• Bevölkerung: Warum Berlin viele Einwohner, aber kaum Bürger hat | Berliner Zeitung
    https://www.berliner-zeitung.de/berlin/bevoelkerung-warum-berlin-viele-einwohner--aber-kaum-buerger-hat-29

    Hier spricht das wohlhabende Bürgertum. Wolfgang Neuss hatte einmal viel Erfolg mit der Pointe zur Berliner Mauer, dass sie die Arschlöcher aus der Stadt vertrieben hatte. Jetzt sind sie wieder da, errichten Betonschlösser statt Volkspalästen und und wollen eine kleinteilige Bebauung der Innenstadt nach historischem Vorbild. Freibung in Berlin.

    Wenn es nach denen geht, sieht bald ganz Ostberlin so aus, wie das Nikolaiviertel mit Hochhäusern. Toll.

    Das brauchen wir, am besten alles privat finanziert, mit Kaufwohnungen oder Mieten ab 20 Euronen kalt. Nur weiter so, dann ist Berlin bald so attraktiv wie Paris und sogar die gute Maritta kann hier nicht mal mehr in einer Garage pennen, außer sie macht sich an einen Milliardär ran.

    Willkommen in der Weltstadt.

    Maritta Adam-Tkalec - „Warum ist Berlin so dysfunktional?“, fragte vor einiger Zeit der in London erscheinende Economist. Als bedenkliches Symptom der Funktionsstörung erscheint dem weltweit gelesenen Magazin, dass Berlin Deutschland ärmer macht – ohne die Hauptstadt läge das Bruttoinlandsprodukt pro Person um 0,2 Prozent höher. Unvorstellbar in Frankreich, das ohne Paris um 14,8 Prozent ärmer wäre, Großbritannien ohne London um 11,1 Prozent. Berlins wirtschaftliche Schwäche ist einzigartig unter den europäischen Hauptstädten.

    Hinzu kommen die Mühen des Berliner Alltags – die verstörende Unfähigkeit der Verwaltung, dem steuerzahlenden Bürger grundlegende Dienstleistungen auch nur in durchschnittlicher Qualität und Zuverlässigkeit zur Verfügung zu stellen. Zugezogene, vor allem aus dem Süden Deutschlands, erleben erschüttert die schwierigen Verhältnisse.

    Das britische Blatt erklärte es seinen Lesern mit den historischen Brüchen, die die deutsche Hauptstadt zu verarbeiten hatte: War sie vor dem Zweiten Weltkrieg noch ein industrielles Zentrum, verließen viele wichtige Unternehmen die geteilte, isoliert gelegene Stadt. Nach der Wiedervereinigung gab es wenig Gründe zur Rückkehr.

    Inzwischen wächst zwar die Hoffnung, moderne Firmen könnten mit Zukunftstechnologien eine neue wirtschaftliche Basis schaffen. Doch das behebt die Funktionsstörung in der Verwaltung nicht. Deren Hauptursache liegt vor allem in der irritierenden Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Stadt und Bezirken – was das Hin- und Herschieben von Verantwortung ungemein erleichtert. Am Ende haftet keiner.

    Verlust um Verlust

    Doch es gibt eine weitere, weniger leicht erkennbare, historisch erzeugte Ursache: den mehrfachen, für die Stadt jeweils nachteiligen Bevölkerungsaustausch. Anders als in Hamburg oder München konnte kein vergleichbar gefestigtes Bürgertum wachsen, das sich seiner Stadt verbunden und verpflichtet fühlt. Statt Empathie für das große Gemeinwesen, herrschten und herrschen Lieblosigkeit und ideologische Verbohrtheit – diesen Eindruck gewinnen jedenfalls jene wenigen, die sich doch bürgerschaftlich über ihr Kleinquartier (gerne Kiez genannt) hinaus engagieren.

    Dieser berlinspezifische demografische Umstand lässt sich nicht an den üblichen Zu- und Wegzugsstatistiken ablesen, die liefern bestenfalls Anhaltspunkte. Es handelt sich weniger um quantitativ messbare, vielmehr um kulturell spürbare Bewegungen der Stadttektonik.

    Erstens: Sichtbar und von erschütternder Dimension fielen die Vertreibung und der Mord an insgesamt 160 000 Berliner Juden aus. Künstler, Wissenschaftler, Mäzene, Architekten, Designer, Journalisten – eine ganze stadtbereichernde Schicht verschwand im Holocaust, nie zu verwindender Verlust. Graues Mittelmaß ergriff die Herrschaft.

    Ein regelrechter Exodus
    Zweitens: Schon während des Krieges begann die Absetzbewegung der Wirtschaft, man verlagerte alles Wichtige in vermeintlich bombensichere Gegenden im Süden Deutschlands.

    Drittens: Der Befreiung vom Nationalsozialismus folgte ein regelrechter Exodus. Gemeinsam mit Unternehmen wie Siemens, AEG und vielen anderen, verließen die Fachkräfte Berlin – auf rund eine Million wird die Zahl der Abgänge geschätzt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DfG) nahm Sitz in Bonn, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft) zog vom Berliner Schloss nach München.

    Wer Karriere machen, etwas werden wollte, ging weg – und nahm unschätzbare Werte mit: Kultur, Wissen, Kompetenzen, auch Zahlungskraft. Das galt zunächst für Ost- wie Westberlin. Wer im Osten noch gezögert hatte, saß ab 1961 dort fest.

    Zuzügler aus Westdeutschland

    Stattdessen zog, viertens, eine andere Spezies massenhaft aus Westdeutschland zu: Wehrdienstflüchtlinge, Leute auf der Suche nach sexueller und Freiheit überhaupt, Kämpfer gegen das (bürgerliche) „Schweinesystem“, viele kreativ und lebensfroh, aber keinesfalls Träger von Bürgerlichkeit.

    Sie nahmen vom Staat, was sie in der Frontstadt leichter bekamen als anderswo, nämlich „Staatsknete“. Ansonsten kümmerten sie sich um den US-Imperialismus, Vietnam und um sich selbst. Das Wort Kommune bezeichnete jedenfalls nicht die Stadt. In der Folge nährten sich 30 Prozent der Westberliner aus dem Sozialtopf oder pflegten als Staatsdiener ein oft geruhsames Leben.

    Die fünfte Welle des Bevölkerungsaustausches setzte nach dem Mauerfall ein. Geschätzt zwei Millionen verließen den Osten wie den Westen auf der Suche nach einem besseren Leben – in Westdeutschland oder in ausländischen Sehnsuchtsorten. Die Bevölkerungszahl sank trotz Zuzugs zum Beispiel aus der ehemaligen Sowjetunion. Wieder eine Schwächung des klassischen Stadtbürgertums.

    Wegzug ins Umland

    Schließlich muss, sechstens, der Wegzug von oft gut verdienenden Familien ins Brandenburger Umland als Aderlass beklagt werden. Ihre Kompetenz, ihr Engagement kommt seither dem Speckgürtel zugute, den Schulen, den historischen Gebäuden, Museen. Auch jetzt ziehen vermehrt junge Familien weg – nach ein paar wilden Jahren suchen Eltern geordnete Verhältnisse. Der Chefredakteur der Zeitschrift Zitty beschrieb jüngst, warum er mit Familie nach München zieht. Er will eine funktionierende Stadt: Schule, Polizei, Infrastruktur…

    Potsdam profitierte enorm vom Zug ins Umland: Es genießt das Engagement neuer Bürgerschaftlichkeit, einschließlich großzügiger Sponsoren. Berlin verweigert sich dem regelrecht und pflegt stattdessen eine Art proletarischen Hochmut. Will ein reicher Bürger der Stadt Millionen schenken, zum Beispiel für ein historisches Gebäude, weist ihm die Politik hochnäsig die Tür.

    Andere konnten sich mit Hartnäckigkeit durchsetzen, wie der Hamburger Wilhelm von Boddien, der Berlin auf den Weg positiven Geschichtsverarbeitung drängte. Wäre ohne sein Engagement und das seiner Verbündeten der Wiederaufbau des Schlosses möglich gewesen und mit diesem ein Kulturzuwachs, wie er Humboldt Forum denkbar erscheint? Gäbe es in der Folge die Chance zur Neufindung der Alten Mitte? Wohl kaum.

    Kein Berliner Stil

    Dort zeigt sich das Desinteresse der Berliner Mehrheit besonders krass. In Bürgerdialogen reden Anwohner über ihr Grün und Parkplätze. Wer dort Historisches ins Spiel bringt, eine kleinteilige Bebauung im früherem Straßenraster, mit Wohnhäusern vorschlägt, wer die namenlose, vage als Rathausforum bezeichnete Ödnis beleben will, der bekommt schnell das Etikett „Fachwerkfraktion“ angeklebt. Das Anliegen wird ins Lächerliche gezogen.

    Als einmal für kurze Zeit ein Berliner Bürgertums erblühte, in der Gründerzeit nach der Reichseinigung 1871, fand sich mangels Lokalpatriotismus kein Berliner Stil. Bauherren verwirklichten sich selbst in wilden eklektizistischen Experimenten: Neo-Romanik, Neo-Gotik, Neo-Renaissance, Neo-Barock.

    Man fing an, Kunst und Kultur aus aller Welt anzusammeln und in Riesen-Museen auszustellen, man strebte danach, dem neuen Bild von nationaler Größe Ausdruck zu verleihen. Um die Stadt ging es kaum – immerhin, Bürger betätigten sich als Mäzene, taten der Allgemeinheit Gutes.

    Partizipation = Blockade

    Wie aber kann die Stadt ihre Zukunft gestalten statt sie bloß kommen zu lassen? Die Studie „Berlin 2030“ des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung vom November 2015 stellt günstige Faktoren ungünstigen gegenüber: Hemmnisse sieht man in der ideologischen Aufladung vieler Debatten über die städtebauliche Entwicklung. Es mangele an städtebaulichen Ensembles – geschlossenen Straßenfluchten und attraktiven Plätzen.

    Bei einem Großteil der stadtbildprägenden Gründerzeitbauten sei die historische Fassadengestaltung zerstört – anders als in Städten wie Paris, Wien oder Leipzig. Andererseits gebe es Freiräume und Freiheiten, die kreative Lösungen befördern. Im Vorwort wird gewarnt: „Partizipation in Berlin darf nicht länger ein Synonym für Blockade sein.“

    Etwas mehr als die Hälfte der heutigen Einwohner ist nicht hier geboren. Auch deshalb appellieren die Autoren der Studie an alle, „die großen und kleinen Unternehmen sowie die Forscher und Repräsentanten aus Kunst und Kultur, die Alteingesessenen, die Neu-Berliner und die Berlin-Liebhaber, am Berlin der Zukunft mitzubauen.“

    Why is Berlin so dysfunctional? - Poor and sexy
    https://www.economist.com/news/europe/21731837-unlike-other-capitals-germanys-drain-rest-country-why-berlin-so

    AT A crossroads in the middle of Tegeler Forst, a wooded part of north-west Berlin, visitors can admire the city’s longest-serving provisional traffic light. Erected in 2013 after a burning car had destroyed the pillar on which the lights were mounted, it was meant to be replaced by a more permanent structure within a few weeks. When a city lawmaker asked the government why, four years later, the lights still had not been fixed, he received an interesting response: owing to changed regulations, calculating whether or not the new structure would fall down had become “very laborious and difficult”. The government would not specify how much longer it would take.

    The traffic-light saga illuminates a wider problem. Berlin, the capital of Europe’s most successful economy, is surprisingly badly governed. The new airport, the city’s biggest flagship project, missed its seventh opening date earlier this year and may not open until 2021, ten years after it was originally supposed to. The jobless rate is among the highest in the country. Schools are dismal. Courts and police are so overworked that hundreds of millions of euros in fines and taxes have not been collected; and the city failed to keep tabs on Anis Amri, the jihadist who killed 11 people with a lorry last Christmas, despite warnings about him three weeks earlier.

    Astonishingly for a capital city, Berlin makes Germany poorer. Without it, Germany’s GDP per person would be 0.2% higher. By comparison, if Britain lost London, its GDP per person would be 11.1% lower; France without Paris would be 14.8% poorer. “Berlin’s economic weakness is unique among European capitals”, says Matthias Diermeier of the Cologne Institute for Economic Research.

    The city’s dysfunction makes everyday life more irksome. In some boroughs the streets are constantly clogged by piles of rubbish, not to mention inexplicable roadworks that make little or no progress. Registering a new car can take weeks, depriving new owners of a means of transport and car showrooms of space for new stock. This summer desperate couples travelled out of town to get married because short-staffed town halls could only offer wedding dates months in the future. “It is hard to escape the impression that Berlin’s government has a certain contempt for its citizens”, says Lorenz Maroldt, editor of the local daily Tagesspiegel, who writes a newsletter chronicling the city’s administrative hiccups.

    Berlin’s woes are partly a consequence of structural changes. Before the second world war the city was an industrial hub. When it was divided by the victorious allies, many firms moved their offices and factories to West Germany. As an anti-communist bulwark, West Berlin was heavily subsidised, but not an attractive place to set up a business. After unification, firms that had re-established themselves in Germany’s southern industrial clusters had little reason to move back. Instead the city attracted bohemians, lured by low rents and large numbers of abandoned factories and warehouses that made ideal artists’ studios or rave venues. These new, hip residents earned little and paid little tax. In 2003 Klaus Wowereit, a former mayor, described Berlin as “poor but sexy”.

    The city’s economic fortunes are improving. A heavy dose of austerity in the early 2000s averted bankruptcy. Startups have moved into the artists’ warehouses, making Berlin the second-biggest European tech hub after London. Its rough-and-colourful image has attracted tourists. The city’s population is growing.

    Yet the bureaucratic dysfunction continues. One culprit is the complex division of responsibilities between the city and its boroughs. This makes it easy for officials to pass the blame for problems back and forth without doing anything about them. (By contrast, cities such as Hamburg or Munich have centralised their administrations to improve accountability.) That the austerity measures were implemented in a slapdash fashion probably did not help either. But the main reason, Mr Maroldt believes, is cultural, going back to Berlin’s historic anti-capitalist and anti-technocratic streak: “We have a deeply held suspicion of anything that smacks of efficiency and competence.” Abandoning that attitude may make life in Berlin easier. For some, no doubt, it will also make it less sexy.

    #Klassismus #Stadtentwicklung #Gentrifizierung #Marketing