Top-Spion : Wie „Enrico“ für den BND die SED-Spitze aushorchte

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    Die Mitarbeiter des West-Berliner Verfassungsschutzes reiben sich verwundert die Augen, als sie dem mittelgroßen Besucher aus Ost-Berlin gegenübertreten. Es ist Anfang 1989. Die DDR versinkt in Agonie, Honecker bekräftigt, dass die deutsche Teilung noch 50 oder 100 Jahren dauern könne, und an der Berliner Mauer wird Chris Gueffroy erschossen. Was sich aber wirklich im Zentrum der SED-Macht abspielt, weiß im Westen niemand. Und da sitzt nun dieser etwas füllige Ost-Berliner mit Brille und Halbglatze im Besucherbüro des Landesamtes und teilt den verdutzten Geheimdienstlern mit, er könne ihnen so einiges erzählen aus dem Politbüro und der DDR-Regierung.

    Doch die Verfassungsschützer sind skeptisch und schicken den Mann erst einmal wieder heim nach Ost-Berlin. Will der Osten dem Verfassungsschutz eine Falle stellen?

    Schließlich hat der Besucher angegeben, selbst jahrelang im DDR-Außenministerium und auch noch für die Stasi gearbeitet zu haben. Ein SED-Politkader, wie er im Buche steht. Der nun plötzlich reinen Tisch machen will, aus Enttäuschung, wie er selbst sagt, weil seine Genossen ihm die nötige medizinische Hilfe für seine Herzerkrankung verweigern.

    Exzellente Zugänge in die Spitzen
    Einige Zeit später kommt der Mann wieder. Als Invalidenrentner darf er nach West-Berlin reisen, obgleich er noch keine 65 Jahre alt ist. Diesmal erzählt der Mann, er habe jahrelang als Diplomat an DDR-Botschaften in Lateinamerika gearbeitet. Und er sagt, er könne von aktuellen Diskussionen in der SED-Spitze zur wirtschaftlichen und politischen Lage in der DDR berichten, über Inhalte von Beratungen zwischen Moskau und Ost-Berlin sowie über Meinungsverschiedenheiten bei der Stasi darüber, wie lange das noch gut gehen kann mit dem Arbeiter-und-Bauern-Staat.

    So langsam dämmert es den Verfassungsschützern, dass ihnen offenbar wirklich ein dicker Fisch an die Angel gekommen ist. Mitte März 1989 wenden sie sich daher an den BND-Residenten in West-Berlin: Man habe da einen Selbstanbieter, der offenbar über exzellente Zugänge in die Spitzen des politischen Machtapparates in Ost-Berlin verfügt. Wenn der BND es wünsche, könnte ein Abgesandter beim nächsten Treff mit dem Mann in einem West-Berliner Hotel dabeisitzen, um zu entscheiden, ob man den Informanten übernehme.

    In der Pullacher BND-Zentrale werden daraufhin umgehend zwei erfahrene Agentenführer in Bewegung gesetzt, die am 28. März 1989 in Tegel landen. An diesem und dem nächsten Tag führen sie stundenlange Gespräche mit dem Mann aus Ost-Berlin, der bis zum Zusammenbruch des SED-Regimes ein gutes halbes Jahr später bei insgesamt mindestens 15 Treffs im Westteil der Stadt eine Fülle hochkarätiger politischer Informationen liefert.

    „Er war in dieser Phase, aber auch, wenn man es über die gesamte Zeit des Kalten Krieges hinweg betrachtet, die beste Quelle, die der BND je im politischen Apparat der DDR rekrutieren konnte“, sagt ein ehemaliger Geheimdienstler, der mit dem Vorgang befasst war. Insgesamt 150 Meldungen „von überragender Qualität“ liefert der Invalidenrentner, die von der Auswertung des BND durchweg mit Bestnoten bewertet und häufig umgehend an das Bonner Kanzleramt weitergeleitet werden. Mit ihm verfügt der BND auf einmal über bis dahin nie dagewesene Einblicke in politische Entscheidungsfindungsprozesse und Vorgänge, die sich in höchsten Führungszirkeln der DDR abspielen. In den Operativakten bekommt der Informant den Decknamen „Enrico“, seine Berichte werden unter den Bezeichnungen „Leo I“ und „Leo II“ in den Pullacher Apparat eingespeist.

    Wenn Hans Modrow, der frühere Dresdner Bezirksparteichef, mit seiner am morgigen Mittwoch vom Bundesverwaltungsgericht zu verhandelnden Klage auf Einsicht in seine BND-Akten Erfolg haben sollte, dann dürfte er dort auf „Leo“-Meldungen stoßen. Denn natürlich berichtete Agent „Enrico“ auch über Modrow als vermeintlichen Hoffnungsträger einer angeblich reformwilligen SED. Und er beschrieb in seinen Berichten Modrows Mitverantwortung für die Fälschungen bei den DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989 und für die gewaltsamen Übergriffe von Sicherheitskräften auf Demonstranten am Dresdner Hauptbahnhof am 4. Oktober 1989.

    Für Mielke auf den Friedhof
    Hinter „Enrico“ verbarg sich der 1928 im sudetendeutschen Gablonz, dem heutigen Jablonec, geborene Egon Pampel (Name geändert). Er hatte 1960 ein Außenpolitikstudium in Potsdam-Babelsberg begonnen und ging danach ins DDR-Außenministerium. Zwischen 1966 und 1979 setzte ihn die DDR jeweils mehrere Jahre lang in Leitungsfunktionen an ihren Botschaften in Kuba, Kolumbien und Argentinien ein. Auch für die Stasi war er tätig: Von 1965 bis 1981 lieferte er für die Stasi-Hauptverwaltung A (HVA) als IM „Maler“ politische Einschätzungen zur Situation in seinen Gastländern. Darüber hinaus – so erzählte er es später seinen BND-Konfidenten – musste er für die HVA über jüdische Friedhöfe streifen, um Namen und Biografien zu recherchieren, die Mielkes Auslandsgeheimdienst für Falschidentitäten seiner Agenten verwenden konnte. Eine – wie er es sagte – „ekelige Drecksarbeit“ sei das gewesen, die er auch viele Jahre danach noch immer als beschämend empfand.

    Nach seiner Rückkehr aus dem Auslandsdienst wurde Pampel Sektorenleiter im Außenministerium für Lateinamerika. Aufgrund eines schweren Herzleidens musste er aber im Juni 1984 seine Arbeit aufgeben. Doch auch weiterhin ging er im Außenministerium ein und aus, hielt Vorträge und pflegte den Kontakt mit ehemaligen Kollegen und dem DDR-Außenminister Oskar Fischer, der wie er aus dem Sudetenland stammte.

    „Wäre man nur nach der Kaderakte gegangen, dann hätte man bei ihm einen Parteikarrieristen vermuten können, der stromlinienförmig im System funktionierte“, erinnert sich ein BND-Mitarbeiter, der „Enrico“ kennengelernt hatte.

    „Tatsächlich aber war er ein kritischer, hoch sensibler und beeindruckend intelligenter Mensch mit Idealen, der über ausgeprägte analytische Fähigkeiten verfügte und deshalb politische Vorgänge und Entwicklungen erkennen, einordnen und abschätzen konnte.“

    Was für den BND aber noch schwerer ins Gewicht fiel, waren Pampels außergewöhnliche Informationszugänge. So pflegte er direkte persönliche Kontakte zu wichtigen Personen des SED-Zentralkomitees und gelegentlich sogar zu Angehörigen des Politbüros, wodurch er Einblick hatte in aktuelle Geschehnisse und Diskussionen im Partei- und Staatsapparat. Er hielt Verbindungen in das direkte Umfeld von Honeckers Kronprinz Egon Krenz, den er aus früheren Zeiten sogar persönlich kannte. Eng befreundet war Pampel zudem mit einem Russisch-Dolmetscher, der regelmäßig an Treffen von SED-Funktionären mit hohen sowjetischen Politikern teilnahm.

    „Das politische System der DDR wird implodieren“
    Für den BND war die Quelle „Enrico“ ein Glücksfall. Bis dahin hatte sich der Dienst höchst selten einmal imstande gezeigt, an seine Bonner Auftraggeber substanzielle und hilfreiche Einschätzungen und Analysen zur Lage jenseits der Mauer zu liefern. Tatsächlich wurde das in der Bundesregierung vorhandene Lagebild maßgeblich durch die Analysen geprägt, die von der Ständigen Vertretung Bonns in Ost- Berlin bis in das Jahr 1989 hinein geliefert wurden – die mit der politischen Wirklichkeit in der DDR aber wenig zu tun hatten. Noch zur Jahreswende 1988/89 etwa wurde in diesen Einschätzungen von einem zumindest relativ stabilen SED-Regime gesprochen, dessen Fortbestehen trotz der Wirrnisse auf unabsehbare Zeit nicht zur Disposition stehe.

    Da zeichnete „Enrico“ doch ein ganz anderes, weit realistischeres Bild der Lage. So schätzte er in einem seiner ersten Treffen mit dem BND im März 1989 ein, dass die DDR-Führung sich „schon auf mittlere Frist der Notwendigkeit tief greifender Reformen nicht entziehen“ könne, wie es in einem Bericht der Quelle heißt. Angesichts der desaströsen ökonomischen Lage und immer weiter schwindender Akzeptanz seiner Bürger, gerate das Land in eine stetig sich vertiefende System- bzw. Identitätskrise. „Die Karre rast unaufhaltsam auf die Wand zu“, gab „Enrico“ laut Bericht die Einschätzung führender Mitarbeiter des SED-Zentralkomitees wieder. „Es kann keine ernsthaften Zweifel (daran) geben, dass das politische System (DDR) schon in absehbarer Zeit implodieren wird.“

    Von enormer Bedeutung für Pullach und Bonn waren auch Pampels Einschätzungen zu der Frage, wie sich Moskau im Falle wachsender Proteste in der DDR verhalten und ob die Sowjets bei einer Eskalation der Lage möglicherweise sogar militärisch eingreifen würden. Schon frühzeitig konnte „Enrico“ dazu Inhalte aus den Gesprächen wiedergeben, die Honecker im September 1988 während eines „Arbeitsbesuches“ in Moskau geführt hatte. Demzufolge lehnte Moskau ein Engagement zur Rettung des SED-Regimes ab.

    Geheimrede vor Stasi-Leuten
    Und „Enrico“ lieferte noch mehr: Er berichtete über Hintergründe und Ursachen der dem Westen bis dahin völlig unbekannten Spannungen im Politbüro, im SED-Parteiapparat und zwischen Bezirksparteileitungen und der Ost-Berliner Führung; er lieferte Fakten und Zahlen, die sehr genauen Aufschluss lieferten über den Umfang der Fälschung des Kommunalwahlergebnisses im Mai 1989; sogar zu einer Geheimrede Erich Mielkes vor seinen Stasi-Leuten, in der er die „bewaffneten Organe“ eindringlich auf die Einhaltung ihres Waffeneids einschwor, konnte Pampel, wenn auch nur in allgemeiner Form, berichten. Schließlich gab er noch Interna zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Moskau und Ost-Berlin über die Reformpolitik weiter und vermochte sogar höchst brisante Gesprächsinhalte aus Treffen Gorbatschows mit Honecker und Krenz zu liefern.

    Von „Enrico“ erhielt der BND auch Hinweise auf Aktivitäten einer KGB-Gruppierung namens „Ljutsch“, die seit 1988 Kontakt zu diversen DDR-Funktionären aufgenommen hatte. „In diesem Kontext fielen häufiger die Namen Markus Wolf und Hans Modrow, die als bevorzugte Ansprechpartner Moskaus in der DDR galten“, erinnert sich ein früherer BND-Mitarbeiter, der ebenfalls mit der Quelle befasst war. „Für unseren Dienst bestätigten sich damit Gerüchte über sowjetische Einflussnahmen, von der wir schon zu einem früheren Zeitpunkt im Zusammenhang mit Reisen des KGB-Vize Krjutschkows 1987 nach Dresden und Ost-Berlin erfahren hatten.“ All diese Mosaiksteinchen versetzten den BND in die Lage, im Laufe des Jahres 1989 einen ziemlich realistischen Eindruck von der Dramatik der politischen und wirtschaftlichen Lage im SED-Staat zu gewinnen.

    Was der BND erst später erfährt: Das MfS hatte seine Topquelle „Enrico“ bereits ins Visier genommen, bevor es überhaupt zum ersten Treff in West-Berlin gekommen war. Aus MfS-Unterlagen geht hervor, dass die für Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung II schon am 20. März 1989 – also gut eine Woche vor dem ersten Treff en mit dem BND – einen Operativvorgang gegen Pampel eröffnete. In dem Vermerk zu dem Vorgang mit der Deckbezeichnung „Condor“ heißt es, Pampel stehe „im dringenden Verdacht, geheimdienstliche Verbindungen zum BND zu unterhalten“.

    Keine finanziellen Gegenleistungen für Informationen
    Wie Mielkes Männer auf diesen Verdacht kamen, geht aus den von der Stasi-Unterlagenbehörde freigegebenen Akten nicht hervor. Rätselhaft ist auch, warum die Ost-Berliner Spionageabwehr nicht gegen den Verdächtigen vorging und die Reisen des Invalidenrentners nach West-Berlin nicht unterband. Unterschätzte man seinen Einblick? Spätestens ab April oder Mai 1989 dürfte man jedoch auch bei der HVA aufgemerkt haben. Die Auslandsspionage der Stasi erfuhr zu diesem Zeitpunkt von ihrer langjährigen Spionin Gabriele Gast, die in der Ostblock-Auswertung des BND saß, dass plötzlich Quellenberichte mit der Kennung „Leo I“ und „Leo II“ in Pullach auftauchten, die Details aus dem inneren Führungszirkel der SED enthielten. Der letzte HVA-Chef Werner Großmann bestätigte das später. Dass Pampel dahinter steckte, ahnte man beim MfS aber zunächst nicht – offenbar unterschätzte man dessen Zugangsmöglichkeiten in die Parteispitze.

    Der Pullacher Dienst bedankte sich am Ende dieses schicksalsträchtigen Jahres mit einem Geschenk bei seinem besten Spion, der bis dahin so gut wie keine finanziellen Gegenleistungen für seine Informationen erhalten hatte – Pampel erhielt vom Dienst einen Audi 80, gebraucht allerdings.

    Im Dezember 1990 geriet Pampel mit dem Auto vom BND in einen schweren Verkehrsunfall. Ein Lkw prallte auf das Fahrzeug. Ob alte Stasi-Kader bei dieser Aktion ihre Hände im Spiel hatten, um den „Verräter“ zu bestrafen, bleibt Spekulation. Pampel erlitt infolge des Unfalls einen schweren Schlaganfall, von dem er sich nie mehr erholte. Einige Jahre später verstarb er. Bis heute ist der BND nicht bereit, die Identität seines besten DDR-Spions zu bestätigen.

    #DDR #espionnage