Cassis will bei der Schweizer Entwicklungshilfe durchgreifen – bei den Parteien gehen die Erwartungen auseinander

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  • Warum es schwierig ist, Entwicklungshilfe und Migrationspolitik zu verknüpfen

    FDP-Aussenminister Ignazio Cassis will die Entwicklungszusammenarbeit mit migrationspolitischen Zielen verknüpfen. Künftig sollen vermehrt die Interessen der Schweiz im Zentrum stehen und nicht mehr in erster Linie die Solidarität. Bis anhin hatte die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit per Gesetz die weltweite Reduktion von Armut zum Ziel. In Länder investiert wurde gemäss dem Human Poverty Index. Neu aber soll das Geld dorthin fliessen, wo die Migrationsbewegungen herkommen. Die Menschen sollen direkt vor Ort Perspektiven erhalten, damit sie in ihrer Heimat bleiben und nicht nach Europa und in die Schweiz kommen.

    Was plausibel klingt, ist in der Praxis jedoch nicht immer einfach umzusetzen. Dies zeigt das Beispiel Eritrea, das Hauptherkunftsland der Asylsuchenden in der Schweiz. Auf Druck von SVP, FDP und CVP hat die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit des Bundes (Deza) ihr Engagement dort 2017 versuchsweise wieder aufgenommen. Dies, nachdem sie sich 2006 zurückgezogen hatte, weil die Regierung ihre Arbeit behinderte. In der Zwischenzeit wurden die Friedensbemühungen zwischen Eritrea und Äthiopien zwar vorangetrieben. Doch die Menschenrechtslage in dem kleinen Land am Horn von Afrika bleibt weiterhin unklar.
    Das Ziel heisst Rückübernahme

    Nicht nur die Schaffung von Perspektiven müsse das Ziel des Engagements in Eritrea sein, sagen die Bürgerlichen. Es solle dadurch auch – oder vor allem – Vertrauen aufgebaut und ein Rückübernahmeabkommen erwirkt werden.

    Die zwangsweise Rückübernahme im Herkunftsstaat von Personen mit irregulärem Aufenthaltsstatus ist für die Schweiz deshalb so wichtig, weil ihre Asylpolitik ohne eine solche nicht konsequent umgesetzt werden kann: Menschen, die auf Schutz angewiesen sind, sollen diesen Schutz in der Schweiz erhalten. Menschen, die nicht auf Schutz angewiesen sind, sollen die Schweiz hingegen rasch wieder verlassen.

    Das Herkunftsland muss dafür allerdings kooperieren. Bei Eritrea ist dies nicht der Fall: Präsident Isaias Afewerki, der von der Uno als Diktator bezeichnet wird, nimmt seine Landsleute nur zurück, wenn diese aus freien Stücken heimkehren. Aussenminister Ignazio Cassis räumte während der Frühjahrssession im Parlament denn auch ein: «Der Bundesrat ist willens, alles zu unternehmen. Aber es ist eine Tatsache, dass Eritrea dazu nicht bereit ist.» Die diplomatische Präsenz der Schweiz hat daran bisher nichts geändert.

    Elisabeth Schneider-Schneiter, CVP-Nationalrätin und Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission, zeigt sich dennoch zuversichtlich: Entwicklungshilfe müsse dort geleistet werden, wo die «Migrationsströme» entstünden. «Das ist der richtige Weg.» Das Beispiel Eritrea zeige, dass diese Verknüpfung künftig gelingen könne.
    Zu zerrüttet für Entwicklungshilfe

    Schneider-Schneiter ist der Ansicht, dass die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit einen Einfluss auf die Friedensbemühungen haben kann. Ein gefestigter Frieden könnte schliesslich zur Folge haben, dass die Migration aus Eritrea abnehme, weil mit dem Frieden auch die Legitimation für den «Nationaldienst», der willkürlich verlängert werden kann, wegfallen würde. Dieser wird bei den meisten Eritreern als Fluchtgrund aufgeführt. «Wichtig ist, dass auch die umliegenden Staaten einbezogen werden», sagt Schneider-Schneiter. Voraussetzung sei dazu aber der Wille zur Zusammenarbeit bei den jeweiligen Regierungen.

    Genau dieser Wille zur Zusammenarbeit ist jedoch häufig die Crux. So sagt Peter Niggli, Experte für Entwicklungszusammenarbeit und pensionierter Geschäftsleiter von Alliance Sud, der entwicklungspolitischen Organisation sechs grosser Schweizer Hilfswerke, es ergebe keinen Sinn, sich ausschliesslich auf jene Staaten zu fokussieren, aus denen die Menschen flöhen, denn diese seien in der Regel so zerrüttet, dass eine Entwicklungszusammenarbeit nicht möglich sei. Als Beispiele nennt Niggli neben Eritrea vor allem Länder wie Somalia, den Irak, Afghanistan oder Syrien.
    Die Kooperation mit Toni Locher

    Einen Mann gibt es allerdings, der mit der eritreischen Regierung zusammenarbeiten kann – beziehungsweise mit dem die eritreische Regierung zusammenarbeiten will: Es ist der umstrittene Honorarkonsul des Staates Eritrea in der Schweiz, Toni Locher, der gemeinhin als guter Freund Afewerkis bekannt ist. Der Frauenarzt aus Wettingen gründete während des eritreischen Unabhängigkeitskriegs in den 1970er Jahren das Unterstützungskomitee für Eritrea (Suke) – eines der letzten im Land verbliebenen Hilfswerke. Die Deza unterstützt ein Berufsbildungsprojekt des Suke mit 1,31 Millionen Franken über zwei Jahre. Das Projekt wird in der Hafenstadt Massawa von der eritreischen Gewerkschaft NCEW mithilfe von Schweizer Berufsbildungsexperten realisiert. Locher sagt: «Die Entwicklungszusammenarbeit zwischen der Schweiz und Eritrea ist eine Erfolgsgeschichte.»

    Locher war als junger Mann in der linksradikalen Revolutionären Aufbauorganisation Zürich tätig, wo er sich insbesondere im «anti-imperialistischen Bereich» engagierte. Während sich seine Mitstreiter über die Jahre hinweg von Präsident Afewerki distanzierten, hielt ihm Locher bedingungslos die Treue. Heute geniesst der Aargauer praktisch die Deutungshoheit, wenn es um die Einschätzung der Lage in Eritrea geht, wobei er das eritreische Regime regelmässig verteidigt, die hohe Schutzquote in der Schweiz hingegen kritisiert. Damit stärkt er den Bürgerlichen den Rücken.

    Der bei der Deza für die Abteilung Ostafrika zuständige Gerhard Siegfried erklärt die Zusammenarbeit mit Locher und dem Suke folgendermassen: Die Deza habe vom Bundesrat die Auflage bekommen, «möglichst schnell» ein Pilotprojekt im Bereich der Berufsbildung zu realisieren. Da sei das bereits bestehende Suke «aus pragmatischen Gründen» ein «gangbarer Weg» gewesen. Dem politischen Druck möchte er sich nicht verweigern. Siegfried sagt: «Das Parlament operiert aus innenpolitischen und globalen Realitäten heraus.» Es habe keinen Sinn, in der Argumentation der 1970er Jahre verhaftet zu bleiben. Deza-Mitarbeiter der alten Schule hingegen bezeichnen das Engagement dem Vernehmen nach als «Schnapsidee».
    Eritreisches Projekt mit ungewisser Zukunft

    Bis 2019 soll die entwicklungspolitische Initiative in Eritrea evaluiert werden. Danach wird der Bundesrat über einen Ausbau oder eine Einstellung des Engagements entscheiden. Für das weitere Vorgehen dürfte allerdings nicht nur ausschlaggebend sein, ob die Kurse durchgeführt und die Absolventen nach ihrer Berufsbildung eine Anstellung erhalten werden, sondern auch, wie sich die Beziehungen zwischen der Schweiz und Eritrea entwickeln werden. Darauf wird auch Locher keinen Einfluss haben – Freundschaft zu Afewerki hin oder her.

    Im Parlament setzte der Aargauer SVP-Nationalrat Andreas Glarner Bundesrat Cassis vergangenen März jedenfalls bereits wieder unter Druck. Er wollte von Cassis wissen, ob dieser denn bereit wäre, die Entwicklungshilfe «per sofort» einzustellen, wenn das Regime in Sachen Rückübernahmeabkommen nicht kooperieren sollte. Ja, das wäre er allenfalls, sagte Cassis. Möglicherweise etwas voreilig sprach der Aussenminister bereits in der Vergangenheitsform: Das Pilotprojekt sei ein Versuch «gewesen».

    https://www.nzz.ch/schweiz/warum-es-schwierig-ist-entwicklungshilfe-und-migrationspolitik-zu-verknuepfen-ld
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    • Cassis will bei der Schweizer Entwicklungshilfe durchgreifen – bei den Parteien gehen die Erwartungen auseinander

      Aussenpolitiker wie Elisabeth Schneider-Schneiter kritisieren die Schweizer Entwicklungshilfe scharf. Die Zuständigen weigerten sich konsequent, Migration zum Thema zu machen. Die Migrationswelle sei ein Resultat davon. Aussenminister Ignazio Cassis will nun durchgreifen.

      Kurz nach seinem Amtsantritt verglich der Aussenminister Ignazio Cassis die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) wegen ihrer Grösse mit der Armee. Die Beamten reagierten beleidigt, die Presse berichtete, doch Cassis liess sich nicht beirren. Wenig später kündigte er an, die Aktivitäten in der Deza kritisch zu überprüfen. Im Fokus stehe dabei nicht das Budget, sondern die Ausrichtung: Entwicklungshilfe müsse auch den Interessen der Schweiz dienen. Dieser Satz genügte bereits für den nächsten Sturm im Wasserglas: Hilfsorganisationen wie Alliance Sud und die ihnen politisch zugewandten Orte zeigten sich irritiert. Auslandhilfe habe nicht Eigeninteressen zu dienen, sondern den Armen und Vertriebenen dieser Welt.
      Kein einziger Arzt im Deza

      Seither ist noch mehr Bewegung in die Sache gekommen. An der Botschafter- und Aussennetzkonferenz, die Anfang dieser Woche in Basel stattfand, hat Cassis seine Reformpläne bekräftigt. Die Anträge des Bundesrats zur Auslandhilfe für die Jahre 2021 bis 2024 dürften nicht mehr einfach mit Ach und Krach durchs Parlament kommen, sagte er. Sie müssten in beiden Kammern eine gute Mehrheit auf sich vereinigen: «Das heisst: Wir müssen die Wünsche des Parlaments antizipieren und nicht mit business as usual weitermachen. Die Botschaft des Bundesrats muss stärker auf die Interessen der Schweiz ausgerichtet werden, unter anderem auch im Bereich Migration.»

      Wen er genau meint, wenn er von einer guten Mehrheit spricht, liess Cassis offen. Es ist aber offensichtlich, dass er die von den Bürgerlichen seit langem vorgebrachte Kritik ernst nimmt. Die Deza mit ihren 650 Vollzeitstellen und ihrem Milliardenbudget ist ihnen schon lange ein Dorn im Auge. Sie gilt als in jahrzehntealten Strukturen festgefahren und zu stark verzahnt mit dem Netzwerk von NGOs, die sie unterstützt.

      Toni Stadler, der unter Bundesrätin Micheline Calmy-Rey die Deza-Abteilung Analyse und Politik leitete, schrieb kürzlich in einem vielbeachteten Beitrag in der NZZ, das Engagement für weniger Ungleichheit zwischen Arm und Reich werde heute selbstzufrieden verwaltet. Manche der Deza-Schwerpunktländer in Ostasien, Lateinamerika und in der Karibik seien Relikte aus alten Zeiten. Die Schweizer Auslandhilfe würde sich besser auf Regionen konzentrieren, aus denen die meisten Armutsflüchtlinge herkämen, und sich dort an Aufbau- und Stabilisierungsprojekten beteiligen, etwa in Afrika. Und überhaupt brauche es unter den Projektleitern beim Bund ganz andere Personalprofile: In den vergangenen Jahren seien zu viele Geistes- und Sozialwissenschafter auf Entwicklungsberufe umgestiegen. Heute arbeite in der Deza kaum jemand mit Managementerfahrung und nicht einmal ein einziger Arzt.

      In den Aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat, wo das Entwicklungshilfeprogramm 2021 bis 2024 in den Grundzügen bereits vorgestellt worden ist, sorgen Cassis’ Pläne sowohl für Irritation als auch für Hoffnung. Während die linken Parteien skeptisch bis ablehnend reagieren, macht sich in den Reihen der Bürgerlichen so etwas wie verhaltene Aufbruchstimmung bemerkbar. SVP, FDP und CVP kritisieren seit Jahren, dass die strategischen Ziele des Bundesrats für die Entwicklungshilfe so weit gefasst sind, dass sie von Armutsbekämpfung bis zur Pflege einheimischer Kulturen alle möglichen Aufgaben abdecken. Einen Fokus auf wirtschaftliche Interessen oder die innenpolitischen Herausforderungen, welche die Massenmigration nach Europa mit sich bringt, sucht man in der 450 Seiten umfassenden Botschaft allerdings vergebens. Dafür muss die Deza in ellenlangen Wirkungsberichten rapportieren, ob Projekte geschlechtergerecht umgesetzt wurden. Aussenpolitiker wie der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller fordern deshalb schon lange mehr Effizienz. Zudem sei die Entwicklungshilfe stärker mit der Wirtschaftszusammenarbeit zu verknüpfen.
      Konsequente Verweigerung

      Der fehlende strategische Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen der Flüchtlingskrise ärgerte die CVP dermassen, dass sie das Papier vor zwei Jahren an den Bundesrat zurückweisen wollte. Ihr Antrag fand aber keine Mehrheit, weshalb sich die Partei schliesslich mit einer unwirschen Medienmitteilung begnügte. In den Augen von CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter zielt Cassis mit seiner Neuausrichtung deshalb in die richtige Richtung. Die Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats war 2016 massgeblich an der Rückweisung der Botschaft beteiligt. Bei der Entwicklungszusammenarbeit sei bisher vor allem finanzpolitisch argumentiert worden, sagt sie. Dass Cassis keine Verknappung der Mittel, sondern eine Fokussierung auf die Themen Migration und wirtschaftliche Zusammenarbeit angekündigt habe, entspreche genau der Forderung der CVP. Die Migrationswelle aus Afrika sei das Resultat einer einseitigen Entwicklungshilfe-Maschinerie, welche sich konsequent weigere, Migration in ihrem Programm zum Thema zu machen. Schneider-Schneiter will nun entsprechende Anträge in die Kommission einbringen. Soll die Neuausrichtung der Entwicklungshilfe ab 2021 gelingen, müssen die beratenden Kommissionen jetzt damit beginnen.

      Skeptischer, aber deutlich weniger kritisch als auch schon tönt es bei der SVP: Er erwarte und hoffe, dass Ignazio Cassis wenigstens in diesem Bereich den Reset-Knopf finde, sagt der SVP-Aussenpolitiker Roland Büchel in Anspielung auf den Neustart, den der Aussenminister in der Europapolitik versprochen hat. Immerhin habe Cassis den Mut aufgebracht, die Defizite in der Flüchtlingshilfe offen anzusprechen. «Ich begrüsse die verstärkte Fokussierung auf Migration. Dass diese jedoch geeignet ist, in der Auslandhilfe breitere politische Allianzen zu schmieden, bezweifle ich», sagt der St. Galler Nationalrat. Wahrscheinlicher sei eine Verschiebung der politischen Gewichte nach rechts.


      https://www.nzz.ch/schweiz/ignazio-cassis-macht-ernst-mit-der-reform-der-entwicklungshilfe-ld.1413939