• Google Campus: Immer Ärger mit den Nachbarn | ZEIT ONLINE
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    Google wollte in Berlin ein altes Umspannwerk zum Start-up-Campus umbauen. Aktivisten hatten was dagegen. Jetzt ziehen dort Sozialprojekte ein. Und wer hat nun gewonnen?
    Eine Reportage von Henrik Oerding - 11. November 2018

    Für ein Zentrum der Innovation ist es hier ziemlich verstaubt. Bauarbeiter hämmern und bohren, Kabel ragen aus unverputzten Wänden, Glaswolle steht in dicken Rollen herum. Jörg Richert – groß, sportlich, lange Schritte – schlängelt sich zwischen Baumaterial hindurch. Mit Teilen seiner Organisation Karuna Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not e. V. wird Richert im kommenden Jahr hier einziehen, ins alte Umspannwerk in Berlin-Kreuzberg. Karuna wird Untermieter. So weit, so unspektakulär.

    Doch weil der Hauptmieter aus dem Silicon Valley stammt und das hier eben Kreuzberg ist, wo einst alternative Lebensmodelle erprobt wurden und ein bisschen auch die Weltrevolution im Kleinen, geht es bei der Sanierung des Umspannwerks um mehr als bloß die Frage, was aus einer ehemaligen Industrieanlage wird. Im Silicon Valley wird ja unentwegt die Zukunft erdacht. In Kreuzberg können manche ganz gut auf die des Valleys verzichten, hat sich in den vergangenen zwei Jahren gezeigt.

    Die 1990 gegründete Sozialgenossenschaft Karuna kümmert sich mit ihren diversen Einrichtungen in ganz Berlin um Kinder und Jugendliche, die von Armut oder Obdachlosigkeit betroffen sind. Im Umspannwerk am Paul-Lincke-Ufer soll künftig unter anderem die Redaktion der Straßenzeitung Karuna Kompass arbeiten. „Als wir vor ein paar Monaten gerade die Zeitung herausgebracht haben, habe ich gedacht: Wir brauchen mehr Platz“, sagt Jörg Richert, der Mitgründer und Geschäftsführer von Karuna ist. „Und dann habe ich einfach mal bei Google angerufen.“

    Nicht die gewöhnlichste Idee für eine Berliner Sozialeinrichtung in freier Trägerschaft. Doch weil Karuna zuvor den Google-Förderwettbewerb „Impact Challenge“ zweimal gewonnen hatte, hatte Richert einen guten Kontakt zu dem Unternehmen aus Mountain View in Kalifornien. Der Anruf hat sich gelohnt: Google sagte zu, Karuna könne ins Umspannwerk einziehen.
    „Heimat für wachsende Start-ups“

    Als Gebäude war das eigentlich schon immer zu schön für seinen ursprünglichen Zweck: ein riesiger expressionistischer Backsteinbau, errichtet in den Zwanzigerjahren, eine „Kathedrale der Elektrizität“, wie man damals sagte. Architektonisch so interessant, als sei der viel spätere Einzug hipper Kreativunternehmen schon vor 100 Jahren geplant worden. Inzwischen gehört der Bau dem britischen Immobilienfond Avignon Capital, der von sich sagt, er habe sich „der Wertsteigerung mit kundenorientierten, innovativen und umfassenden Lösungen“ verschrieben. Passend dazu gehören Red Bull, eine Eventlocation und ein schickes Restaurant bereits zu den Mietern. 3.000 Quadratmeter aber sind noch frei.

    Die sollten Start-ups beziehen. Ein Google Campus sollte in Kreuzberg entstehen, der siebte auf der Welt nach den bereits bestehenden in London, Madrid, São Paulo, Seoul, Tel Aviv und Warschau. „Mit dem Google Campus wollen wir unternehmerische Initiative und Gründergeist fördern“, sagt Ralf Bremer, Pressesprecher von Google Deutschland. „Die Gründerszene vor Ort kann sich dort treffen und organisieren.“

    Eine „Heimat für wachsende Start-ups“ sollte der Berliner Campus werden, Google wollte diese in einem Mentorenprogramm begleiten. Das waren die Pläne, die das Unternehmen Ende 2016 für Kreuzberg öffentlich machte. Höchstens zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Google sollten mit einziehen. Es sollte Coworkingbereiche geben, außerdem ein Café. „Starke Gemeinschaft, starker Kaffee“, schreibt Google auf seiner Homepage.

    Jörg Richert von Karuna. Für sein Engagement für Kinder und Jugendliche hat er bereits das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. © Jakob Weber für ZEIT ONLINE

    Unter der Glasdecke des geplanten Cafés steht nun Jörg Richert, schaut nach oben und sagt: „Jetzt werden wir hier Workshops abhalten.“

    Denn es wird kein Google-Café geben und keinen Google Campus, das alte Umspannwerk wird auch keine „Heimat für wachsende Start-ups“ werden. Stattdessen ziehen gemeinnützige Organisationen und Projekte ein. Richert sagt: „Vor ein paar Monaten fragte uns Google: ’Könnt ihr euch auch vorstellen, das ganze Haus zu übernehmen? Könnt ihr das leisten?’ Wir haben ja gesagt.“

    Ende Oktober verkündete Google schließlich die Entscheidung: Karuna übernimmt gemeinsam mit der Betreiberfirma der Spendenplattform Betterplace das Haus, in dem künftig innovative Ideen für die Gesellschaft entstehen sollen. 14 Millionen Euro gibt Google nach eigenen Angaben für den Umbau, die Ausstattung und für Miete und Nebenkosten in den nächsten fünf Jahren aus. Und so wurde Richert plötzlich zum Mitbetreiber der noch freien 3.000 Quadratmeter des Umspannwerks, einem Viertel der Fläche des gesamten Gebäudes.

    Die lokale Stadtpolitik reagierte auf den Beschluss ungefähr so, wie es zu erwarten gewesen ist. Die Wirtschaftssenatorin Ramona Pop von den Grünen ließ mitteilen, das seien interessante Pläne: „An der Schnittstelle zwischen sozial-ökologischem Wirtschaften und innovativen Tech-Lösungen steckt viel Potenzial für die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen.“ Sebastian Czaja, FDP-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus und einer der lautesten Oppositionspolitiker, hingegen sagte: „Kiez- und Milieuschutz-Fanatiker“ dürften sich nun weiter ermutigt fühlen, „jegliche Veränderung radikal zu torpedieren“.

    Doch wer oder was hat Google zum Umdenken gebracht? Der 100-Milliarden-Dollar-Umsatz-Tech-Konzern aus Amerika ist vor ein paar Kreuzberger Nachbarschaftsaktivisten in die Knie gegangen: Das ist zumindest eine Art, wie man die Sache betrachten könnte.
    Das böse Wort von der Gentrifizierung

    Schon immer zu schön für seinen ursprünglichen Zweck: das ehemalige Umspannwerk am Paul-Lincke-Ufer des Landwehrkanals © Jakob Weber für ZEIT ONLINE

    Denn nachdem Google vor knapp zwei Jahren angekündigt hatte, nach Kreuzberg zu kommen, haben sich dort rasch Menschen zusammengeschlossen – gegen die Campus-Pläne. Es gab Demonstrationen, Transparente, ein Anti-Google-Café. Vor ein paar Wochen, im September, besetzten Aktivistinnen kurzfristig die Baustelle des Umspannwerks.

    Berlin ist heute die deutsche Hauptstadt für vieles: die der Start-ups ebenso wie der Mietsteigerungen zum Beispiel. Kreuzberg wird besonders rasant teurer, gerade der angesagte Kreuzberger Osten. Das böse Wort von der Gentrifizierung hängt in der Luft.

    Kreuzberg ist eben nicht nur ein Stadtteil. Die Idee vom Kiez, den man selbst gestaltet und nun zu verteidigen hat, gegen Eindringlinge von außen, hat hier noch große Bedeutung. Hier, wo mit dem SO36 eine Keimzelle des deutschen Punk liegt; wo die Hausbesetzerszene noch existiert; wo alte Westberliner Strukturen seit Jahrzehnten bestehen; wo man zumindest früher an jedem 1. Mai auf die Straße ging. Immer noch und immer wieder gibt es Protest, nicht nur am Umspannwerk: etwa vergangenes Jahr, als Leute die Scheiben des noch recht neuen Luxushotels Orania zerstörten.

    „Von Google ist einfach niemand hier mal spazieren gegangen vorher“, sagt Jörg Richert, der aus Berlin stammt und schon seit Jahrzehnten in sozialen Projekten arbeitet. „Die haben unterschätzt, was für ein Druck auf dem Kiez liegt durch Verdrängung.“
    "Fuck off Google"

    Macht man tatsächlich einen Spaziergang vom Umspannwerk aus, kommt man an einem Laden vorbei, der noch Vinyl-LPs verkauft, „heiße Scheiben“. Ein kleiner Handyladen folgt auf ein durchdesigntes vietnamesisches Restaurant, Altes und Neues existieren nebeneinander. Doch an einem Laternenmast steht „Fuck off Google“ und auf einem Plakat in einer Kneipe „Google Campus verhindern“.

    Die Bäckerei Filou ist nicht weit entfernt vom Umspannwerk. Sie ist keine dieser hippen Berliner Kaffeeröstereien, in denen Leute third wave coffee schlürfen und ihre Start-up-Ideen diskutieren oder bloß ihre neuesten Selbstverwirklichungspläne. Die Bäckerei Filou ist dafür einfach zu ironiefrei im Neunzigerjahrestil holzvertäfelt. An einem etwas wackeligen Tisch sitzt Stefan Klein. Er ist Mitte 50, in Berlin geboren und aufgewachsen. Klein ist Jurist, aber einer von der Sorte, die Jeans und Hoodie trägt. Er lächelt zufrieden.

    Klein gehört zur Nachbarschaftsinitiative GloReiche Nachbarschaft, die ursprünglich gegründet wurde, um die Bäckerei Filou zu retten. Nicht weil es hier etwa die besten Schrippen der Stadt gibt, „der Laden gehört einfach zum Kiez, und wir setzen uns gegen Verdrängung ein“, sagt Klein. Auch gegen den Google-Campus hat sich die Initiative eingesetzt, gemeinsam mit zwei weiteren Gruppen als Bündnis No Google Campus.

    Dass Google nun doch nicht selbst nach Kreuzberg kommt, sieht Klein als Erfolg der Aktivistinnen. „Unsere Strategie ist voll aufgegangen. Wir wollten Google das Gefühl geben, dass es immer schlimmer wird.“ Die Hausbesetzung war zwar von einer anderen Gruppe geplant, „aber so eine symbolische Besetzung finden wir nicht schlecht“, sagt Klein. Google als Nachbar? „Die Auswirkungen auf den Kiez wären massiv gewesen: Start-ups hätten die Nähe zu Google gesucht und zum Beispiel den Blumenladen von nebenan verdrängt.“ In der Folge wären auch die Mieten noch weiter gestiegen, weil dann gut verdienende Jungunternehmer Kreuzberg bevölkert hätten, argumentieren die Aktivisten.
    Was ist nur aus der schönen neuen Welt geworden

    Nun gibt es aber bereits Jungunternehmerinnen, hippe Cafés und teure Wohnungen in Kreuzberg. Ob Google mit zehn Mitarbeitern und einigen Start-ups, die nur mäßige Löhne zahlen, das noch deutlich verschlimmert hätten, ist zumindest fraglich.

    Die realen Auswirkungen sind aber fast egal, denn Google ist mittlerweile vor allem ein Symbol. Eines für die unheimliche Macht, die US-Tech-Konzerne über uns haben, weil wir ihnen unsere Daten schenken. Einst haben Google, Facebook, Twitter und all die anderen Unternehmen aus dem Silicon Valley uns eine schöne neue Welt versprochen. Heute müssen sich ihre Firmenvertreter bei Anhörungen vor dem US-Kongress fragen lassen, wie das alles nur so schiefgehen konnte. All die Datenskandale, all die finsteren Dinge, die auf Social-Media-Plattformen und überhaupt im Internet geschehen.
    Mit Google spricht man nicht

    Wo kein Tageslicht vorhanden ist im alten Umspannwerk, können keine regulären Arbeitsplätze eingerichtet werden. Sondern nur Coworking-Spaces © Jakob Weber für ZEIT ONLINE

    „Wir haben gleich gemerkt, dass wir mit unserem Protest einen Nerv treffen“, sagt Stefan Klein. „Wir haben Broschüren mit Argumenten gegen Google gemacht – die sind uns buchstäblich aus den Händen gerissen worden.“

    Die Antipathie, die Google entgegenschlägt, ist auch Prinzip. Google lud die Aktivistinnen zum Gespräch ein, doch die wollten nicht reden. „Googles Haltung war ja, dass wir Missverständnissen aufsitzen, die sie nur ausräumen müssten“, sagt Klein. „Wir hatten uns aber sehr wohl informiert und hatten ja die besseren Argumente auf unserer Seite. Deswegen brauchten und wollten wir kein Gespräch.“
    Google weiß, was Kreuzberg fehlt

    Auf der Baustelle sitzt Jörg Richert inzwischen in einem Container, es ist kalt geworden, ein elektrischer Heizofen kämpft gegen die Herbsttemperaturen an. „Die Aktivisten sind mir schon sympathisch, ich finde Protest gut“, sagt Richert. „Aber ich finde nicht gut, dass man nicht mit an den Tisch kommt, wenn man zum Gespräch gebeten wird.“ Karuna und Betterplace hätten es gesucht. „Und darum haben wir jetzt ein Gebäude, in dem wir arbeiten und wirklich etwas erreichen können.“

    Glaubt man Googles eigenen Aussagen, war die Stimmung in der Nachbarschaft gegen den Campus auch gar nicht ausschlaggebend für die Änderung der Pläne fürs Umspannwerk. Und laut Richert und Google-Sprecher Bremer war im September, als die Baustelle besetzt wurde, die Entscheidung längst gefallen, das Haus statt als Campus für soziale Zwecke zu nutzen.

    Ralf Bremer sagt: „Von so einem Protest können wir uns nicht diktieren lassen, was wir machen.“ Der Konzern habe aber erkannt, was in Kreuzberg wirklich fehle, und das seien eben Räume für gemeinnützige Organisationen und Projekte. Deswegen wird es einen großen Veranstaltungsraum im Umspannwerk geben. In die hohe Decke wird gerade noch eine Zwischenetage eingezogen, wo dann Karuna und Betterplace arbeiten werden. Zusammen sind das nur 500 Quadratmeter Fläche. Die übrigen 2.500 Quadratmeter liegen im Untergeschoss – weil es kein Tageslicht gibt, dürfen hier keine regulären Arbeitsplätze hin. Sondern eben Coworking-Spaces oder ein Lernparcours zu digitaler Bildung, den Karuna für Schülerinnen und Schüler einrichten will. Auch MOMO, eine Jugendorganisation für Straßenkinder, wird hier arbeiten können.

    Und so wäre dann eben eine andere Lesart der Geschehnisse um den Google Campus, dass der Tech-Konzern sich selbst eines Besseren belehrt und seine Pläne geändert hat. Oder mit anderen Worten: Google glaubt, am Ende besser zu wissen, was Kreuzberg wirklich braucht – als ein paar Kreuzberger Aktivisten.
    Darf nur der Gute Gutes tun?

    Doch bis zu welchem Punkt kann man aus Prinzip überhaupt gegen Google sein? Geht das auch dann noch, wenn der Konzern mit seinem Geld objektiv etwas Gutes tut? Das ist die alte Frage, von wem man Geld annehmen darf und ob nur Gute auch Gutes tun dürfen. „Don’t be evil“, sei nicht böse, war früher Googles Leitspruch. Bis er irgendwann gestrichen wurde. Wie böse Googles Geschäftsmodell ist, die Daten der Nutzerinnen und Nutzer zu monetarisieren, lässt sich diskutieren. Dass der Konzern außerdem recht geübt ist im Steuervermeiden und seine Quasimonopolstellung als Suchmaschinenanbieter und Smartphonebetriebssystemhersteller nicht notwendigerweise zur Verbesserung der Welt beiträgt: Darüber braucht man nicht so sehr diskutieren.

    „Man kann viel berechtigte Kritik haben gegen Google“, sagt Jörg Richert, während er auf die Bauzeichnungen blickt. „Aber: Kann man durch Kooperation nicht viel besser dafür sorgen, dass Unternehmen mehr Verantwortung übernehmen?“

    Stefan Klein bleibt skeptisch. „Auch wenn wir Googles Entscheidung grundsätzlich begrüßen: Wir bleiben misstrauisch.“ Wenn man Jörg Richert das erzählt, schmunzelt der. „Die Aktivistinnen und Aktivisten sind alle herzlich bei uns eingeladen“, sagt Richert. „Dann trinken wir einen Kaffee und vielleicht finden wir zusammen Lösungen gegen die Wohnungsverteuerung.“

    Paul Lincke, nach dem das Ufer benannt ist, an dem das alte Umspannwerk liegt, war Komponist und lebte zu der Zeit in Berlin, als das Gebäude errichtet wurde. Lincke hat im Jahr 1904 bereits der Stadt ihre Hymne geschenkt, den Operettengassenhauer Berliner Luft. Und in dessen Text von Heinrich Bolten-Baeckers steckt vielleicht die beste Erklärung für das, was nun mit dem Umspannwerk passiert ist:

    Wenn sonst man: „Mir kann keener“ sagt,
    so sagt in jedem Falle,
    wenn’s dem Berliner nicht behagt,
    er sanft: „Mir könn’se alle!“

    #Berlin #Google #gentrification #luttes