Neue linke Bewegung : « Wir wollen Mitglieder der SPD und der Grünen genauso ansprechen wie Parteilose »

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    Sarah Wagenknecht explique la raison d’être d’un nouveau mouvement de gauche.

    Während die Regierung in Berlin in der Krise steckt, arbeitet Sahra Wagenknecht an einer neuen linken «Sammlungsbewegung». Das Projekt hat viele Gegner, weil die Fraktionschefin der Linkspartei sich auch für mehr Polizei einsetzt und Respekt vor Identität und Tradition einfordert.

    Marc Felix Serrao, Berlin 15.6.2018

    Sie wollen mit einer neuen «Sammlungsbewegung» dafür sorgen, dass es in Deutschland wieder eine linke politische Mehrheit gibt, Frau Wagenknecht. Wie weit sind die Pläne gediehen?

    Wir sind weit gekommen und haben sehr interessante Mitstreiter, darunter auch prominente Sozialdemokraten.

    Wen denn?

    Unter anderem den profilierten Agenda-2010-Kritiker Rudolf Dressler (Anm. d. Red.: Dressler, 77, ist früherer Staatssekretär und war von 2000 bis 2005 Botschafter in Israel). Mehr will ich noch nicht verraten. Wir starten im September. Spannend sind übrigens nicht nur die Politikernamen. Unterstützer sind Schriftsteller, Künstler, Wissenschafter und Leute aus der Unterhaltungsbranche. Also viele verschiedene interessante Köpfe, mit denen wir Menschen erreichen wollen, die sich teilweise schon vor Jahren von der Politik abgewandt haben. Das ist der Sinn: Wir wollen eine starke Bewegung aufbauen.

    So wie Emmanuel Macron mit «En marche»?

    Eher wie Jean-Luc Mélenchon und Jeremy Corbyn.

    Wie gross ist Ihre Bewegung?

    Es gibt sie ja noch nicht. Derzeit gibt es knapp 30 prominente Initiatoren. Und jeden Tag erreichen mich Mails von Leuten, die schreiben: «Wir finden das spannend, wir wollen mitmachen.»

    Was genau haben Sie vor?

    Wir fangen als digitale Plattform an, auf der sich jeder als Unterstützer eintragen kann. Unsere Positionen werden wir dann auf allen Ebenen präsentieren, mit witzigen Clips, mit Angeboten auf Facebook und Instagram. Es wird Online-Diskussionen geben, bei denen sich die Leute einbringen können.

    Und offline?

    Wenn es gut läuft, dann werden wir die Bewegung so schnell wie möglich auch in die analoge Welt holen, mit Veranstaltungen, Konferenzen und Strassenaktionen. Ich möchte, dass die Menschen spüren: Da entsteht etwas Neues und Grosses, was die erstarrten politischen Strukturen durcheinanderwirbelt.

    Was ist mit den Positionen? Wird alles basisdemokratisch ausgearbeitet, oder bestimmt der Führungszirkel um Sie und Ihren Ehemann Oskar Lafontaine?

    Bei uns muss sich jeder einbringen können.

    Wann kann es die erste echte Veranstaltung geben?

    Das hängt davon ab, wie schnell wir wachsen. Ich denke, noch im Herbst.

    Wer bezahlt das Ganze eigentlich?

    Wir können zunächst auf Spenden unserer Initiatoren zurückgreifen. Davon abgesehen ist es nicht besonders teuer, eine Website und eine Facebook-Präsenz aufzubauen. Wir haben hochmotivierte Mitstreiter, die digital versiert sind. Sie machen nicht für Geld mit, sondern aus Idealismus.

    Gibt es Vorbilder für die Kampagne im Netz?

    Wir haben uns die «Momentum»-Kampagne angeschaut, die Corbyn fast zum Regierungschef gemacht hat, und wir haben uns «La France insoumise» angeschaut. In Frankreich haben sie übers Internet eine halbe Million Leute organisiert.

    Sind Sie in Deutschland nicht etwas spät dran? Die AfD bespielt die Social-Media-Kanäle bereits sehr erfolgreich – unabhängig davon, was man von ihrer Politik hält.

    Gerade deshalb muss es ein Gegengewicht geben.

    Laut «Bild» kann sich jeder vierte Deutsche vorstellen, eine «Liste Wagenknecht» zu wählen. Welche Rolle werden Sie in der Bewegung spielen?

    Ich freue mich über die Resonanz. Aber das wird keine «Liste Wagenknecht». Wir versuchen, so unterschiedliche Unterstützer wie möglich zu erreichen, weil die Bewegung breit aufgestellt sein soll. Wir wollen Mitglieder der SPD und der Grünen genauso ansprechen wie Parteilose und Menschen, die sich vor Jahren von der Politik abgewandt haben. Vor allem Ärmere haben in unserem Land oft den Eindruck: Die Politiker tun nichts für uns. Laut Umfragen gibt es eine Mehrheit, die sagt: Wir brauchen einen deutlich höheren Mindestlohn, bessere Renten, eine Vermögenssteuer für Multimillionäre, Abrüstung. Weil sie den Eindruck haben, dass sie politisch nicht mehr wahrgenommen werden, wählen viele aus Frust gar nicht mehr, oder aus Wut die AfD.

    Auf Bundesebene gibt es derzeit keine linke Mehrheit. SPD, Grüne und Ihre Partei kommen zusammen auf etwa 40 Prozent. Wenn sie wachsen wollen, dann geht das nur rechts. Stehen deshalb in Ihrem ersten Strategiepapier Forderungen nach mehr Polizei, nach der Wahrung «kultureller Eigenständigkeit» und nach Respekt vor Tradition und Identität?

    Das ist doch nicht rechts!

    Das sehen viele Linke anders.

    Es kann doch nicht sein, dass sich Menschen von uns abwenden, weil sie glauben, wir nähmen das Thema Sicherheit nicht ernst. Sicherheit – im Kern soziale Sicherheit – ist eine urlinke Forderung. Reiche brauchen keine gut ausgestattete Polizei, sie können sich Hightech-Warnanlagen und sogar private Sicherheitsdienste leisten. Aber wer in einem schwierigen Viertel wohnt, wer auch nachts auf die S-Bahn angewiesen ist, der muss sich sicher fühlen können.

    Linke, die postnational ticken, werden vor allem Ihr Kultur- und Identitätsschutzprogramm gruselig finden.

    Wenn man so tut, als gäbe es keine kulturellen Identitäten, macht man sich etwas vor. Ich finde, es ist ein Riesenfortschritt, dass viele Menschen sich heute nicht nur als Deutsche, Franzosen oder Spanier, sondern auch als Europäer fühlen. Das gab es vor hundert Jahren nicht. Trotzdem gehören das eigene Land und auch die Heimatregion für die meisten zur Identität. Nationalismus bedeutet, dass sich Menschen einbilden, sie seien aufgrund ihrer Nationalität etwas Besseres, dass andere Kulturen abgewertet werden.

    Das tut selbst die Identitäre Bewegung nicht. Die plädiert allerdings dafür, dass Europas Völker möglichst homogen sein sollen. Ist das nicht nah dran an Ihrer Identitätspflege?

    Unsinn. Die Rechten definieren Identität in erster Linie genetisch, nicht kulturell. Da geht es um Blut und Boden, um biologische Ursprünge. Das ist Rassismus, den jeder vernünftige Mensch ablehnen muss.

    Welche kulturelle Identität der Deutschen wollen Sie bewahren?

    Beispielsweise hat es die Sprache Goethes und Thomas Manns nicht verdient, im anglizistischen Neusprech unterzugehen. Zur kulturellen Identität eines Bayern gehört meist zugleich, dass er Bayer ist. Zumindest bei den Älteren gibt es noch eine ostdeutsche Identität. Es gibt vielfältige kulturelle Einflüsse, die einen Menschen prägen und dazu führen, dass er sich in einem bestimmten Umfeld zu Hause fühlt. Daran ist nichts reaktionär.

    Wo sind Sie kulturell zu Hause?

    Ich lebe seit sieben Jahren im Saarland, das ist stark französisch geprägt. Savoir-vivre, gutes Leben, gutes Essen, das ist den Saarländern wichtig, und das finde ich sehr sympathisch. Auch deshalb kritisieren wir – Achtung, urlinke Forderung – den entfesselten Kapitalismus, der Traditionen und Bindungen zerstört, indem er die Menschen zwingt, ständig den Arbeitsplätzen hinterherzuziehen. Oder denken Sie an die Konzerne, die unsere Innenstädte uniformieren. Wo früher der originelle kleine Laden stand, steht heute die Starbucks-Filiale.

    Mit Verlaub, das ist doch ein Zerrbild. Das Rückgrat der deutschen Wirtschaft sind kleine und mittelständische Betriebe, die es oft seit vielen Generationen gibt. Diese Firmen entwurzeln niemanden, sondern gehören selbst zum Wurzelwerk ihrer Heimatorte.

    Das ist ja auch gut so. Aber die kleinen Unternehmen werden politisch nicht gefördert, ihnen wird das Leben schwergemacht. Und durch die Agenda 2010, durch Hartz IV und den grossen Niedriglohnsektor stehen viele Menschen unter extremem Druck. Viele pendeln. Dazu kommen lange Arbeitstage und Sonntagsarbeit. Immer mehr Menschen werden krank durch den Stress. Viel zu wenige haben noch Zeit, ins Theater zu gehen oder ein gutes Buch zu lesen.

    Aber Zeit, um stundenlang Netflix zu gucken, haben viele.

    Das hat doch auch etwas mit Stress zu tun. Ich kenne das von mir selbst. Manchmal bin ich abends auch nur noch in der Lage, mir den banalsten Unterhaltungsfilm reinzuziehen.

    Stress haben Sie zurzeit wirklich. Die Sammlungsbewegung hat in Ihrer Partei viele Gegner. Ihnen wird vorgeworfen, rechts zu blinken. Wie wollen Sie die Kritiker überzeugen? Geht das überhaupt noch?

    Ich will mehr Menschen für soziale Politik erreichen. Ich will, dass niemand das Gefühl hat, dass wir sein Bedürfnis nach Sicherheit und einem planbaren Leben spiessig finden. Das ist kein «blinken nach rechts», sondern vernünftige Politik.

    Haben sich Deutschlands linke Parteien zu sehr auf die urbane Mittelschicht konzentriert?

    Im Wahlkampf hatte ich meine besten Veranstaltungen in urbanen Zentren und an Universitäten. Aber auch da interessieren sich die Menschen vor allem für die soziale Frage. Nein, es ist kein Widerspruch. Man kann beide Gruppen ansprechen. Aber auf die Ärmeren und Abstiegsgefährdeten müssen wir uns konzentrieren. Eine Linke, die hier ihren Rückhalt verliert, hat keine Zukunft.

    Die akademische Linke befasst sich heute vor allem mit Identitätspolitik. Es geht um Minderheitenschutz, Gender-Mainstreaming und den Kampf gegen «alte weisse Männer».

    Minderheitenschutz ist wichtig. Aber das entscheidende Thema ist der Kampf gegen ökonomische Ungleichheit. Es ist unsere Aufgabe, uns für die Verlierer der kapitalistischen Globalisierung einzusetzen, und nicht, sie zu diffamieren.

    Nehmen wir an, der Handelskrieg mit Amerika eskaliert und die deutsche Autoindustrie muss die Produktion drosseln und Mitarbeiter entlassen. Diese Leute werden Sie mit Appellen für Gendersternchen vermutlich nicht nur nicht erreichen, sondern abschrecken.

    Zu Recht. Dass die Rechten in vielen Ländern Europas wieder stark sind, ist auch ein Versagen linker Politik. Dabei geht es anders. Podemos in Spanien erreicht Ärmere ebenso wie Studenten, bis jetzt gibt es dort keine nennenswerte Rechte. Mélenchon hat den Front national in Frankreich in die Defensive gebracht. Und Corbyn hat Ukip pulverisiert. Dort, wo sich die Linke auf die soziale Frage konzentriert und die untere Hälfte der Bevölkerung erreicht, kann sie die Rechten an den Rand drängen. Die AfD hätte nie die Chance gehabt, in den Bundestag einzuziehen, wenn SPD und Linke nicht den Zugang zu den Ärmeren verloren hätten.

    Ist es ein Fehler vieler Linker, AfD-Anhänger als «Nazis» zu bezeichnen?

    Ich kenne selbst Menschen, die vor ein paar Jahren noch die Linke gewählt haben und ihre Stimme nun aus Wut und Frust der AfD geben. Sie haben den Eindruck, dass alle anderen Parteien ihre Probleme kleinreden. Wer diese Menschen als Nazis diffamiert, hat nichts begriffen. Der Begriff sollte echten Rassisten und Antidemokraten vorbehalten bleiben.

    Zum Beispiel?

    Herrn Höcke kann man wohl so bezeichnen. Und bei anderen AfD-Politikern ist zumindest auffällig, wie offen sie daran arbeiten, die deutsche Geschichte umzuschreiben und die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren.

    Es gibt in rechtsintellektuellen Kreisen eine Reihe Leute, die Sie schätzen. Die verstehen sich selbst als linke Nationalisten und träumen von einer «Querfront».

    Wer Nationalismus predigt, mit dem will ich nichts zu tun haben.

    Dann schauen wir nach vorne. Angenommen, Sie haben Erfolg und irgendwann Hunderttausende Anhänger: Wann gründen Sie eine eigene Partei?

    Das würde die Bewegung schwächen, weil alle, die schon ein Parteibuch besitzen, aussteigen müssten. Nein, das ist nicht der Weg.

    Sie bleiben definitiv in der Linkspartei?

    Es geht mir nicht darum, meine Partei zu schwächen, sondern darum, die Möglichkeiten für soziale Politik in Deutschland zu vergrössern. Und auch eine Bewegung kann in Deutschland bei Wahlen kandidieren: wenn eine Partei ihre Listen für sie öffnet, um von ihrem Schwung mit zu profitieren.

    Die nächsten Wahlen könnten schneller kommen als gedacht. In der grossen Koalition knirscht es gewaltig.

    Ja. Warten wir es ab.

    Dann bleibt noch die Frage nach dem Namen. Stimmt es, dass Ihre Bewegung «Fairland» heissen soll?

    Nein, nein. Das war nur einer von vielen Vorschlägen.

    Klingt wie eine neue Biosupermarktkette.

    Deshalb war es auch nie mein Favorit.

    #Allemagne #politique #gauche