Wie der Mindestlohn noch immer umgangen wird

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    von Sven-Hendrik Hahn (Video), Mario Shabaviz (Text) im Video als Autorin bezeichnet: Asli Özarslan

    Wie der Mindestlohn noch immer umgangen wird
    Mindestlohn - das Wort sagt eigentlich alles. Wer arbeitet, muss in Deutschland mindestens einen bestimmten Betrag bekommen. Wer weniger bekommt, wird betrogen. Und tatsächlich ist das in vielen Branchen immer noch der Fall.

    Beitragslänge:4 min Datum:11.06.2018
    aus: WISO vom 11. Juni 2018

    Verfügbarkeit:
    Video verfügbar bis 11.06.2019, 19:25
    Betrogen um den Mindestlohn – Alltag in Deutschland!?
    8,84 Euro brutto pro Stunde – das ist aktuell der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland. Er ist eine Art untere Schmerzgrenze für die angemesseneEntlohnung von Beschäftigten. Doch seit es den Mindestlohn gibt – eingeführt im Januar 2015, mit damals noch 8,50 Euro/Stunde – versuchen Arbeitgeber auch, ihn zu unterlaufen.

    Branchen, in denen das typischerweise geschieht, sind zumeist auch die klassischen Niedriglohnbranchen: der Handel, das Hotel und Gastgewerbe, das Baugewerbe, das Gesundheits- und Sozialwesen und das Reinigungsgewerbe. Nicht zu vergessen auch etwa der Bereich der privaten Pflege oder das Taxigewerbe. Und besonders oft trifft es generell die geringfügig Beschäftigten.

    Laut einer Befragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bekamen im Jahr 2016 etwa 1,8 Mio. Beschäftigte weniger als den gesetzlichen Mindestlohn. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung kommt in ihren Untersuchungen für das gleiche Jahr sogar auf 2,7 Mio. Beschäftigte, die nicht mindestens die ihnen gesetzlich zustehende Bezahlung erhielten.

    Umgehung in der Praxis

    Doch wie läuft das in der Praxis ab? Da werden Trinkgelder mit in die Bezahlung nach Mindestlohn eingerechnet oder variable Komponenten aufgestellt, deren Erfüllung nicht in der Macht der Beschäftigten liegt. „Beliebt“ ist auch das viel zu knappe Kalkulieren von Arbeitsleistung pro Zeit, etwa eine Vorgabe, wie viele Quadratmeter Fläche pro Zeit oder wie viele Zimmer pro Zeit zu schaffen sind. Wer hier mehr Zeit benötigt, als vorgegeben, muss zur Erfüllung der Vorgabe mehr arbeiten – und das dann oft unentgeltlich. Und wo die Reinigungskraft noch warten muss, bis auch der letzte Gast ausgecheckt hat, entsteht ebenfalls schnell unbezahlte Mehrarbeit. Betrug zu Lasten der Beschäftigten ist aber nur möglich, wenn diese sich nicht zu wehren wissen und wenn oft auch die Verwaltung das üble Spiel mitspielt. Denn ohne Manipulationen bei der korrekten Erfassung der Arbeitszeit/Überstunden und bei deren fairer Bezahlung geht es nicht.

    Anonyme Schilderung über die Praxis

    Wie das konkret ablaufen kann, hat uns eine ehemalige Beschäftigte aus dem Hotelgewerbe geschildert. Sie war für die buchhalterischen Vorgänge dahinter mit zuständig — und genau das bewog sie schließlich auch, deswegen ihren Job aufzugeben. Drei Jahre lang arbeitete Jenny R. * (Name geändert) in einem Hotel einer großen deutschen Stadt. In diese Zeit fiel auch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Hier ihre Schilderung:

    „Mich hat der Mindestlohn in dem Hotel nur indirekt betroffen, da ich als Lohnbuchhalterin leider die Kraft war, die diesen Betrug ausführen musste, was mich dann auch letzlich zur Kündigung bewogen hat. Ich gehörte aber nicht zu den Empfängern vom Mindestlohn. Mit Einführung des Mindestlohnes wurden alle Verträge, die vorher weit unter Mindestlohn waren, neu geschlossen und vom Gehalt auf Stundenlohn geändert. Die Mitarbeiter dachten, sie müssten das unterschreiben. Alles andere hätte wohl auch zur Entlassung in dem Betrieb, zur fristlosen Kündigung geführt.

    Mitarbeitern, die vorher knapp unter Mindestlohn verdienten, wurde das Gehalt auf Mindestlohn angepasst. Zimmermädchen und Servicemitarbeiter, nun plötzlich Stundenlöhner, die bislang auf 30 Stunden angestellt waren, hatten auf einmal nur noch Verträge mit 27,5 Stunden pro 5-Tage- Woche. Begründung war, dass eine halbe Stunde davon ja als Pause abgezogen werden musste.

    Stundenzettel wurden von der Verwaltung geschrieben. Es wurde nur geschaut, an welchen Tagen der Mitarbeiter da war und dann wurde für diesen 5,5 Stunden eingetragen. Die Mitarbeiter haben fast jeden Tag länger gearbeitet. Sie ‚durften‘ dann am Anfang des Folgemonats zum Unterschreiben der monatlichen Stundenzettel antreten.

    Mindestlöhner wurden auch über den Lohn sanktioniert. Ein Roomboy hatte mal nicht ordentlich geputzt — und ihm wurden dann dafür Stunden vom Stundenzettel gestrichen oder gar Urlaubstage abgezogen. Zimmermädchen hatten laut Stundenzettel 9 Uhr Dienstbeginn, das hieß dann aber: ab 9 Uhr anfangen mit der Reinigung. Das Beladen des Wagens davor war aber nicht in der Arbeitszeit mit bedacht.

    Wenn – aufgrund des immer währenden Mangels an Bettwäsche und Handtüchern - auf die Wäscherei bis weit nach der Dienstzeit gewartet werden musste, damit die Zimmer fertig waren, wurde das auch nicht bezahlt. Das Warten wurde dann als ‚lange Pause‘ verkauft. Im Vertrag stand eine Klausel, dass Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis nach drei Monaten verfallen, was nach Mindestlohngesetz auch nicht rechtens ist, aber es wehrte sich ja keiner dagegen. Oft wurden der letzte Lohn und auch restliche Urlaubsansprüche nicht bezahlt.

    Andere Mitarbeiter, die flexibel an sieben Tagen eingesetzt wurden, haben auch neue Verträge bekommen, in denen das ursprüngliche Brutto durch damals 8,50 Euro gerechnet wurde und dann die monatliche Stundenzahl im Vertrag verankert wurde.

    Diese Mitarbeiter hatten dann zwar weiter dasselbe Bruttoeinkommen und die gleiche Arbeit, aber auf dem Papier weniger Stunden — obwohl die locker auf nochmal die Hälfte der bezahlten Stunden extra kamen, die aber einfach unter den Tisch fielen.

    Mitarbeiter der Rezeption hatten Verträge zur 5-Tage-Woche à 8 Stunden. Auch hier wurden dann auf dem Stundenzettel aber 7,5h notiert, also eine halbe Stunde Pause abgezogen, erfasst. Mit Übergabe war man immer über der Dienstzeit. Überstunden wurden gar nicht erst erfasst.

    Wenn ein Rezeptionist 6 Tage arbeiten musste, in der Woche, wurde ihm ein „Gut-Tag“ gutgeschrieben, der aber nach ein paar Monaten verfallen ist, wenn man ihn nicht genommen hat. Wenn der „Gut-Tag“ aber genommen wurde, wurden dann auch nur 4 Tage in der Woche bezahlt. Also - unterm Strich - hatte man dann einen ganzen Tag für den Arbeitgeber kostenfrei gearbeitet. Feiertage wurden gar nicht bedacht. Mit der Begründung: ‚Stundenlohn!! Nur Tage, an denen gearbeitet wird, werden bezahlt.‘"

    Schilderungen rechtlich haltbar?

    Diese Schilderungen haben wir einer Fachanwältin für Arbeitsrecht zugeleitet. Rechtsanwältin Sabine Geilen ist in Leipzig tätig und kennt die gängigen Tricks. Ihre Einschätzung ist eindeutig:

    „Ich halte diese Ausführungen in der Tat für plausibel. Bereits der erste Punkt „Reduzierung von 30 h auf 27,5 h“ ist auffällig. Ich glaube durchaus, dass der Arbeitgeber so vorgegangen ist und die Arbeitnehmer aus Unwissenheit und/oder Angst dies akzeptiert haben. Eine Pause wäre nämlich erst ab einer Arbeitszeit von mehr als 6 h/Tag erforderlich (vgl. § 4 ArbZG). Die von den MA zu erledigenden Aufgaben haben sich aber mit Sicherheit nicht reduziert, so dass sich vermutlich auch die tatsächliche Arbeitszeit nicht reduziert hat.

    "Wo kein Kläger, da kein Richter.“

    Dass der Arbeitgeber bis dahin die Pausen der MA mitbezahlt hat, ist wenig glaubhaft. Natürlich kann ich durch so eine Vertragsgestaltung mit entsprechender monatlicher Quittierung der geleisteten Arbeitsstunden auf diese Weise nach außen darstellen, dass der Mindestlohn eingehalten wird. Entscheidungserheblich ist jedoch, wie lange die Mitarbeiter tatsächlich tätig sind.

    Auch das Beladen des Reinigungs-Wagens durch den Zimmerservice, beispielsweise, ist Arbeitsleistung und muss entsprechend vergütet werden, mithin bei der Erfassung der Arbeitszeit berücksichtigt werden. Das Weglassen der Erfassung dieser Tätigkeiten kann ebenso wie das Nichterfassen der Überstunden zum Unterschreiten des Mindestlohns führen. Aber – wo kein Kläger, da kein Richter.“

    Geringer Kontrolldruck

    Für das Aufdecken und Verhindern solcher Verstöße ist deutschlandweit der Zoll zuständig, genauer gesagt, die „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“. Im vorigen Jahr eröffnete der Zoll auch über 2.500 Ermittlungsverfahren und diese endeten in jedem zweiten Fall auch mit der Zahlung eines Bußgeldes.

    Doch der Kontrolldruck ist - „aus Ganze gerechnet“- nicht sehr hoch. Denn bei einer Gesamtzahl von 2,2 Millionen Betrieben mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wurden in 2017 gerade einmal 2 Prozent aller infrage kommenden Betriebe überprüft. Die Bezahlung nach wenigstens dem gesetzlichen Mindestlohn - sie wird also auch künftig keine Selbstverständlichkeit sein.

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    #Deutschland #Arbeit #Milo #Mindestlohn