Von der Sinfonie der Großstadt zur Geräuschkulisse

/Von-der-Sinfonie-der-Grossstadt-zur-Ger

  • Von der Sinfonie der Großstadt zur Geräuschkulisse | Telepolis
    https://www.heise.de/tp/features/Von-der-Sinfonie-der-Grossstadt-zur-Geraeuschkulisse-3931532.html


    Verkehrslärmmessung 1972 in Dresden. Bild: Eugen Nosko, Deutsche Fotothek / CC-BY-SA-3.0

    Lärmverschmutzung verschärft sozialen Stress. Aber jeder hört anders.

    Äsop erzählt von der armen Landmaus, die von ihrer Freundin in die Stadt eingeladen wird. Die Stadt bietet üppigste Speisen und Vergnügen im Überfluss, verspricht die Stadtmaus. Aber es geht nicht gut. Kaum sitzen sie an den Resten der Tafel, bricht Gefahr in Gestalt der Dienerschaft herein, und die beiden zittern und fliehen.

    In der Stadt muss man ständig auf der Hut sein, lehrt die Fabel. Stressoren lösen Angstreaktionen aus, für Mäuse und Menschen. Städter haben das dünnere Nervenkostüm. Sie sind hypersensibilisiert für unvorhersehbare und unkontrollierbare Ereignisse. Nur können die menschlichen Städter im Zuge der stark zunehmenden Urbanisierung nicht ohne weiteres aufs Land ausweichen. Für sie stellt sich die Frage dramatisch: Machen Städte krank? Eine neue Fachrichtung, die Neurourbanistik, untersucht den „sozialen Stress“, der aus den Formen der Vergesellschaftung hervorgeht.

    Nach der Luftverschmutzung ist Lärm die zweitgrößte Umweltbelastung. Beides zusammen resultiert in urbanem Stress, dessen herausragende Symptome der Psychiater Mazda Adli aufzählt: 1. Affektive Störungen, 2. Angststörungen, 3. Depression. Die gesundheitlichen Folgen von Lärmbelastung lassen sich noch einmal unterteilen in psychische und physische. Letztere reichen von Schwerhörigkeit und Tinnitus, dem andauernd hochfrequenten Pfeifton, bis zu Herz/Kreislauf-Erkrankungen einschließlich Herzinfarkt. Bei Berufsgruppen wie Bauarbeitern, die ständig überdurchschnittlicher Belastung ausgesetzt sind, ist auch die Mortalität höher.

    Erste psychische Syndrome sind insbesondere Konzentrationsstörungen, Beeinträchtigung bei der Durchführung von Aufgaben und Schlafstörungen. Sowohl physische Folgen wie Tinnitus als auch psychische können andauern, wenn die Lärmquelle weggefallen ist. Es wäre einseitig, Lärm unter Hinweis auf die Gewöhnung zu verharmlosen. Eher findet eine Summierung der Faktoren statt. Der Hörsinn und die kognitive Verarbeitung des Inputs sind zunehmend überlastet. Die Reizüberflutung ist gesellschaftlich produziert. Die Gesellschaft ist zur Leistungsmaschine mutiert, die unsere Aufmerksamkeit und unsere Wahrnehmungsfähigkeit überdehnt. Unsere Sinne stehen „unter“ permanent verstärktem „Strom“. Unser Jahrhundert ist das „neuronale“, schreibt Byung-Chul Han in seinem Band „Müdigkeitsgesellschaft“.

    In einem Vortrag am Deutschen Institut für Urbanistik übertrug Adli diesen Prozess des ständigen Über-sich-Hinausgehens mit einer einfachen Formel auf den Stadtraum: Je höher die soziale Dichte, desto größer der Stress. Die Verhaltensforschung hat im Tierreich zahlreiche Vorbilder für sozialen Stress entdeckt, so das Federpicken zu eng gehaltener Hennen. Das „Crowding-Stresssyndrom“ ist ein evolutionäres Erbe, wie Vergleichstests am Menschen herausgefunden haben. Adli beruft sich auf den Trierer Sozialen Stresstest von 1993, der die Probanden ähnlich unter öffentlichen Druck setzt wie eine Castingshow. Donald Trumps „The Apprentice“ griff dieses Muster, Kandidaten mittels Bewerbungsgesprächen vorzuführen, auf.

    Auf dem Land lebt es sich folglich besser - glücklicher und freiheitlich. Mit solch linearen biologistischen Erklärungen vergaloppiert sich die Neurourbanistik, die nicht einmal so neu ist. Adli erwähnt mit keinem Wort Alexander Mitscherlichs Band „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“. In diesem 1965 erschienenen Text stellt der Psychoanalytiker die Frage, ob die Stadt- und Wohngestaltung wichtige Wirkmomente von Neurose sind oder ob die Stadt ein Heilmittel gegen die neurotisierenden Zwänge der Kleinstädte und Dörfer ist. Mitscherlich lässt die Frage wohlweislich offen. Als Freudianer fasst er die Stress-Symptomatik unter „Neurose“ zusammen, begründet diese jedoch gesellschaftlich.

    Das Privateigentum ist von sichtbaren Grenzen umgeben. Entscheidend sind für Mitscherlich jedoch die unsichtbaren Tabus, die neurotisch, die ängstlich oder aggressiv machen. Ängstlich deshalb, weil der Druck der Anpassung an soziale Zumutungen ins Innere der Individuen gewandert ist. Die abgedrängten Triebansprüche richten sich „terroristisch“ gegen die Autonomie des Ich. Mitscherlich umreißt damit sehr genau einen Aspekt des Lärmstresses: die territoriale Invasion. Der Lärm, der subversiv in „mein“ Territorium eindringt und nicht mehr zu kontrollieren ist, lässt nur noch Hilflosigkeit oder Aggression, kurz: Frustration zu. Deswegen wird gezittert. Neurose ist verunglückte Angstabwehr.

    Das ist auf dem Land nur äußerlich anders als in der Stadt. Zwar ist die Fläche nicht so dicht mit Grundstücken besetzt und die öffentliche Geräuschkulisse weiter entfernt, aber umgekehrt proportional ist der soziale Zwang gesteigert. Oft reicht ein Nachbar zum Aufschaukeln von rechthaberischen Konflikten, und mangelnder Ein-Blick in die gut gesicherte Nachbarparzelle wird durch verbale Invasionen, Gerüchte und Spekulationen ersetzt. Dörfer können zu Zwangsveranstaltungen werden. Die Freiwillige Feuerwehr macht nicht nur Tatütata, sondern greift immer dann ein, wenn es dörfliche Hierarchien zu bewahren gilt.

    Nähe und Ferne sind keine metrischen, sondern emotional definierte sozialräumliche Größen. Martin Heidegger schreibt: Ein „schwerer Gang“ kann einem unendlich lang erscheinen. Was leicht fällt, ist dagegen nur „einen Katzensprung“ entfernt. In seinem jüngst erschienenen populärwissenschaftlichen und mit Leckerbissen aus der Hirnforschung gespickten Band „Stress and the City“ nennt Adli selbst eine Fülle von Phänomenen, die den Stressfaktor „urbane Dichte“ relativieren. Masse heißt nicht nur, in der U-Bahn Körper an Körper zu kleben, sondern man kann in der Masse sehr einsam sein, gefühlt weit weg von den anderen. Aber jüngere Stadtbewohner goutieren durchaus die größere - auch akustische - Ereignisdichte. Schließlich ist die Stadt für Events gut. Stadt ist „Soundscape“ pur.

    Eine soziologische Studie unterscheidet zwischen Kontaktkulturen und Distanzkulturen. Menschen, die an einem Caféhaustisch in San Juan/Puerto Rico zusammensaßen, berührten sich pro Stunde einhundertachtzigmal. Am wenigsten Körperkontakte gab es in London, nämlich keine. Und was bei den den Puerto Ricanern noch innerhalb der Lärmtoleranz liegt, mag den Engländern und Deutschen bereits über die Hutschnur gehen.

    Fixe Werte wie maximal 65 Dezibel, die für Straßenanwohner als noch erträglich gelten, und mehr als 85 dB, die gesundheitsschädlich sind, dienen zur Auswertung von Lärmkartierungen und zu Handlungsanweisungen in Lärmaktionsplänen. 2002 kam die Umgebungslärmrichtlinie der EU heraus. Das Wortungetüm verhindert nicht Vollzugsdefizite bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Lärmminderung. Es hilft auch nicht bei der individuellen Wahrnehmung von Tönen, Klängen und Geräuschen weiter. Wilhelm Busch: „Musik wird oft nicht schön gefunden / weil sie stets mit Geräusch verbunden.“ Mit der höchst unterschiedlichen subjektiven Hör-Wahrnehmung beschäftigt sich die Psycho-Akustik.

    Auf diese unterschiedliche, schwer zu objektivierende Bewertung spielt Kurt Tucholsky an: „Lärm ist das Geräusch der anderen.“ Wenn sich die Lärmquelle nicht abstellen lässt, kann sich das zu Kurzschlusshandlungen aufschaukeln. Aktenkundig sind Schüsse aus offenem Fenster auf spielende Jugendliche. Bei Glockengeläut eilen die einen zum Gottesdienst, die andern zum Rechtsanwalt. Wer sich von getunten Motorrädern gestört fühlt, erholt sich vielleicht bei Gustav Mahlers 9. Sinfonie, die in der Spitze mehr als 100 dB erreicht.

    So makaber es klingt, sind Motorräder aber auch Lärmbekämpfungsmaschinen. Verkehrslärm wird bewusst und lustvoll mit noch mehr Lärm bekämpft. Die Motorradfahrer gewinnen die Oberhoheit über die anderen Verkehrsteilnehmer. Freiheit nennen die Hells Angels ihren Terror. Das ist nicht gerade der „Modal Split“, wonach empfohlen wird, auf das jeweils leiseste Verkehrsmittel umzusteigen.

    Ebenfalls lauter werden Vögel in Bäumen an Hauptverkehrsstraßen. Nachtigallen verlegen ihren Gesang vor, um nicht mit dem morgendlichen Berufsverkehr zu kollidieren. Amseln und Stare schaffen es, Handyklingeln in ihre Melodie einzubauen. Geht ihre Brautwerbung in Produktwerbung über? Populationen, die wie die Spatzen nicht anpassungsfähig sind, gehen zurück. Sie pfeifen nichts mehr von den Dächern. Schlafstörungen und Albträume tagaktiver Vögel scheinen noch nicht erforscht. Zur experimentellen Untersuchung und Therapie von Menschen haben Kliniken Schlaflabore eingerichtet. Der Trend geht dahin, dass die Nächte immer lauter und heller werden. Zur städtischen Lärmverschmutzung kommt die Lichtverschmutzung.

    Draußen auf dem Platz ist ein Lärm, den man eigentlich gar nicht hört, ein Durcheinander von Wagen, Menschen, Autos, Zeitungsverkäufern, Elektrischen, Handwagen und Fahrrädern, das man eigentlich (...) nicht mal sieht. Es ist doch beinahe unglaublich zu denken, man wolle das hören und sehen, man ist doch kein Zugereister.
    Robert Walser

    Walser beschreibt 1907 für Berlin, wie der Lärmpegel für die eine Gruppe unterhalb, für die andere Gruppe oberhalb der Schwelle der bewussten Wahrnehmung liegt. Die Geräusche der Großstadt haben sich zur Kakophonie gesteigert, bei stets anziehendem Rhythmus. Im Gegenzug wächst das Bedürfnis innezuhalten, das Bedürfnis nach Rückzugsorten. Antonella Radicchi, Architektin und Stadtplanerin, hat an der TU Berlin eine „Hush City App“ entwickelt, die jedem offensteht. Die Nutzer können mit Hilfe ihrer Smartphones, die mit GPS ausgerüstet sind, ruhige Orte in ihrer Umgebung ermitteln. Die Klangkulisse wird aufgenommen und gemessen. Der Ort wird fotografiert. Zusätzliche Informationen werden eingegeben und können mit anderen Nutzern geteilt werden.

    Diese Pilotstudie zu einer Soundscape des städtischen Alltags soll zu einem weltweiten Atlas der ruhigen Orte erweitert werden. Das schafft ein Bewusstsein dafür, dass Ruhe ein kostbares Gemeingut ist. Stadtplaner sollten über allen Verdichtungs- und Verkehrsprojekten nicht die Klangqualität öffentlicher Räume übersehen. Der Schutz und die Vermehrung ruhiger Orte ist eine Planungsaufgabe, die in den Lärmaktionsplänen von Kommunen vorerst nur grob umrissen ist. Das Projekt von Radicchi sorgt hier rechtzeitig für Bürgerbeteiligung.

    Die Ironie des Projektes liegt in der ambivalenten Funktion der Mobiltelefone. Einerseits tragen sie zum Sammeln und Verbreiten sozialräumlicher Informationen bei. Andererseits sind sie ein sozialer Stressor erster Güte mit in der Summe hoher Lärmemission. Das Hush City Projekt blendet aus, dass der flächendeckende Mobiltelefon-Verkehr den öffentlichen Raum durch Virtualisierung aufhebt, wenn nicht vernichtet.1 Die Raum/Zeit-Kompression der Gespräche interveniert in die realen Begegnungen, die klassisch den öffentlichen Raum der Städte ausmachen. Wer sich noch in der realen Zeit bewegt, auf den wirkt es wie eine Fülle von Selbstgesprächen ohne Diskretionsabstand.

    Wenn es sich nicht gerade um geschäftliche Telefongespräche handelt, tun sich für den passiv Zuhörenden Abgründe an Banalität auf. Man mag einwenden, dass selber schuld sei, wer hinhört. Das Sprachgewirr sei das Grundrauschen einer neuen Öffentlichkeit. Aber genau das widerlegt die Lärmforschung. Erstens: Lärm, der die Wahrnehmung absorbiert, beeinträchtigt auch das Sozialverhalten. Es darf auch nicht übersehen werden, dass das mimische und gestische Verhalten der Sprechenden eine körpersprachliche Desinformation in die Umgebung abstrahlt.

    Zweitens: Das Ohr „bleibt immer an“; das Gehirn schaltet nicht ab. Alle Geräusche werden verarbeitet. Wer sie „überhört“, dem lagern sie sich im Unbewussten ein und summieren sich zu den Folgen, die schon Mitscherlich an Hand der Tabus und ihrer Überschreitung beschrieben hat. Ein Hush-City-Projekt sollte handyfreie Zonen ausweisen und Alternativen aufzeigen. Für Experimente wäre der riesige ruhige Ort mitten in Berlin geeignet, das Tempelhofer Feld.

    Stille Orte und laute Echos

    Die soziale Dichte gereicht der Stadt zum Vorteil, wenn sie offen ist für den Umgang mit dem Ungewissen, mit dem „In between“, schreibt Richard Sennett. Die offene Stadt sollte keine „lineare Erzählung“ sein, nicht auf feste Zielvorgaben und Nutzungen ausgerichtet sein. Alles kann auch anders sein in der Stadt. Sie fördert die Mischung aus Anonymität und Exponiertheit. Wenn öffentliche und private Räume durchlässig füreinander werden, wenn genügend Durchblicke und „Blicke auf der Straße“ gewährt sind, ist auch - ganz anders als in Gated communities - das Gefühl der Sicherheit für die Bürger gegeben, schreibt Jane Jacobs.

    Noch pointierter Walter Benjamin: Er umreißt kurze Augenblicke des Angesehen-Werdens, den Funken, der zwischen Menschen im öffentlichen Raum überspringen kann, für den Philosophen geradezu ein göttlicher Funke. Und Alexander Mitscherlich tariert die Begegnungen in der Öffentlichkeit mit der Möglichkeit des Alleinseins aus, das ihn an seine Kindheit in der elterlichen Wohnung erinnert, die Nischen zum Verstecken bot.

    Der Schriftsteller Peter Handke hingegen tut es seinem japanischen Kollegen Tanizaki Jun’ichiro gleich. Er zieht sich auf den „Stillen Ort“ zurück, um den Gedanken die Zeit zu gönnen, zur Sprache zu kommen. Jun’ichiro lauscht dabei dem sanften Rieseln des Regens und dem Rascheln des Laubes. Das ist etwas anderes als absolute Stille. Die ist nicht bekömmlich.

    Stadt ist eine atmende Mischung aus Näherung und Entfernung, aus Vertrautheit und Fremdheit. Adli, der schließlich doch die Vorzüge der Stadt preist, wendet das auf die aktuelle Situation an: „Die Sichtbarkeit von Menschen, die anders ausschauen oder die eine andere Meinung vertreten, bewirkt die bewusste Wahrnehmung von Diversität in der Stadt.“ Das geht nicht immer ohne Stress ab. Das lindernde Gegenmittel heißt Frustrationstoleranz.

    Wer von Diversität spricht, sollte vom Gegenteil nicht schweigen. Die Werte der Lärmkarten werden zusammen mit Faktoren wie Luftverschmutzung in die Umweltdebatte eingeordnet. Allein auf dieser Ebene wird weder eine Ursache noch eine Lösung zu finden sein. Weiter hilft hingegen der Befund, dass sich Armutshaushalte an stark belasteten Straßen massieren. Die Mieten sind niedriger. Hinter der Lärm- und Luftverschmutzung verbirgt sich eine räumliche und soziale Segregation. Disparität statt Diversität.

    An dieser Stelle kommt eine andere Art von Dichte ins Spiel: die „Nachverdichtung“. Dieser Slogan hat einen Vorläufer. Als Mitscherlich Mitte der 60er Jahre seinen Text schrieb, hieß es: Urbanität durch Dichte. Es lief auf Kahlschlag, Erhöhung der Geschossflächen bei Neubauten und „Autogerechtigkeit“ der Städte hinaus. Der Vorwand war, die „Soziale Frage“ (Wohnungsnot) zu lösen.

    Wer sagt, dass sich das heute nicht wiederholen kann? Und wenn alle von Nachverdichtung sprechen, aber niemand von „Nachbegrünung“, werden auch die Städte ungewollt immer lauter. Was die Menschen bauen, kommt als ihr eigenes Echo zurück.

    #Verkehr #Umwelt #Lärm #Stadtentwicklung