• Berliner Obdachlosenmagazin: Ende des „Strassenfegers“ ist beschlossene Sache | Berliner Zeitung
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    Wech issa, aber der nächst kommt bestimmt. Den jeibbet erstmal janz ohne Geld. Und dann sehnwamal.

    Diesmal gibt es nur einen Zettel. Keine druckfrischen Hefte, die sich in der Abholstelle des „Strassenfegers“ stapeln. Normalerweise hätte in dem Wohnwagen am Ostbahnhof die neue Ausgabe der Straßenzeitung liegen müssen, so wie es alle drei Wochen üblich ist.

    Auf dem Zettel steht nun ein Hinweis, dass es diesmal keine neue Ausgabe gibt. Ob und unter welchen Bedingungen jemals noch einmal ein „Strassenfeger“ erscheint, ist unklar.

    Sitzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit
    Am Montagabend ließ der Vorstand des gleichnamigen Trägervereins die Mitglieder über die betriebsbedingte Schließung des Blatts abstimmen. Die Sitzung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit in den Vereinsräumen an der Storkower Straße statt, immer wieder drangen hitzige Zwischenrufe auf die Straße – vor allem, als ein Steuerexperte die finanzielle Schieflage des „Strassenfegers“ vorrechnete. Gleichzeitig legte er jedoch dar, dass der Verein 2017 insgesamt ein Plus erwirtschaftet habe, erzählte ein wütender Teilnehmer während einer Pause.

    Gegen 22 Uhr stand das Ergebnis fest: 16 Mitglieder stimmten für das vorläufige Ende des „Strassenfegers“ aus wirtschaftlichen Gründen, neun Personen waren dagegen.

    Auch der Obdachlosentreff „Kaffee Bankrott“ soll schließen. Der Verein will aber gleichzeitig seine Notunterkunft ausbauen, für die er die höchsten Zuschüsse von der Stadt bekommt.

    Bereits im Vorfeld hatte der Verein die Senatsverwaltung für Soziales über die Schließung informiert. „Wir bedauern den Schritt sehr“, sagte Sprecherin Regina Kneiding zur Berliner Zeitung. Sie betonte den großen Beitrag, den der „Strassenfeger“ zum Zusammenleben in der Stadt geleistet hat. 

    „Gäbe es den ’Strassenfeger’ nicht, wäre ich schon tot“
    Seit 24 Jahren ist die Zeitung für Obdachlose und Arme ein Anker. Das Blatt, das auf das doppelte „s“ im Namen besteht, schützt Menschen, die schon ganz unten sind, vor dem Abdriften ins Bodenlose.

    Es sind Menschen wie Petra E. „Gäbe es den ,Strassenfeger’ nicht, wäre ich schon tot“, sagt sie. Petra E. verkauft Zeitungen am Hauptbahnhof, seit 14 Jahren steht sie fast jeden Tag am Washingtonplatz. Sie war jahrzehntelang heroinabhängig, heute ist sie 59 Jahre alt und clean.

    Sie lebt in einem betreuten Wohnprojekt. „Die Hefte geben meinem Alltag eine Struktur“, sagt sie. „Ich kann nicht fassen, dass es das nun gewesen sein soll.“ Das Aus der Straßenzeitung ist das abrupte Ende einer Berliner Institution im Kampf gegen die Not. 

    Zweifel am Konzept
    Wie Petra E. sind viele Verkäufer, Ehrenamtliche und Mitglieder schockiert. Fast alle, die am Montagabend aus der Sitzung kommen, erzählen, erst kürzlich von den Plänen erfahren zu haben.

    „Vor drei Wochen hat uns der Vorstand gesagt, dass die Zeitung eingestellt wird“, sagt Helmut Cladders, der seit 13 Jahren ehrenamtlich das Heft an Verkäufer ausgibt. „Es kann doch nicht wahr sein, dass die Lage urplötzlich so schlecht ist. Noch auf einer Versammlung im November fiel kein Wort von finanzieller Schieflage.“ Erst vor zwei Monaten hat der Verein einen Redaktionsleiter eingestellt.

    Doch die Auflage bereitet den Machern schon lange Sorge. Schon mehrmals äußerte der Vorstand Zweifel. „Wir haben einen stetigen Auflagenrückgang und haben die Erscheinung von zwei- auf dreiwöchentlich umgestellt. Der ,Strassenfeger’ rechnet sich nicht mehr“, sagte die Vorstandsvorsitzende Mara Fischer Anfang 2017 zur Berliner Zeitung. Am Montag wollte sie sich auf Anfrage nicht äußern.

    Etwa 10.000 bis 12.000 Exemplare setzt der „Strassenfeger“ aktuell ab. Vor ein paar Jahren waren es zwar noch über 20.000, doch lag man auch schon bei 8000. Die harte wirtschaftliche Messlatte irritiert viele Vereinsmitglieder – ist das Ziel des Blattes doch, Einnahmen für Obdachlose und Arme zu generieren. Jedes Heft kostet 1,50 Euro, 90 Cent gehen an die Verkäufer. 

    Konkurrenz unter dem Ärmsten
    Dass die Zeitung frühere Auflagenrekorde nicht mehr erreicht, liegt laut Helmut Cladders nicht an sinkender Hilfsbereitschaft in der Stadt. Er macht dafür kriminelle Banden aus Osteuropa verantwortlich, die die Zeitung missbrauchen. „Sie schicken Menschen mit nur einer Zeitung zum Betteln in die U-Bahnen. Das belästigt potenzielle Kunden.“

    Vor zwei Jahren stattete der Verein seine Verkäufer deswegen mit Westen aus, so waren sie als eingetragene und echte Händler erkennbar. Doch weil sich manche gebrandmarkt fühlten, ist das Tragen der Weste heute wieder freiwillig. Petra E. rät, Verkäufer von Straßenzeitungen immer nach ihren Ausweisen zu fragen. Den bekommt, wer keine Drogen nimmt, nicht bettelt und Rückgeld anbietet.

    Petra E. beschreibt die Konkurrenz unter den Ärmsten als knallhart. „Am Hauptbahnhof setzen die Osteuropäer die Verkäufer der Zeitungen unter Druck, auch mit Gewalt. Sie wollen das Revier zum Betteln für sich.“ Petra E. wird nun eine neue Methode brauchen, um zu bestehen. Genau wie die etwa 250 bis 500 anderen Verkäufer. Dass der Strassenfeger von einem anderen Träger weiter betrieben werden könnte, glauben am Montagabend die wenigsten.

    Berlin #Wirtschaft #Obdachlosigkeit