Übersetzer : Von Hartz IV zu 100.000 Euro im Jahr

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    Er brach sein Studium ab, bekam Depressionen. Dann fing er an zu arbeiten. Ein selbstständiger Übersetzer sagt: „Ich wäre blöd, mich auf eine Festanstellung einzulassen.“

    Name: Anonym
    Alter: 30
    Position: freiberuflicher Übersetzer
    Branche: Sprachdienstleistung für Medizintechnik und Pharmaindustrie
    Unternehmensgröße: Er arbeitet allein Zuhause.

    Vor fünf Jahren erhielt ich zum ersten Mal in meinem Leben ein monatliches Einkommen. Das war Hartz IV, also etwas weniger als 400 Euro. Heute verdiene ich die Summe an knapp anderthalb Tagen. In den vergangenen Monaten kam ich konstant auf fast 9.000 Euro. Wenn das so weiter geht, und davon gehe ich aus, werde ich in diesem Jahr insgesamt mehr als 100.000 Euro verdienen. Netto bleiben nach Abzug von Einkommensteuer und Krankenversicherung etwa 60.000 Euro.

    Ich arbeite seit zweieinhalb Jahren als freiberuflicher Übersetzer, hauptsächlich im Bereich Medizintechnik und Pharma. Die Agenturen, für die ich arbeite, bezahlen meist acht Cent pro Wort. Normalerweise schaffen Übersetzer 2.000 Wörter am Tag. Ich schaffe 4.000, mindestens.

    NORMALERWEISE SCHAFFEN ÜBERSETZER 2.000 WÖRTER AM TAG. ICH SCHAFFE 4.000, MINDESTENS.

    Das Prinzip ist einfach: Ein Unternehmen beauftragt einen Sprachdienstleister, eine bestimmte Menge Text vom Englischen ins Deutsche zu übersetzen. Das können Produktbeschreibungen, Handbücher oder interne Richtlinien sein. Der Sprachdienstleister wiederum zerteilt die Menge und gibt einzelne Abschnitte an Freiberufler wie mich weiter. Der übersetzte Text wird von der Agentur kontrolliert und danach ans Unternehmen zurückgegeben.

    Eigentlich war es nie mein Plan, Übersetzer zu werden. Doch nach einem Studienabbruch fragte ich mich: Was kann ich eigentlich? Die Antwort: lesen, schreiben, Englisch. Also ging ich auf eine Übersetzerschule. Mit dem Abschluss eines staatlich geprüften Übersetzers fing ich ein darauf aufbauendes Masterstudium an. Auch das brach ich ab. Immer stärker werdende Depressionen verschlimmerten meine Lebenskrise. Es folgten mehrere Wochen Psychiatrie und mehrere Jahre Hartz IV. Irgendwann raffte ich mich auf und schrieb unzählige Sprachdienstleistungsagenturen an.

    Nur wenige antworteten. Ich erhielt einen Text, um ihn probeweise zu übersetzen. Dann kamen die ersten richtigen Aufträge. Mein Ziel war, nicht mehr arbeitslos zu sein, aus meinem Elternhaus auszuziehen und ein halbwegs selbstbestimmtes Leben zu führen.

    Die Aufträge wurden immer mehr. Jedes Wort, das ich zusätzlich schaffte, zahlte sich im Verdienst aus. Diese sofortige Belohnung erzeugte eine direkte und intensive Beziehung zum Geld. Ich merkte, dass ich etwas gut konnte und dass das, was ich tat, etwas wert war. Nach Jahren der Arbeitslosigkeit war das ein enorm befriedigendes Gefühl. Ab Herbst 2014 wurden 60-Stunden-Wochen normal. Einmal pro Woche arbeitete ich die ganze Nacht durch.

    Das mag nach einem arbeitssüchtigen Workaholic klingen, doch so fühlte es sich nicht an. Ich machte meine Arbeit ja freiwillig und gerne. Die Themen der Texte waren interessant und das gute Feedback spornte mich weiter an. Das viele Arbeiten belastete mich nicht. Vielmehr war es wie eine Befreiung aus dem Negativkreislauf von Hartz IV und Untätigkeit. Heute spüre ich von den Depressionen nichts mehr.

    MEINE KUNDEN SIND AUCH VON MIR ABHÄNGIG

    Von meinen Agenturen habe ich noch nie einen höheren Lohn pro Wort gefordert. Es ist eher andersherum: In regelmäßigen Abständen versuchen sie, den Wortpreis herabzusetzen. Bisher habe ich die Versuche aber erfolgreich abgewehrt. Die Dienstleister sind auch von mir abhängig. Erstens mache ich gute Arbeit. Und zweitens hätten sie ein großes Problem, wenn sie mir plötzlich keine Aufträge mehr gäben. Sie zahlen nämlich immer erst nach monatelanger Verzögerung. Ich könnte zum Anwalt gehen und mein ganzes Geld sofort fordern. Das könnte sich eine Agentur gar nicht leisten.

    Die einzige Gefahr ist, dass die Sprachdienstleister, die mir Aufträge geben, insolvent gehen. Doch wenn das passiert, suche ich mir einfach neue. Das Risiko, kurzzeitig ohne Gehalt dazustehen, tausche ich als Freiberufler gegen Flexibilität und Unabhängigkeit. Dabei erhalte ich eine monatliche Entlohnung in einer Höhe, die ich mir nie hätte vorstellen können. Heute denke ich, ich wäre blöd, ließe ich mich auf eine Festanstellung ein – da würde ich nie so viel verdienen.

    Mittlerweile achte ich darauf, einmal pro Woche einen Tag frei zu nehmen. Urlaub gönne ich mir zuweilen auch. Ich besitze Kontrolle über meinen Job. Es kommen so viele Aufträge, dass ich mir sogar Moral leisten kann. Aufträge von Rüstungsunternehmen lehne ich zum Beispiel grundsätzlich ab.

    #Arbeit #freelance