• Allmählicher Abschied | Telepolis
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    09. November 2017
    Nachgetragene Gedanken zum deutschen Nine-Eleven


    Höheres Zuschauerpodest mit Mauerblick. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

    Es gibt horrende Kalamitäten in der Geschichte aller Völker, die zunächst im Gedächtnis unauslöschlich erscheinen. Aber irgendwann verflüchtigt sich trotzdem die Erinnerung daran.

    In Amerika, wo die Tage und Monate im Kalender umgekehrt geschrieben werden, erinnert man sich bis heute an die rätselhaften und immer noch nicht wirklich geklärten Ereignisse jenes 11. Septembers 2001, des Nine-Eleven, die zum amerikanischen Kriegseintritt im Irak und in Afghanistan führten.

    Einzig der Historiker Noam Chomsky nannte es das „Zweite Nine-Eleven“, in Erinnerung an den von Amerika gesteuerten und längst vergessenen Staatsstreich gegen die chilenische Regierung am 11. September 1973.

    Dass es auch in Deutschland ein Nine-Eleven gab, hier allerdings bei umgekehrter Zahlenfolge im Kalender, ist mittlerweile kaum noch jemandem eine Schweigeminute wert. Der „neunte Elfte“, heute, markiert einen Tag im November 1989, den Fall der Mauer.


    Kinderspiel an der Mauer, West. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

    Er ist kaum mehr jemandem ein paar fromme Sprüche wert, und welche Plattitüden könnte man sich dazu schon noch einfallen lassen? Da hatte man sich Jahre lang die „Wiedervereinigung“ zwischen West und Ost gewünscht und kaum war die „Vereinigung“ real da, real passiert — vergessen wir mal das Wörtchen „wieder“ bei diesem Zusammenschluss -, war man die Sache auch schon wieder leid und hätte gern die Mauer wieder hochgezogen.

    Im Westen verfluchte man die Ossis, so wie heute die Flüchtlinge aus der muslimischen Barbarei. Deutschland West wäre gerne wieder hermetisch selber eingeigelt geblieben.

    Ich selber hatte als Berliner angefangen, gebürtig in Zehlendorf, ich sprach Berlinerisch wegen meines Berliner Kinderfrolleins, Frau Brüller, und weil ich ein halbes Jahr lang den Kindergarten irgendwo am Kleinen Wannsee besucht hatte.


    Mauer: Freie Liebe, freie Kunst. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

    Erst mit 37 kam ich nach Berlin zurück, zu Besuch, mit Frau und Kind, aus dem Südpazifik nach Westberlin, einer Insel, umringt von einer Mauer. Ich ignorierte diese Mauer. Meine Freunde und Bekannten sagten, sie sei extra für mich errichtet worden, damit ich nicht aus Versehen bis nach Moskau weiterlatschte.

    Meine neuseeländische Frau fotografierte das Phänomen Mauer unablässig. Es war ihr unverständlich. Sie hatte Jahre lang Knastbesuche abgestattet, als eine humanitäre Geste. Dies hier war letztlich nichts anderes als jede andere Knastmauer, meinte sie. Ja, sagte ich. Etwas, das man versucht, zu übersehen, auch wenn, in diesem Fall, die Ausgeschlossenen die Eingeschlossenen waren, und die Eingeschlossenen zugleich die Ausgeschlossenen.

    Ob es je einen deutschen Film während oder nach der Mauer gegeben hat, in dem das Thema „Mauer“ angesprochen wurde? Stillschweigend miterwähnt wurde „die Zone“ nur in Andrei Tarkowskis Film „Stalker“, nicht zuletzt dadurch, dass der Film in der DDR synchronisiert wurde, in der DDR einen Filmpreis erhielt und in der DDR nicht gezeigt werden durfte.

    Ähnlich erging es Michail Roms Film „Der gewöhnliche Faschismus“, in der DDR synchronisiert, preisgekrönt und verboten, in der BRD in den Kinos gezeigt unter Fortlassung der letzten beiden Kapitel.


    Blick über die Mauer: Zuschauerpodest, voll. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

    Den einzigen neueren Film, den ich kenne, der Berlin und die Mauer behandelt, sah ich vor einigen Monaten, am 6. August 2017, was zufällig ein Hiroshima-Gedenktag gewesen wäre, wenn ich dieses Faktum nicht komplett übersehen hätte. Der Film heißt „Atomic Blonde“, ein Spionagefilm, würdiger Nachfolger des „Spions, der aus der Kälte kam“ von ca. 1963.

    In „Atomic Blonde“ gibt es die Szene, wo zwei CIA-Kollegen auf einer hohen Aussichtsplattform - sehr viel höher, als diese real jemals existierten - auf das Teilstück einer Maueranlage niederblicken und der eine, gespielt von John Goodman, teilt der Titelblondine, gespielt von Charlize Theron, mit:

    That’s quite a view.70 miles of barbed wire, 310 guard towers, 65 anti-vehicle trenches, 40,000 Soviet-trained, heavily armed frontier troops. All that, and 5,000 GDR citizens still had the brass balls to escape.
    Ausschnitt aus „Atomic Blonde“

    Das ist ganz offensichtlich im Jahr 2017 die Message an Herrn Trump, der gleich ganz Mexiko von den USA abschneiden möchte. Es war schon damals eine blöde Idee, 1961, als die Mauer hochgezogen wurde, und so war es immer noch 1985, als ich an Bord einer S-Bahn oder U-Bahn von Westberlin unter einem luftdicht abgeschlossenen Teilstück von Ostberlin wieder nach Westberlin fuhr.


    Pseudo Kunst, pseudogerahmt. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

    Plötzlich war die Atemluft nicht mehr abrufbar. Ostberlin, so signalisierte die Lunge, war wirklich „dicht gemacht“ worden. Blöd bleibt die Idee auch 2017, ob man nun eine Mauer zwischen Mexiko und den USA oder sonst einem Land und dem anderen errichtet.

    War wirklich keine andere Alternative gegeben?

    Bleibt die Frage: War den Herren Chrustschow und Ulbricht damals, 1961, wirklich keine andere Alternative gegeben als der Mauerbau? Hätten sie nicht eine Grenze einrichten können, die durchlässig gewesen wäre - zum Beispiel gegen Hinterlassung einer Kaution von circa 200 Mark? Einzahlbar beim Wechsel von Ostberlin nach Westberlin, und nach Einreichen der Quittung wieder erhältlich bei der Rückkehr. Das Ganze ohne großen Strafaufwand, ohne die Bissigkeit einer Gefängnisverwaltung.

    Daneben die ostdeutschen PX-Läden, wo man gegen West-Valuta Bananen, Kaffee, Zigaretten, Jeans und Beat-Musik-Platten hätte erstehen können. Der Sammlerwert einer sowjetischen Rolling-Stones-Platte auf dem Westberliner Flohmarkt hätte sicher rasch astronomische Höhen erreicht, und auch die sozialistische Kifferszene hätte bald verstanden, dass die Mauer ihre Geschäfte nur schützte und beförderte, statt sie zu behindern.


    Schupos mit Schusswaffen. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

    Man hätte eine innerdeutsche Form von Fraternité, Égalité und Liberté erlebt, bei der Kennedys berühmte Maueransprache von 1963 nur noch als ein ausgesprochener Lacher gewirkt hätte.

    Nein, die Mauer war wirklich blöde und kontraproduktiv, sie entsprang einer humorlosen Gefängniswärtermentalität, die im Grunde in der eingeschlossenen Bevölkerung eine Knastmentalität züchtete. Hätten DDR-Bewohner beliebig oft in die BRD reisen dürfen, hätten sie rasch gelernt, mit dem Zwei-Staaten-System klar zu kommen.

    Umgekehrt hätte es das berühmte Berufsverbot für linke Westler nicht gegeben, weil man sich einen Brain-Drain Richtung Ost im Westen gar nicht leisten hätte können. Und wie man heute oft spaßeshalber behauptet, Amerikas Arme hätten sich gefreut, wenn sie in die DDR hätten ziehen können, vernünftige Mieten, Vollbeschäftigung, Kita, ärztliche Versorgung, etc. pp. Die Senioren aus dem Osten wären immer noch in den Westen gedackelt, um Bananen und Kaffee zu kaufen, und abends brav zurückgeströmt, um ihre Nachbarschaft zu beglücken. Eine soziale und sozialistische Marktwirtschaft.

    Heute können wir folgendes sagen: Die Mauer ging am 13 August 1961 hoch und am 9. November 1989 nieder. Die Mauer bestand insgesamt 10.315 Tage lang. Seit dem 9 November 1989 bis heute, zum 9. November 2017, sind 10.227 Tage vergangen. Es wird also nochmal rund drei Monate dauern, bis die beiden Hälften dieser Gleichung sich austariert haben werden, und wir eben so lange nach dem Fall der Mauer leben werden wie vor dem Fall der Mauer.


    "Was bleibt übrig, wenn der Mensch verreckt? Das Insekt…das Insekt." Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

    Die Mauer wird als Horror-Monster der deutschen Geschichte wie ein Kadaver, den eine Schlange verschluckt und schließlich wieder ausgeschieden hat, in die Vergangenheit zurücksinken. Ihre Funktion wird einzig darin bestanden haben, Millionen von Menschen ein Leid anzutun, ihnen Freude und Lebenslust zu nehmen.

    Das Einzige, was vielleicht den Bücherfreund beglücken mag, sind die ausgezeichneten DDR-Editionen, die, auf Klopapier gedruckt, bereits zu verrotten beginnen, und von keinem West-Verlag jemals nachgedruckt werden können, weil zu teuer.

    Vielleicht, wenn Trumps Mexiko-Projekt einmal klappt, wird es dereinst in Mexiko einen Knast-Verlag geben, der die DDR-Bücher als schöne amerikanische Leinenbände nachdruckt. Dann bäte ich als erstes um die „Deutsche Grammatik“ von Gerhard Helbig und Joachim Busch. Untertitel: „Ein Handbuch für den Ausländerunterricht.“ (Tom Appleton)

    #Allemagne #Berlin #histoire #mur