Gastbeitrag : Das Lebensende wird zur Planungsaufgabe - Wissen

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    nouveau tag : #sénicide

    Einfache Gesellschaften kennen nicht nur den Respekt vor den Alten, sondern durchaus auch die Altentötung. Die erwächst meist aus einer Notwendigkeit, die mit dem Überleben der Gruppe zu tun hat, da – bei Nomaden zumal – kranke, schwache, alte Gruppenmitglieder nicht mit auf die Reise können. Deswegen werden sie dann mit einem Topf Honig im Busch zurückgelassen oder sie werden auf dem Berge ausgesetzt oder mit dem Eisbärknochen erwürgt. Die Tradition, die einmal mit (vielleicht bisweilen fragwürdigen) Notwendigkeiten begründet war, kehrt im Nationalsozialismus wieder, der neben den bekannten Gruppen auch Hochaltrige ermorden ließ, um die Gesamtheit des Volkes von Schwachen zu ‚entlasten’. Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, dass eine Gesellschaft, die so auf Konkurrenz, Leistungsfähigkeit, Flexibilität und Geld hin orientiert ist wie die unsere, Pflegebedürftige, speziell Demente, eigentlich als belastende Außenseiter ansehen muss. Objektiv und subjektiv sind sie gefährdet – welche Barrieren sorgen eigentlich bisher dafür, dass sie von der Gesellschaft nicht verworfen werden? (Die Selbstverwerfung findet ja oft genug statt.) Und werden diese Barrieren auch unter den Bedingungen einer demographisch alternden Bevölkerung und unter dem Druck ökonomischer Krisen halten und die Betroffenen davor schützen, lebensverkürzenden Maßnahmen ausgesetzt zu sein? (Die Rationierung von Gesundheitsleistungen findet ja schon statt).

    Säkularisierung und Individualisierung des modernen Menschen haben indessen noch eine weitere Konsequenz: Verlorengegangen ist die Einbindung des Einzelnen in ein familiäres Woher und Wohin, in einen sozialen und kulturellen Zeitzusammenhang. Wir leben in einer ahnenlosen Zeit, in der die Erinnerung an die Vorangegangenen und an die, die nach uns kommen, kaum eine Rolle spielt. Die Asche wird anonym verstreut. Man versammelt sich nicht zu den Ahnen, das eigene Schicksal hat keine Transzendenz und deshalb spielt die Entscheidung für die Beendigung des Lebens, für den Suizid, auch nur für das Individuum selbst eine Rolle. Sie ist nicht vor Gott, den Göttern, den Ahnen oder anderen Instanzen zu verantworten.

    Der Medizin kommt in diesem gesellschaftlichen Kontext eine Sonderrolle zu. Sie hat längst Kultstatus. Sie übernimmt heute neben der lebenslangen Begleitung eine besondere Rolle am Anfang und am Ende des Lebens, der Mensch mit dem weißen Kittel im Sprechzimmer löst gewissermaßen den Mann mit dem weißen Bart im Himmel ab. Die quasi priesterlichen Funktionen der Mediziner legen es nun nahe, dass Anfang und Ende des Lebens endgültig in ihre Hände geraten. Die wachsende Bedeutung der Reproduktionsmedizin, die Zunahme von Kaiserschnittgeburten, die Exzesse der Neonatologie sind Signale, die immer deutlicher ihre Entsprechung am Lebensende finden. Wer den Anfang macht, macht auch das Ende. Und die Einwände vieler Mediziner, die sich gegen den assistierten Suizid aussprechen, wollen das Lebensende nicht etwa für eine bürgerschaftliche und zivilgesellschaftliche Umsorgung öffnen, sondern das Lebensende in eine optimierte palliativmedizinische Abteilung verlegen und damit für sich reklamieren. (Dabei wird in beiden Bereichen die Durchsetzung neuer medizinischer Technologien und Eingriffe fast immer mit dem Verweis auf Extremfälle legitimiert. Der Extremfall ist die Speerspitze der Durchsetzung neuer Standesinteressen.)

    Dass das Lebensende sich im Allgemeinen eher unspektakulär, gewissermaßen von selbst ereignet, wird schon nachgerade zum ärgerlichen Tatbestand, gegen mit wachsender Vehemenz das palliative Betreuungsprojekt in Stellung gebracht wird. „Priester und letzte Ölung waren noch ein Überbleibsel der Gemeinschaftlichkeit des Sprechens über den Tod. Heute haben wir ein black-out. Jedenfalls wird diese Funktion – auch wenn der Priester nur ein Leichenfledderer war – heute weitgehend durch die Medizin erfüllt, die jeden am Sprechen hindert, indem sie ihn mit Pflege und Betreuung überhäuft. Ein infantiler Tod, der nicht mehr spricht, ein unartikulierter, überwachter Tod. Das Serum und die Laboratorien, die ganze Heilung ist nur ein Vorwand für das Sprechverbot.“

    Das säkularisierte Individuum, das sich nicht mehr als Geschöpf oder als ein Element in einer sozialen Konstellation sieht, begreift sich zunehmend als System. Sein Lebensende betrachtend, muss es sich dementsprechend als versagendes System diagnostizieren. „Man kann den sinnlich erfahrbaren Körper der Vergangenheit auslöschen, indem man sich als selbstregulierendes und selbstkonstruierendes System versteht, das einer Behandlung bedarf.“ (Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin, 4. Auflage München 1995, S.207). Dies ist fast zwangsläufig der Augenblick, in dem die Idee unvermeidlich wird, dass im Leben des Systems Mensch eine Zeit kommen kann, in der es naheliegt, das ohnehin versagende System abzuschalten. Recht betrachtet ist der assistierte Suizid die logische Konsequenz gesellschaftlicher Entwicklungen. Dass und wie da von „Assistenz“ die Rede ist, könnte misstrauisch machen. Der Assistent, übersetzt: der „Herantretende“ will ja nie Assistent bleiben, sondern zielt auf die Hauptrolle, auf Übernahme. Und so darf man den assistierten Suizid wohl als einen Schritt zur medizinisch organisierten, überwachten, kontrollierten, projektierten Tötung ansehen. „Die Medikalisierung der Gesellschaft hat die Epoche des natürlichen Todes ihrem Ende zugeführt. Der westliche Mensch hat das Recht verloren, beim letzten Akt selbst Regie zu führen. ... Die technische Tod hat den Sieg über das Sterben davongetragen. Der mechanisierte Tod hat alle anderen Todesarten besiegt und vernichtet“ schreibt Ivan Illich (Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin, 4. Auflage München 1995, S. 149). Der assistierte Suizid – der noch eine überraschend „krasse“ Bezeichnung trägt - öffnet den Weg in einen Wellness-Freitod, bei dem der Betroffene das tut, was er schon immer gelernt hat zu tun: Sich als Konsument von Gesundheitsdienstleistungen zu verstehen. Er ist tot, weil er nicht mehr konsumiert und er zelebriert den Übergang ins Nichts durch einen letzten Konsumakt. Beichte und letzte Ölung öffneten einmal den Blick, der Suizid-Mix schließt ihn.

    Diejenigen, die widersprechen, sind fast zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Das radikal individualisierte, von religiösen Barrieren sich befreit denkende Individuum, klopft sich gewissermaßen begeistert auf die Schultern. Es wird sich das technische Instrument des assistierten Suizids, auf den es meint, einen Anspruch zu haben, nicht mehr aus der Hand nehmen lassen. Es kommt zudem dem Dominanzanspruch eines Gesundheitswesens entgegen, das sich längst zu einer monolithischen Weltreligion entwickelt hat.

    Zwei Fraktionen leisten noch Widerstand: 1. Religiöse Institutionen, speziell die katholische Kirche, die auf den Schöpfungszusammenhang verweist. (Immanuel Kant hat den Versuch gemacht, der „Selbstentleibung“ philosophisch zu widersprechen und die alte Argumentation gegen den Suizid so aufrechtzuerhalten - und zwar aus der Autonomie des Individuums heraus. „Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zu vernichten, ist ebenso viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch der Zweck an sich selbst ist.“

    2. Die Hospiz- und Palliativbewegung, die – vermutlich mittelfristig illusorisch – darauf verweist, dass eine gute hospizliche und palliative Versorgung den Wunsch nach Sterbehilfe verschwinden lässt. Demgegenüber stützen vor allem neoliberale Kräfte , die – ob grün, rot oder gelb, vielleicht sogar schwarz – in der individualisierten Zivilisation verankert sind, das „Recht“ auf den selbstbestimmten Tod und damit auf den assistierten Suizid. Den Weg in den selbstgewählten Tod wird man niemandem verbieten können oder wollen. Aber wir arbeiten gerade an der Verstaatlichung und Verdienstleistung des Suizids.

    Josef Hörl, Reingard Spannring Gewalt in der Familie
    https://www.bmfj.gv.at/dam/jcr:79e28844-d17d-4812-8b2d-f2418bb90c0e/gewaltbericht4.pdf

    Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen

    Der Umgang vorindustrieller Gemeinschaften mit dem Alter war jedenfalls durch zwei Elemente geprägt: einerseits durch eine starke Abhängigkeit von der natürlichen Umgebung – was die stets vorhandene Gefahr einer Hungersnot impliziert – andererseits durch eine stabile soziale Ordnung, die jedem Mitglied einen festen Platz und Aufgabenbereich zuwies.

    Die objektiv vorzufindende Gewalt gegen die Alten, insbesondere die historische Praxis der Altentötung, der Senizid, widersprach nicht dieser sozialen Ordnung, sondern hielt sie vielmehr in bestimmten Situationen aufrecht. Das wichtigste Ergebnis der klassischen Studien von Koty und Simmons (Elwert 1992) ist, dass die Tötung immer nur jene alten Personen traf, die nach dem kulturimmanenten Verständnis als siech bezeichnet wurden und beispielsweise nicht mehr in der Lage waren, lange Märsche zur Nahrungsbeschaffung mitzumachen. Die Altentötung, z.B. bei den Tschukschen in Sibirien durch das überfallsartige Erwürgen mit einem Seehundknochen (de Beauvoir 1977), ging keineswegs mit einem Mangel an Respekt einher. Im Gegenteil, die Tötung war stets von einem feierlichen Ritus umgeben, es fand ein Fest unter zustimmender Beteiligung des Todesopfers statt.

    Somit war die Altentötung Bestandteil und Ausdruck einer bestimmten moralischen Ordnung mit religiöser Verankerung. Simmons (1945) berichtet, dass unter 39 unter diesem Gesichtspunkt untersuchten Stämmen 18 die Altenvernachlässigung zum Verhaltensrepertoire zählten, doch blieb die Altentötung sicher auf Extremsituationen beschränkt.

    Eine ganz andere Form der kollektiven Altentötung stellten die Hexenverfolgungen dar, die ja sehr häufig in der Ermordung alter Menschen, namentlich Frauen, mündeten (Soldan/Heppe 1997). Die Hexereivorstellungen unterstellten den heimlichen individuellen Kauf eines Schadenszaubers und eigneten sich gut, marginalisierte Personen als Sündenböcke zur Erklärung von Unglück auszusondern und zu verfolgen. Allenfalls vorhandene Vorstellungen von der magischen Macht der Alten boten offensichtlich keine Gewähr für einen Schutz vor Verfolgung.

    Aus interkulturell vergleichender Sicht können vier allgemeine Typen von Altersgliederungen und -definitionen von nicht-industriellen Gesellschaften unterschieden werden (Elwert 1992) und daraus ein jeweils spezifisches Statusund Machtpotenzial der Alten abgeleitet werden:

    – Physisch-funktionale Differenzierungen, die rein auf die physischen Fähigkeiten abstellen; wenn etwa in Jäger- und Sammlergesellschaften die Männer nicht mehr zu weiten Jagdzügen und die Frauen nicht mehr zur Versorgung von Kleinkindern im Stande sind, dann sind sie alt.

    – Alters- und Generationsklassensysteme, in denen jeder Mensch zu einer Gruppe gehört, die mit ihm im gleichen Verhältnis zur vorhergegangenen Generation steht. Gemeinsam rücken die Menschen in rituell bestimmten Zyklen in andere Alterskategorien auf, womit die kollektive Weitergabe des Status an die nächste Generationsklasse verbunden ist. Dieses System hat zur Folge, dass sich innerhalb einer Klasse Menschen stark unterschiedlichen Lebensalters befinden. Ein Sohn kann erst in die erste Altersklasse eintreten, wenn sein Vater die letzte Altersklasse verlassen hat, worunter der Sohn unter Umständen sehr leiden kann.

    – Differenzierungen nach Positionen im Reproduktionszyklus, wenn vor allem bei Frauen nicht das Alter, sondern der Ehestatus die dominante Ordnungskategorie im Lebenslauf darstellt.

    – Senioritätssysteme, in denen das Alter relativ im Verhältnis zu den Nachgeborenen definiert wird. In solchen Gesellschaften ist das Vorrücken im Alter üblicherweise mit Machtzuwachs verknüpft. In den Senioritätssystemen kommt die Vorstellung von „alt“ der modernen Vorstellung vom chronologischen Altern am nächsten.

    Die Auswertungen der historischen und ethnologischen Quellen (de Beauvoir 1977; Borscheid 1987; Elwert 1992; Mitterauer 1982; Rosenmayr 1990) führen übereinstimmend zu der Auffassung, dass im Verlaufe der Menschheitsgeschichte der Status und die Machtposition der Alten grundsätzlich immer dann relativ hoch waren, wenn bestimmte Bedingungen gegeben waren, darunter insbesondere:

    – Kontrolle des Privateigentums durch die Alten;
    – materielle Unabhängigkeit der Alten in der Lebensführung;
    – Monopol der Alten über strategisch wichtige Erfahrungs- und Wissensvorräte;
    – Traditionsorientierung der Gesellschaft;
    – Vorherrschen von Subsistenzwirtschaft bzw. primitiver Arbeitsteilung;
    – kleinräumig-stabile Organisation der Gesellschaft;
    – große Bedeutung von Verwandtschaft und religiöser Ahnenverehrung;
    – persönlicher Kontakt als Interaktionsgrundlage;
    – feste Zuschreibung bestimmter Rollen für bestimmte Altersgruppen.

    Viele dieser sozialen Konstellationen lagen offensichtlich in den frühen, schriftlosen Kulturen eher vor als in modernen Industriegesellschaften. Insbesondere war in jenen Kulturen die Lösung des Problems der Wissensüberlieferung ganz besonders bedeutsam, woraus eine privilegierte Stellung der wissenden und erfahrenen Alten gleichsam selbstverständlich als Notwendigkeit erfloss. Darüber hinaus waren alte Menschen immer dann relativ gut geschützt, wenn Ökonomien auf so niedriger Stufe organisiert waren, dass die produktive Kapazität der Alten ihre Kosten überstieg. Weiters führten vormoderne, traditionelle Verwandtschaftsund Großfamiliensysteme auf magisch-religiöser Grundlage gegenüber den Alten eher zu institutionalisierten, normativen Verpflichtungen, die nur schwer zu umgehen waren.

    Es ist allerdings hinzuzufügen, dass im Falle von Gebrechlichkeit und der damit verbundenen Unfähigkeit, einen Beitrag zum Überleben der Gemeinschaft leisten zu können, der Schutzmechanismus zu Gunsten der Alten immer schon rasch seine Wirksamkeit verlieren konnte.

    E.Ruschenbusch, PLUTARCHSS OLONBIOGRAPHIE
    http://www.uni-koeln.de/phil-fak/ifa/zpe/downloads/1994/100pdf/100351.pdf

    Auf der Insel Keos, und bestimmt nicht nur auf Keos, ließ man alle Sechzigjährigen den Giftbecher nehmen, um allen Jüngeren die Nahrung zu sichern. Auf den ersten Blick erscheint das ungaublich, doch vor dem Hintergrund von Ernteerträgen, Erbrecht und Überbevölkerung klingt das völlig plausibel. Zudem ist die Altentötung auch für Athen, für Sardinien und den germanischen Raum gut bezeugt.

    Maco Polo
    https://www.researchgate.net/profile/Heidi_Peter-Roecher/publication/265379686_Kannibalismus_in_der_prahistorischen_Forschung_Studien_zu_einer_paradigmatischen_Deutung_und_ihren_Grundlagen/links/58f24e97aca27289c216998f/Kannibalismus-in-der-praehistorischen-Forschung-Studien-zu-einer-parad

    In einem anderen Königreich sollen die Kranken getötet werden, wenn keine Aussicht mehr auf Gesundung besteht. „Dann schneiden sie den Leichnam in Stücke, richten ihn zum Mahle her und verzehren ihn im großen festlichen Kreis, wobei nicht einmal das Mark in den Knochen übrigbleibt. Würde nämlich noch ein Stückchen übrig bleiben, so würden Wür-mer daraus; diese würden aus Mangel an weiterer Nahrung sterben, und ihr Tod würde für die Seele des Verstor-benen entsetzliche Strafen zur Folge haben.“ Fangen sie einen Fremden, der kein Lösegeld zahlen kann, töten und fressen sie ihn auch. Ein früherer Reisender, Wilhelm Rubruk, berichtete von den Tibetanern ähnliches - sie sollen ehemals aus Pietät die Leichen ihrer Eltern verzehrt, zu seiner Zeit jedoch nur noch Schalen aus deren Schädeln angefertigt haben.

    Altentötung
    http://aha-live.de/altentoetung

    In verschiedenen Kulturkreisen und Gesellschaftsstrukturen der Naturvölker finden wir den Brauch der Altentötung, den Senizid. Er reicht vom Lebendbegraben, Verhungernlassen, Erwürgen oder Erschlagen bis hin zum rituellen Verspeisen. Auch das Aussetzen und der Altenselbstmord waren weit verbreitet. Bei diesen Völkern waren Rentner nicht vorgesehen.

    Während sich der Sage nach »lebensmüde« Hyperboreer nach einem üppigen letzten Mahl fröhlich und mit Kränzen geschmückt von der Klippe stürzten, sollen bei den am Roten Meer beheimateten Volk der Troglodyten Alte und Schwache mit einem Ochsenschwanz erwürgt worden sein.
    Für das iranische Reitervolk der Massageten war es, wie der griechische Geschichtsschreiber Herodot beschreibt, üblich, im Alter von ihren Angehörigen getötet und regelrecht »wiederverwertet«, nämlich zu einem schmackhaften Mahl zubereitet und verspeist zu werden.
    Die kaukasischen Kaspier setzten ihren Alten eine Grenze bis zum 70. Lebensjahr, um sie dann verhungern zu lassen.
    Die Baktrer aus dem Hindukusch-Gebirge sollen »Totengräber« gehalten haben – große Hunde, die schwach und hilflos gewordene Personen zum Fraß vorgeworfen bekamen.
    Neben etlichen Indianerstämmen setzten ferner die Lappen ihre bis dahin gut betreuten Alten aus, wenn sie ernstlich erkrankten.
    Auf Samoa im Südpazifik hatten die Alten, bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, die Pflicht, sich lebendig begraben zu lassen, sobald sie sich krank und hinfällig fühlten. Auf Tahiti wurden die 60-Jährigen mit einem Blumenkranz geschmückt, der die Aufforderung darstellte, sich im Ozean zu ertränken.
    In der Ukraine setzte man die Alten auf einen Schlitten und stieß sie von einem Berg.

    Aus: Die Alten 3.0 von Roger Harrison und Roswitha Casimir. Weitere Informationen unter http://die-alten.jimdo.com

    Es gibt noch weitere Beispiele: In der Arbeit Altgermanische Religionsgeschichte von Jan de Vries wird ebenfalls über die Sitte der Greisentötung berichtet. Es heißt dort:

    Die Berichte aus späterer Zeit setzen die Anschauung voraus, daß es sich nur um besondere Maßnahmen handele, wodurch man sich die erwerbsunfähigen Sippengenossen in Zeiten der Mißernte und Hungersnot vom Halse geschafft hat; ökonomische Motive haben ja öfters die Erklärung für des religiösen Sinnes beraubte Bräuche hergeben müssen. Auch die Greisentötung war ursprünglich von Glaubensvorstellungen bedingt; sie wurde von dem Opfer selbst als notwendig und wünschenswert betrachtet.

    Die Gebrüder Grimm haben als Sprach- und Literaturwissenschaftler nicht nur Märchen geschrieben, Jacob Grimm gilt als Begründer der deutschen Philologie und Altertumswissenschaft. In seiner Arbeit Deutsche Rechtsaltertümer befasst er sich mit mittelalterlicher Rechtspraxis, Rechtsanschauung und Rechtssymbolik. Das Kapitel Alte Leute beginnt er mit der Feststellung:

    Dem heidenthum schien das leben nichts ohne gesundheit des leibs und vollen gebrauch aller glieder; darum galt es für recht, schwächliche kinder auszusetzen, unheilbare kranke durch den tod ihrer qual zu erledigen und aus diesem grundsatz folgte auch eine geringschätzung des gebrechlichen alters … Es galt für erwünscht, im bewußtsein letzter kraft, ehe siechthum nahte, zu sterben, wie wir den krieger preisen, welchen der tod auf dem schlachtfeld, ohne unmännliche krankheit, dahin rafft.

    Grimm führte unter anderem auch die bereits erwähnte Sage von Gauti, König von Gautland an, ferner die Tötungen bei den Herulern, den Bericht von Festus über das Töten alter Römer sowie das Geschehnis im Wendland, bei dem die Gräfin von Mansfeld versucht, das Leben eines Greises zu verlängern. Er zeigt an weiteren Beispielen, wie verbreitet das Töten alter Eltern gewesen ist. Danach wurden die Alten nicht nur erschlagen oder in Abgründe gestürzt, sondern auch ertränkt, lebendig begraben, geschlachtet und gegessen.

    Senizid in der Geschichte der Ostslawen
    https://medienportal.univie.ac.at/uniview/forschung/detailansicht/artikel/meine-forschung-senizid-in-der-geschichte-der-ostslawen

    Die Ostslawen, die vor 1.000 Jahren auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, Russlands und Weißrusslands lebten, schickten ihre „Alten“ als „Botschafter“ ins Jenseits – zum Wohle der Gemeinschaft. Nataliya Korotkykh untersucht die Rechtsgeschichte des Phänomens Altentötung: vom Brauch zum Delikt.
    ...
    Weil die Ostslawen eine agrarische Gesellschaft waren, hing ihr Überleben wesentlich von Umweltfaktoren ab. So bedeuteten z.B. Naturkatastrophen eine Gefahr für die Gemeinschaft. Um diesen entgegenzuwirken, schickte man Botschafter in das Jenseits. Diese Rolle füllten die ältesten, wichtigsten und hochrespektierten Mitglieder der Gemeinschaft aus. Sie „starben“ nach Vorstellung der Ostslawen nicht im eigentlichen Sinne, sondern wurden in ein anderes Leben geschickt und halfen somit der Gemeinschaft.
    ...
    Nur durch Vergleichsanalysen folkloristischer und ethnographischer Materialien aus dem Archiv der Russischen Geographischen Gesellschaft, Berichten ausländischer Reisender und einigen archäologischen Quellen lässt sich feststellen, dass die Altentötung auf verschiedene Weise ausgeführt wurde. Dabei spielten die Jahreszeiten eine wichtige Rolle. Im Winter wurden die alten Menschen häufig im Wald oder der Steppe sich selbst überlassen. Im Sommer hingegen ertränkte man sie in Seen, Flüssen oder im Moor. Es finden sich Belege, dass die Alten der Opferung freiwillig zustimmten, mit dem Ziel, dadurch der Gemeinschaft hilfreich zu sein.

    Den Senizid auszuführen war die Aufgabe der Kinder der Opfer. Die Führer und Häuptlinge der Gesellschaft kontrollierten den Vollzug des Rituals. Sie gaben die entsprechenden Anordnungen. Falls die Kinder sich weigerten, die Eltern zu töten, wurden sie unter massiven Druck gesetzt. In ukrainischen Sagen werden sie für ihren Ungehorsam bestraft.

    Die Transformation und Aussterben des Brauches

    Nach der Christianisierung im 10. Jh. finden sich kaum mehr Erwähnungen des Senizids. Zwar enthält die Nestorchronik – die älteste erhaltene ostslawische Chronik und damit eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte der Kiewer Rus – episodische Berichte über die Tötung alter Frauen, aber die allgemeine gesellschaftliche Funktion der Altentötung verschwand aus den Quellen. Der Senizid als Element des Gewohnheitsrechts in der vorchristlichen ostslawischen Gesellschaft wurde durch die Rezeption der byzantinischen gesetzlichen Doktrin in der christianisierten Kiewer Rus zum strafrechtlichen Delikt.

    Senizid und Altentötung | springerprofessional.de
    https://www.springerprofessional.de/senizid-und-altentoetung/15436500

    Buchreihe: essentials
    Autor: Raimund Pousset
    Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden
    Print ISBN: 978-3-658-20877-6
    Electronic ISBN: 978-3-658-20878-3

    Raimund Pousset gibt in diesem essential eine knappe Darstellung des Senizids, die moderne Form der kulturellen Altentötung. Er beleuchtet sowohl die Geschichte als auch die aktuelle Situation einer uralten Methode. Diese seit Jahrtausenden fast überall auf der Welt praktizierte Sitte, alte ‚nutzlose‘ Menschen aktiv zu beseitigen oder sich passiv selbst zu Tode zu befördern, wird heute zunehmend wiederbelebt. Der Senizid ist in unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft ein namenloser und stiller Skandal. Der Autor möchte diesen stillen Tod in den Fokus einer achtsamen Fachöffentlichkeit stellen, denn die Segregation des Alters und die Kostenlawine im Gesundheitswesen lassen vermuten, dass der Senizid weiter an trauriger Bedeutung gewinnen wird.

    À la recherche de la vieillesse dans l’Antiquité gréco-romaine
    http://www.persee.fr/doc/antiq_0770-2817_2005_num_74_1_2580

    #viellesse #euthanasie #auf_deutsch