Ein zwiespältiges Erbe / Häretiker und Juden verfolgte der Reformator Martin Luther mit Vehemenz – zugleich war er einer der ersten Kritiker des Frühkapitalismus (junge Welt)

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  • Ein zwiespältiges Erbe
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    C’est aujourd’hui le 500ème anniversaire de la publication des thèses contre le catholicisme par Martin Luther. C’est un événement national, alors le gouvernement de gauche de la capitale nous accorde un jour férié supplémentaire. L’année prochaine le « Reformationstag » sera de nouveau réservé aux habitants des contrées protestantes moins cosmopolites que Berlin.

    Pour l’occasion le journal communiste Junge Welt publie un article qui décrit comnent le jeune rebelle s’est mué en antisemite radical et fanatique au service des nobles convertis afin d’échappee au diktat de Rome. Ses idées sociales et économiques voient leur mise en oeuvre seulement par les nazis, qui veillent à ce que surtout aucun allemand arien ne souffre de la faim jusqu’au dernier moment de leur reigne.

    Du point de vue d’un pauvre provincial la politique sociale et économique des gouvernements libéraux de nos jours a l’air nettement moins « sociale » et « juste » que celle des nazis inspirés par les idées moyennageuses de Luther.

    Voici comment on peut être à la fois bon chrétien et menbre d’un parti néofasciste.

    Häretiker und Juden verfolgte der Reformator Martin Luther mit Vehemenz – zugleich war er einer der ersten Kritiker des Frühkapitalismus

    Von Gert Wendelborn

    Martin Luthers antijüdische Hetzschriften gegen das »böse, hurerische Volk« der Juden, die in den deutschen Fürstentümern seit langer Zeit Verfolgungen ausgesetzt waren, werfen einen langen Schatten auf die Feiern zum 500jährigen Jubiläum der Reformation.

    Gert Wendelborn schrieb an dieser Stelle zuletzt am 27. und 29. Mai 2017 über Luthers Auseinandersetzung mit Karlstadt und Thomas Müntzer sowie die Bauernkriege

    Am Dienstag feiert die evangelische Kirche die 500. Wiederkehr des Lutherschen Thesenanschlags in Wittenberg. Die Redaktion hat aus Anlass des Reformationsjubiläums den evangelisch-lutherischen Theologen und ehemaligen Professor für Kirchengeschichte Gert Wendelborn um verschiedene Beiträge zu Martin Luthers Leben und Wirken gebeten. Wir veröffentlichen davon heute den letzten Teil über Luthers Kritik der Täuferbewegung sowie seinen Antijudaismus und sein Verhältnis zum Frühkapitalismus. (jW)

    Ein Streitthema des frühen 16. Jahrhunderts war die Erwachsenentaufe, wie sie die Täuferbewegung praktizierte, die bald überall verfolgt wurde. Dabei ging es im Kern nicht um die Tauflehre als Bestandteil der Dogmatik, sondern um das christliche Selbstverständnis. Die oft fälschlicherweise Wiedertäufer genannten Gläubigen sahen die Säuglingstaufe als ungültig an. Taufe konnte für sie nur ein Bekenntnisakt mündiger Christen sein. Mit der Säuglingstaufe entschieden die damaligen Christen über den Charakter ihrer Kirche: Sollte sie weiterhin – wenn auch unter veränderten Bedingungen – eine Staatskirche sein oder vielmehr die von der »Welt« im widergöttlichen Sinn sichtbar geschiedene Minderheitskirche der wirklich ihr Leben nach dem Glauben Gestaltenden? Das war der eigentliche Grund dafür, warum Katholiken, Lutheraner und Reformierte hier jede Toleranz vermissen ließen und notfalls zu härtester Vergeltung bis zum Todesurteil schritten. Sie wollten sicher sein, dass sich ihnen niemand entziehen konnte, dass der kirchliche Anspruch auf sämtliche Bewohner des Territoriums ungeschmälert in die Praxis umgesetzt werden konnte.
    Intoleranz gegen die Täufer

    Bis 1525 war Martin Luther (1483–1546) vor allem bemüht, in seinen Schriften einen Glauben auch in Kleinkindern nachzuweisen. Er betrachtete ihn als durch die Taufe hervorgebracht, zugleich verwies er auf den Glauben der Eltern und Paten. Das Fehlen des Verstandes beim Säugling schien ihm geradezu ein Vorzug, da dieser dem Glauben nur im Weg stehe. Seit 1528 hob Luther hervor, dass es vor allem auf Gottes Einsetzung und Befehl ankomme. Die Taufe sei unabhängig vom Glauben gültig. In einem frühen Taufsermon vom November 1519 hatte er noch andere Akzente gesetzt. Das Untertauchen des Täuflings hatte er dort so gedeutet, dass der alte Mensch in den Tod gegeben werde. Das Ersaufen der Sünde geschehe freilich in diesem Leben nicht völlig. Das Zeichen werde nur einmal im Leben vermittelt, aber die geistliche Taufe dauere lebenslang und komme erst im Tode an ihr Ziel, wenn der Mensch sich aus Gottes Hand völlig neu empfange. Die Betonung lag hier also noch auf dem lebenslangen existentiellen Prozess des Glaubens. Luther wollte damit den Taufakt keineswegs in seiner Bedeutung mindern, sondern die Taufe in den gesamten Lebensvollzug integrieren.

    Eine solche Argumentation wurde später durch den Verweis auf die Autorität abgelöst. Schließlich sei die Kindertaufe seit der Zeit der Apostel geübt worden, wäre sie eine Irrlehre, hätte sie sich nie so lange halten können. Neutestamentliche Belege spielten für Luther nur eine geringe Rolle. Die Anhänger der Erwachsenentaufe rechnete er zu den »Schwärmern«, zwischen deren einzelnen Erscheinungsformen er kaum differenzierte, weil es ihm in jedem Fall um eine radikale Absage ging. Persönlich dürfte er nie Taufgesinnte kennengelernt haben. In der ersten Periode der Reformation war er noch der Ansicht, dass Irrlehren nicht bestraft werden dürfen, da dies nur zu Heuchelei und Verstellung führe. In Kursachsen gebe es Raum für verschiedene, auch für falsche Glaubensüberzeugungen. Der unumgängliche Kampf mit diesen müsse mit geistigen Mitteln ausgefochten werden, und die Obrigkeit habe sich in diesen nicht einzumischen. Auch wusste Luther, dass in jeder Häresie ein Körnchen Wahrheit steckt.

    Bald schon aber änderte er seine Meinung. Wenn eine Irrlehre in die Nähe des Aufruhrs gerate, habe der Staat die Pflicht, diese zu unterdrücken. Von den Täufern verlangte er um der Ordnung willen in einem weiteren Schritt, auf die öffentliche Ausbreitung und Ausübung ihres Bekenntnisses zu verzichten. Wer sich in die Landesgesetze nicht schicken wolle, der solle das Land verlassen. Der letzte Schritt war, dass Luther auch das heimliche Festhalten am täuferischen Bekenntnis unter Strafe gestellt wissen wollte. Da er den friedlichen Täufern im östlichen und südlichen Teil des Reichs im Gegensatz zum sogenannten Täuferreich von Münster den Vorwurf des Aufruhrs nicht machen konnte, unterstellte er den Häretikern Gotteslästerung. Darunter verstand er schon das Fernbleiben von den offiziellen Gottesdiensten als Missachtung des Predigtamtes. Jede nicht lutherische evangelische Predigt wurde nun mit Friedensstörung und Aufruhr gleichgesetzt. Greife die Obrigkeit nicht ein, so würden die »Rottengeister« die Seelen verführen und morden. Dass die Erwachsenentaufe auch reichsrechtlich mit dem Tod bedroht wurde, gab ihm die juristische Begründung für seine Stellungnahme. Seit 1531 stand Luthers Unterschrift auf den vor allem von Philipp Melanchthon (1497–1560) ausgearbeiteten Gutachten der Wittenberger Theologen, die für »Wiedertäufer« die Todesstrafe bzw. in leichteren Fällen Einkerkerung und Landesverweisung vorsahen.

    Der Strasbourger Reformator Martin Bucer (1491–1551) und der Landgraf Philipp von Hessen (1504–67) verhielten sich in dieser Frage wesentlich toleranter als Luther. Bucer wies darauf hin, dass man gegen Altgläubige in Kur­sachsen nie solche Maßnahmen ergriff. Philipp verzichtete lebenslänglich auf die Todesstrafe für Täufer, obgleich diese auf seinem Territorium viel häufiger anzutreffen waren, und beschränkte sich auf das Mittel der Ausweisung. Die Wittenberger Theologen kritisierten ihn deshalb 1536 in einem Gutachten, unterzeichnet von Luther, Caspar Cruciger d. Ä. (1504–1548), Johannes Bugenhagen (1485–1558) und Melanchthon. Sie beriefen sich dabei auf Könige des Alten Testaments, die falsche Propheten hätten töten lassen. Die Obrigkeit, so hieß es, dürfe kein Unkraut wachsen lassen. Die Ablehnung der Kindertaufe würde das Volk letztlich ins Heidentum führen. Die zur Schau getragene Heiligkeit der Täufer sei nur Heuchelei und ein teuflisches Trugbild. Melanchthon übertraf bei dieser Abgrenzung nach »links« Luther noch an Strenge.

    1538 schrieb Luther eine empfehlende Vorrede zu einer Schrift des Eisenacher Superintendenten Justus Menius (1499–1558), die den Gipfel lutherischer Intoleranz gegenüber den Täufern darstellte und das Vorgehen gegen den Gerstunger Bauern Fritz Erbe (1500–1548) und andere thüringische Täufer zu rechtfertigen suchte. Weil Philipp die Zustimmung zu dessen Hinrichtung verweigerte, verbrachte Erbe insgesamt 16 Jahre im Kerker, zunächst in Eisenach und anschließend auf der Wartburg, bis ihn 1548 der Tod erlöste. Zwei seiner Anhänger, die ein nächtliches Gespräch mit dem Eingekerkerten zustande brachten, wurden Anfang 1538 hingerichtet, was im thüringisch-hessischen Grenzgebiet großes Aufsehen erregte.
    Der Reformator und die Juden

    Der Wandel in Luthers Stellung zu Häresie lässt sich neben den Täufern in besonders krasser Form in seinem Urteil über die Juden festmachen. Die Berliner Kirchengeschichtlerin Rosemarie Müller-Streisand urteilte in ihrem Buch »Luthers Weg von der Reformation zur Restauration« (Halle 1964): »Es gibt kaum einen Punkt, der so symptomatisch für die Wandlung des Kirchenverständnisses, für die Absage an die in der Kirche und nicht zu ihr zu vollziehende Buße ist wie die neue Stellung Luthers zu den Juden, die er in späterer Zeit einnimmt. War ihre Existenz ursprünglich ein einziger Bußruf für die Kirche, so wird ihnen nun ihre Unbußfertigkeit zum größten Vorwurf gemacht. Luther nimmt nun die gleiche Stellung zu den Juden als Feinden Christi, als Feinden des Kreuzes ein wie die gesamte mittelalterliche Kirche; die Schärfe seiner Aussagen übertrifft sogar das traditionell Übliche erheblich.«

    Ende 1513 hatte Luther sich noch im Streit Johannes Reuchlins (1455–1522) mit den Kölner Dominikanern auf die Seite des Humanisten gestellt. Die Christenheit übersehe ihre eigenen Fehler, wenn sie wie die Kölner die Konfiszierung rabbinischer Schriften verlange. Eine Bekehrung der Juden könne allein Gott vollbringen. Auch im Jahr 1520 hielt er es noch für eine verdammenswerte Raserei, die Juden zu verfolgen und ihre Leiden zu verhöhnen, wo doch nur Trauer, Schmerz und inständiges Gebet für sie angebracht seien. Er hoffte zu dieser Zeit auf die Bekehrung zwar nicht des gesamten jüdischen Volkes, aber doch einer größeren Zahl von ihnen, da diese mit der Reformation jetzt erstmals den christlichen Glauben in seiner reinen Form kennenlernen könnten. Deutlich tritt ein selbstkritisches Motiv hervor, wenn Luther erklärt, die Christen treffe eine Mitschuld an der jüdischen Gottlosigkeit, da sie die Juden durch ihre Grausamkeit abgestoßen statt sie durch Freundlichkeit für das Christentum zu gewinnen gesucht hätten. Und im Gegensatz zu den Christen, die an Feiertagen allein ihren Bauch pflegten, studierten die Juden am Sabbat wenigstens Mose und die Propheten. Sie seien nicht so verderbt wie die Papisten: »Man sage ihnen gütlich die Wahrheit; wollen sie nicht, lasst sie fahren! Wie viele sind Christen, die Christus nicht achten.«

    Luthers judenfreundliche, selbstkritische Phase erreichte ihren Höhepunkt 1523 in der Schrift »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei«, einer Gelegenheitsarbeit. Unter dem Regiment der Papisten wäre auch er, als Jude, lieber eine Sau als ein Christ geworden, schrieb Luther. »Sie haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen, haben nichts anderes zu tun gewusst, als sie zu schelten und ihnen ihr Gut zu nehmen, wenn man sie getauft hat; keine christliche Lehre noch Leben hat man ihnen bewiesen, sondern sie nur der Päpsterei und Möncherei unterworfen.« Diese Schrift setzte große Erwartungen in die Juden. »Wenn die Apostel, die auch Juden waren, so mit uns Heiden gehandelt hätten wie wir Heiden mit den Juden, so wäre nie einer Christ unter den Heiden geworden.« Luther kritisierte die Isolierung der Juden in Ghettos und forderte die Christen dazu auf, ihnen volle Gemeinschaft und damit das Recht freier Berufsausübung zu gewähren. Bisher habe man sie durch Beschränkung ihrer Freiheit zum Wucher getrieben. Die Reformation entfachte unter gläubigen Juden die Hoffnung, missionierend für das eigene Bekenntnis eintreten und ihre Bewegungsfreiheit vergrößern zu können.
    Fackelträger des Judenhasses

    Als Luther gewahr wurde, dass sich die Juden keineswegs zum Christentum bekehren lassen wollten, verlor sich der selbstkritische Zug seine Theologie. Mitte der dreißiger Jahre setzte eine verstärkte Polemik gegen die Juden ein. Von der Coburg aus trat er 1530 in einem Gutachten noch relativ freundlich für ihre begrenzte Duldung ein, äußerte sich in Predigten zwischen 1528 bis 1532 freilich schon explizit antijüdisch. Bezeichnend für die Wende in Luthers Verhältnis zu den Juden ist etwa der Satz: »Wenn sie den Namen Jesus hören, können sie es nicht lassen, dass sie speien.« Die Juden, so Luther, erwarteten einen Messias mit Säcken voll Korn und Beuteln voll Geld. Luther glaubte auch dem Gerücht, die Papisten hätten einen jüdischen Arzt aus Polen gedungen, ihn zu ermorden, worauf in Wittenberg zwei Personen verhaftet wurden. Von hier wie aus vielen anderen deutschen Städten waren die Juden bereits im 15. Jahrhundert vertrieben worden, so dass es eine Judengasse dort nur noch dem Namen nach gab. 1536 wurde ihnen schließlich der Aufenthalt im gesamten Kurfürstentum verboten. Die Bitte von Josel von Rosheim (1476–1554), dem obersten Rabbi des Heiligen Römischen Reiches, sich für die Erlaubnis zur Durchreise von Juden durch Sachsen einzusetzen, lehnte Luther ab. Mit einem öffentlichen Brief 1538 verfolgte er den Zweck, die Juden vor der Unsinnigkeit ihrer Messiashoffnung zu überzeugen. Das Mosegesetz, so argumentierte er, sei seit Christus außer Kraft. Die Juden müssten sich von ihren Rabbinern abwenden, sie seien lediglich Verführer. Dass die Juden schon seit 1.500 Jahren im Elend lebten, zeuge von ihrer einzigartigen Schuld und ihrer Verstockung gegenüber Christus. Sie müssten endlich lernen, dass Gottes neuer Bund den alten völlig ersetzt und nicht nur ergänzt habe.

    Seine antijüdische Polemik erreichte 1543 in der Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« einen schaurigen Höhepunkt. Der faschistische Theologe Wolf Meyer-Erlach urteilte 1937 in seinem Buch »Juden, Mönche und Luther«, der Reformator habe hier »als Fackelträger einer neuen Weltepoche Forderungen aufgestellt, neben denen die Nürnberger Gesetze zur Regelung der Judenfrage in Deutschland wissenschaftlich kühl, sauber und sachlich erscheinen«.

    Luthers Schrift richtete sich nun auch nicht mehr an die Juden, weil er an ihre Bekehrung in ihrer Gesamtheit nicht mehr glaubte. Sie sollte vielmehr die Christen vor der jüdischen Irrlehre warnen. Was den heutigen Leser besonders erregt, sind Luthers Forderungen an die Obrigkeit. Er verlangte die Vernichtung aller Synagogen »mit Feuer, Schwefel und Pech«. Was nicht brennen wolle, solle man mit Erde zuschütten, »dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich«. Zweitens solle man alle Privathäuser der Juden zerstören. Drittens solle man ihnen die Bibel bis zum letzten Blatt und alle liturgischen Bücher und Lehrschriften nehmen. Viertens sei bei Todesstrafe jeder öffentliche Gottesdienst und jede Lehrveranstaltung der Rabbiner zu verbieten. Fünftens sollten sie nicht einmal Gottes Namen mehr aussprechen dürfen. »Der Juden Maul soll nicht wert gehalten werden bei uns Christen, Gott vor unseren Ohren zu nennen, sondern wer es von den Juden hört, soll es der Obrigkeit anzeigen oder mit Saudreck auf ihn werfen«, denn sie seien »mit allen Teufeln besessen«. Sechstens solle man den Juden »das Geleit und die Straßen ganz und gar aufheben«, sie also nicht mehr als Händler wirken lassen, ja ihnen verbieten, sich frei auf der Straße zu bewegen. Siebtens solle man ihnen den Wucher verbieten und ihnen Geld und Wertsachen bis zum letzten nehmen. Achtens schließlich sollte Zwangsarbeit für alle jungen Juden beiderlei Geschlechts eingeführt werden.

    Tatsächlich wurden in der Folgezeit in mehreren evangelischen Territorien ganze jüdische Gemeinden vertrieben. Luther erwog auch die Deportation aller Juden nach Palästina. In einer weiteren Schrift aus demselben Jahr wurden kritiklos die antijüdischen Anschuldigungen kolportiert, dass die Juden Wasser vergiften und Kinder stehlen würden. Luther pries die Staaten, die die Juden verjagt hatten. Noch in seiner letzten Predigt vom 15. Februar 1546 in Eisleben forderte er die weltlichen Herren auf, bekehrungsunwillige Juden aus ihrem Machtbereich zu vertreiben.
    Kritik des Frühkapitalismus

    Bezeichnenderweise erwähnte Luther in seinen frühen Schriften über den Wucher die Juden mit keinem Wort, während er in der Spätzeit seinen Kampf gegen das zinstragende Kapital mit antijüdischen Argumenten versah. Schon 1519 veröffentlichte Luther einen »Kleinen Sermon von dem Wucher«, wobei schon im Titel deutlich wird, was ihn angesichts des frühen Kapitalismus zum Protest veranlasste. Den genannten Text erweiterte er 1520 zu einem »Großen Sermon« und ließ ihn vier Jahre später als zweiten Teil seiner Schrift »Von Kaufhandlung und Wucher« aufs neue drucken. Hier prangerte er das Zinsnehmen heftig an und bezeichnete es als Diebstahl und Raub. Er nannte es sogar ein gerechtes Gericht Gottes über die Kaufleute, dass sie gelegentlich von Raubrittern ausgeplündert werden, weil hier ein Räuber den anderen übervorteile. Die katholische Kirche hatte zwar ein strenges Zinsverbot erlassen, im Spätmittelalter aber war es längst aufgelockert.

    Der marxistische Wissenschaftler Günter Fabiunke hat in seinem Buch »Martin Luther als Nationalökonom« (Berlin 1963) darauf hingewiesen, dieser habe in prinzipiellem Widerspruch zum Monetarismus als der Keimform bürgerlichen ökonomischen Denkens gestanden. Freilich meint Fabiunke, Handels- und Wucherkapital als erste Äußerungen frühkapitalistischer Wirtschaftsform hätten eine progressive Funktion gehabt, da sie die feudalistischen Produktionsverhältnisse durchbrachen.

    Es ist zu berücksichtigen, dass diese »uralten Formen des Kapitals«, wie Karl Marx sagt, fest den herrschenden Feudalkräften verbunden blieben. Die zukunftsbestimmende Schicht des Bürgertums war nicht dem bald wieder aus dem ökonomischen Leben verschwindenden Finanz-, sondern dem gewerblichen Unternehmerkapitalismus zuzurechnen. Fabiunke macht selbst darauf aufmerksam, dass es das kapitalistische Profitdenken war, das Luther schon in seiner anfänglichen Ausprägung befremdete. Letztlich kämpfte er bereits im Namen des christlichen Ethos gegen dessen enthumanisierende Auswirkungen.

    Luther lebte in einer bewegten Übergangszeit, so dass sich feudale und bürgerliche Denkschemata in seinem Innern mischten. Er war dabei nicht gegen das Geld als solches. Er trat auch nicht gegen den Handel oder den Kaufmannsberuf an sich auf. Aber er verwahrte sich dagegen, dass sich Kaufleute über ihren Arbeitsaufwand und ihre Selbstkosten hinaus Mehrwert aneigneten. Sein besonderer Zorn richtete sich gegen die großen Monopolgesellschaften wie die Fugger, in denen Handels- und Wucherkapital bereits vereinigt waren und die die Preise künstlich in die Höhe trieben. Das verstieß fundamental gegen die alte Ehrbarkeit und gegen das Ethos der Bergpredigt.

    Nach Luther sollte man auch im Wirtschaftsleben das Wohl des Nächsten nicht außer acht lassen. Man müsse sogar bereit sein, einem Bedürftigen kostenlos Geld zu leihen, wenn man es entbehren könne. Überhaupt dürfe das Geld nicht zum Selbstzweck werden. Der Tauschwert einer Ware müsse ihrem Gebrauchswert untergeordnet bleiben. Waren seien zum Verbrauch bestimmt statt zur Erzeugung eines Mehrwerts. Die einzelnen Stände dürften zwar nach ihren überkommenen Gepflogenheiten konsumieren, doch sollten sich die Ansprüche in Grenzen halten. Es gebe Formen des Aufwands und des zur Schau gestellten Luxus, die schlicht unsittlich seien. Auch gehe zwecks des Imports von Luxusartikeln zuviel Geld außer Landes. Deshalb trat Luther ebenfalls gegen die Frankfurter Messe auf, die er als ein »großes Silber- und Goldloch« bezeichnete. Die Regierungen wurden aufgefordert, regulierend einzugreifen, die »Monopolia« aufzulösen und Wucherzinsen zu verbieten.
    Agitation gegen den Wucher

    Die beträchtliche Warenverteuerung, die das Fürstentum Sachsen in den 1530er Jahren erlebte, war großenteils dadurch bedingt, dass der Erzbergbau viel Geld in die Hände der Wohlhabenden gebracht hatte. Eine Missernte 1538 verschärfte das Problem und brachte akute Not, zumal zahlreiche Adlige und Bauern ihr Getreide bewusst zurückhielten, um die Preise weiter in die Höhe zu treiben. Luther bezog als Pfarrer ein festes Gehalt, während Warenproduzenten die Waren laufend verteuern konnten. 1541 forderte er eine generelle Gehaltserhöhung für Pfarrer. Schon im April 1539 verlangte er in Eingaben an den Wittenberger Bürgermeister Lucas Cranach (1472–1553), den Rat und den Kurfürsten Maßnahmen gegen die Wucherer. Noch im selben Jahr begann er mit der Ausarbeitung einer neuen Schrift, die unter dem Titel »An die Pfarrherren, wider den Wucher zu predigen« zu Neujahr 1540 erschien und noch im selben Jahr dreimal nachgedruckt wurde. Luther wiederholte hier seine prinzipielle Abneigung gegen die Erhebung von Zinsen, zumal er erfahren hatte, dass in Leipzig 30 Prozent und in Naumburg sogar 40 Prozent Zinsen verlangt wurden. Da die Obrigkeit in diesem Kampf versage, sollten die Pfarrer gegen den Wucher auftreten und Kirchenzuchtmaßnahmen in die Wege leiten. Man solle den Wucherern keine Sakramente mehr reichen, sie nicht zu Hochzeiten zulassen und ihnen das christliche Begräbnis verweigern. Drastisch erklärte Luther, wer wie Hund oder Sau gelebt habe, solle auch wie diese verscharrt werden. Auch die Lehrer sollten in ihren Schülern Abscheu gegen das Zinsnehmen erwecken.

    Dabei ging Luther allerdings nicht soweit, zur Verweigerung bestehender Zahlungsaufforderungen aufzurufen. Niemand dürfe sich auf eigene Faust widersetzen, einmal zugefügtes Unrecht müsse erduldet werden. So verblieb Luther, den Marx als den »ältesten deutschen Nationalökonomen« bezeichnet hatte, auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht seiner Theologie verhaftet.