehr unterschiedliche Filme, die einen ungeschminkten und vor allem unzensierten und propagandafreien Einblick in den realen DDR-Alltag zeigten. Man kann gar nicht genug betonen, welchen Schatz dieser Bestand für Historiker darstellt, weil er die Quellenlage zur DDR-Geschichte erheblich erweitert.
Bemerkenswert ist die erratische Vielfalt der Themen und Herangehensweisen, mit denen die Filmemacher dem Volk sozusagen auf´s Maul schauten. Mit dem Auftrag, möglichst die gesamte Gesellschaft zu dokumentieren, drangen sie in sonst ungesehene Nischen vor und fingen Stimmungen und Momente ein, in denen sie einen ungewöhnlich offenen Blick auf die DDR und ihre Menschen warfen. Unter filmischen Gesichtspunkten ist das Material durchaus spröde und manchmal unbeholfen; da die Filme ja nie zur Veröffentlichung vorgesehen waren, verzichtete man weitgehend auf filmische Stilmittel wie eine narrative Montage oder einen Spannungsbogen; häufig wirken sie wie ungeschnittenes Rohmaterial, was es ja auch war.
Die Spannung ergibt sich nicht aus einer geschickten Dramaturgie, sondern aus der Authentizität des Gezeigten. Manch Unzulänglichkeit war den begrenzten finanziellen Mitteln geschuldet. Das ist auch der Grund, weshalb die meisten Filme in Berlin gedreht wurden; für Recherchen außerhalb der Hauptstadt fehlte oft das Geld oder das einzige Fahrzeug der Abteilung war kaputt.
Eine Zensur war gar nicht notwendig
Eine Aufgabe der SFD war es auch, wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, aus Kunst und Kultur zu ihren Lebzeiten filmisch festzuhalten. Etwa die Hälfte der Produktion besteht aus „Personendokumentationen“, darunter Künstler, Schauspieler, Schriftsteller, aber auch Handwerker aussterbender Gewerke, Puppenspieler. Sogar ein Keramiker, überzeugter Christ und Wehrdienstverweigerer, bereichert die illustre Runde, womit die Kollegen bei der SFD bis an die Grenze des Mach- bzw. Zeigbaren gingen.
Eine staatliche Abnahme, also Zensur, musste es für diese Filme gar nicht geben, auch ohne wusste jedermann, wie weit er gehen durfte. Die berühmte Schere im Kopf hatten die meisten auch ohne behördliche Überwachung verinnerlicht. Deutlich wird das in einem gefilmten Gespräch zwischen dem Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ Wilhelm Girnus sowie dem Schriftsteller Günther Rücker und Autor Wolfgang Kohlhaase. Die drei reden über die Freiheit der Kunst, zu früh abgebrochene Diskussionen und die Notwendigkeit, abweichende Meinungen zuzulassen.
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Gegen Ende der DDR war die Vision aufgebraucht und die Staatliche Filmdokumentation wurde eingestellt. Im Bild: Honecker im Palast der RepublikStana/imago
Einerseits ist es berührend zu sehen, mit welch nachdenklicher Ernsthaftigkeit abgewogen und gesprochen wird, mit einem (naiven) Glauben daran, dass Gespräch nützlich und Veränderung möglich ist. Andererseits wirkt die Runde zugleich wie ein groteskes Schauspiel, denn alle drei reden gekonnt um den großen Elefanten im Raum herum – das Wort Zensur fällt kein einziges Mal. Noch größer wird der Elefant, wenn man erfährt, dass dieser Film 1978 entstand, keine zwei Jahre nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns und den sich anschließenden Repressalien gegen missliebige Künstler.
1986 wurde die Abteilung schließlich aufgelöst. Folgt man der Historikerin Anne Barnert, die ein Buch über diesen Komplex herausgegeben hat, wurde das Privileg der SFD, unzensierte Einblicke in den DDR-Alltag zu geben, für die Funktionäre zunehmend zum Problem. Die Visionen waren aufgebraucht, der Zukunftsoptimismus verblasst. Und wann sollte diese Zukunft überhaupt sein? In dreißig, fünfzig oder hundert Jahren?
Das Bundesarchiv hat diese Antwort vorweggenommen, in dem sie die filmischen Dokumente eines gesellschaftlichen Experiments (und dessen Scheitern) dem Vergessen entzogen und damit sozusagen festgelegt hat, dass jetzt die Zukunft ist – die freilich kaum etwas mit der einst imaginierten zu tun hat.
Nun werden Sie, liebe Leserinnen und Leser, vermutlich bedauern, die (durchgehend ausverkaufte) Filmreihe im Zeughauskino verpasst zu haben, aber dem kann abgeholfen werden: Mittlerweile kann der gesamte Bestand der Staatlichen Filmdokumentation online im digitalen Lesesaal des Bundesarchivs besichtigt werden, kostenlos und ohne Anmeldung. Über die letzten Jahre sind die erhaltenen Filmkopien komplett digitalisiert worden. Angesichts knapper Kassen eine bemerkenswerte Leistung, die auch für die Bedeutung dieses Konvoluts für Zeithistoriker spricht.
Frank Schirrmeister ist studierter Historiker, Fotograf und Bildredakteur aus Berlin. Außerdem schreibt er. Mehr Infos unter www.bildstelle.net