• Fußpflege in Marzahn: „Von sona schönen Frau lass ick ma jerne quälen“ | ZEIT ONLINE
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    Openstreetmap: Skywalk Marzahner Promenade
    https://www.openstreetmap.org/node/3763316278

    In der Berliner Plattenbausiedlung Marzahn gibt es eine Attraktion, die jährlich um die 1.500 Besucher anzieht: den Skywalk, eine Spezialkonstruktion aus Metall.

    Man fährt mit dem Fahrstuhl vom Erdgeschoss bis in die oberste, die 21., Etage des Doppelhochhauses in der Raoul-Wallenberg-Straße 40/42, steigt Stufen hinauf, verlässt den gewaltigen Turm, um über weitere nun frei schwebende Gitterstufen windige Höhen zu erklimmen und an den eigenen Füßen vorbei in die Tiefe zu schauen. Schwindelfreiheit ist von Vorteil. Ganz oben auf dem Dach angekommen, erreicht man eine Aussichtsplattform. Aus 70 Metern Höhe hat man einen grandiosen Blick über die Marzahner Promenade, über von Baumkronen durchschäumte Hochhausketten, über die ganze Stadt bis zum Fernsehturm, bis zum Müggelsee, bis zum Flughafen Schönefeld. Unter dem Himmel rasen die Wolken, erstrecken sich die Brandenburger Weiten. Ich war schon einmal dort oben auf dem Skywalk, in der Raoul-Wallenberg-Straße 40/42, und ließ mir den Wind um die Nase wehen.
    In jenem Hochhaus, auf dessen Dach man über den Skywalk spazieren kann, wohnt Fritz.

    Als Fritz unser Studio zum ersten Mal betrat, war er 65 Jahre alt und seit Kurzem Rentner. Ich war 45 Jahre alt und hatte vor einigen Monaten begonnen, als Fußpflegerin zu arbeiten. Fritz kam, weil seine Frau ihn geschickt hatte. Er trug Jeans und Turnschuhe, sah jünger aus, keinesfalls wie ein Rentner. Er war schüchtern und er war charmant, er roch gut und er entschuldigte sich ausdrücklich und ernsthaft für seine Füße. Fritz dachte, sie seien eine Zumutung. Er rechnete damit, ihretwegen umgehend wieder nach Hause geschickt zu werden. Ich verliebte mich sofort in sie.

    Fritz’ Füße sind ebenmäßig geformt, von beinahe antiker Schönheit: die Fesseln stabil, die Fersen rund und fest, die Längsgewölbe klassisch geschwungen. Unter der Haut, die auch im Winter leicht gebräunt bleibt, fächern die Sehnen des Mittelfußes über den breiten Vorfuß hinein in muskulöse Zehen. Füße, auf denen einer sicheren Tritt hat. Füße, in denen eine Kraft schlummert. Intakte, ansehnliche Füße.
    Aber die Nägel waren verdickt, manche dunkelgelb wie gequollene Linsen, andere von spröde geschichtetem Weiß, ausgefranst vor Trockenheit. Holznägel, sogar Turmnägel werden sie genannt, hatte ich in der Ausbildung gelernt. Mit den Zehennägeln wurde Fritz, obwohl er sie mühelos erreichte, schon lange nicht mehr fertig; die heimischen Werkzeuge versagten den Dienst.
    Fritz hatte sich die verdickten, porösen Zehennägel in schweren, klobigen Arbeitsschuhen mit Stahlkappen erworben. Er war gelernter Facharbeiter für Plaste und Elaste. Zu DDR-Zeiten hatte er in Lichtenberg gearbeitet, in einem Betrieb, der Angelsehnen, Blumenkästen, Eierbecher produzierte. Nach der Wende, als Fritz schwante, dass sein Betrieb womöglich bald schließen würde, spazierte er durch West-Berlin, entdeckte eine Firma für Granulat-Herstellung, bewarb sich, wurde genommen. Dort, in Reinickendorf, verbrachte Fritz die zweite Hälfte seines Arbeitslebens, in Arbeitsschuhen und Schutzanzug, mit Gehör- und Gesichtsschutz. In der Werkhalle standen die Kessel; durch riesige Schläuche und Rohre wurden die Zusätze für das Granulat geleitet, auf 130 Grad Celsius erhitzt und vermischt. Es war heiß, es war laut, brachiale Herstellungsprozesse, brüllende Arbeiter. Passierte ein winziger Fehler, verschmolz das Granulat in Sekunden und härtete zu einer steinstarren Masse aus. Plastik eben, haltbar für die Ewigkeit. Eine Acht-Stunden-Schicht reichte nicht aus, um die erkaltete Masse mit dem Presslufthammer zu zerstören und vom Boden des Kessels zu entfernen.

    Zu Beginn war ich vorsichtig mit den Nägeln, mir fehlte die Erfahrung. Je besser ich Fritz und seine Füße kennenlernte, umso mutiger wurde ich. Ich setzte den nächstgröberen Fräserkopf ins Handstück ein, wählte eine höhere Umdrehungszahl. Ich schnitt und schliff und feilte, ein kleiner Ehrgeiz packte mich. Fritz war nicht zimperlich. Geduldig ließ er mich werkeln und wir alberten herum, während ich die Turmnägel flacher fräste. Immer gab er mir zum Abschied ein großzügiges Trinkgeld und manchmal einen verstohlenen Handkuss. Fritz’ Füße gewannen im Verlauf vieler Sitzungen ihre ganze Schönheit zurück. Ich bezeichnete sie insgeheim als mein Gesellenstück.

    Fritz’ Eltern waren Zirkusartisten
    Einmal brachte Fritz von zu Hause einen vergilbten Zeitungsausschnitt von 1973 mit. Das körnige Schwarz-Weiß-Foto zeigte einen muskelbepackten Mann mit festem Stand, die Arme seitlich ausgestreckt, den Kopf in den gewaltigen Nacken gelegt. Auf der Stirn des Mannes steht eine lange Stange, die er freihändig balanciert. Hoch oben, am Ende der Stange, verbiegt sich eine zierliche, überaus gelenkige Frau in einem hauchdünnen Glitzerkostüm in den Spagat. Der Stiernackige und die Grazile – das waren Fritz’ Eltern. Fritz entstammt einer Artistenfamilie. Der Vater war zeitlebens mit einem Wanderzirkus umhergezogen, hatte täglich trainiert und an seiner Stirnperch-Nummer gefeilt. Die Stirnperch, jene Stange mit der Aufsatzfläche für die Stirn, ließ der Vater extra anfertigen, eine Spezialkonstruktion aus Metall. Die Frau, die sich am oberen Ende der Stange verbog, wechselte Fritz’ Vater mehrmals im Leben aus: Fritz’ Mutter wurde irgendwann von einer zweiten Frau ersetzt, später führte der Vater die Stirnperch-Nummer mit der eigenen Tochter auf, Fritz’ Schwester. Der Vater stand in der Manege, bis er weit über 70 war, ein vor Gesundheit strotzender Kerl, der im stolzen Alter von 90 Jahren starb. Fritz wuchs wegen des Tingeltangels der Eltern hauptsächlich bei seiner Oma auf. Die Oma schlug ihm dann auch vor, einen ordentlichen Beruf zu erlernen.

    Ich stellte mir vor, wie Fritz als Kind hinter dem Vorhang der Zirkusmanege steht und seinen Eltern zusieht. Dem Vater, dessen in höchster Anspannung gestraffter Körper die Stange balanciert und dessen Blick stramm und ausschließlich auf die Frau in der Luft gerichtet bleibt. Der Mutter, die in schwindelerregenden Höhen und größter Konzentration ihren Körper verbiegt, eine Augenweide, graziös und unerreichbar. 
    Fritz erzählte während unserer Fußpflegesitzungen vom Wanderzirkus der Eltern, von seiner Kindheit bei der Oma, von der Schichtarbeit im Chemiebetrieb. Wenn ich das Hornhautpaddel ansetzte, grinste er und riss sich zusammen. Fritz ist an bestimmten Stellen, die wahrscheinlich nur ich kenne, kitzlig. Ich schrubbte die Fersen glatt, grinste zurück und fragte Fritz, ob ich aufhören solle. „Von sona schönen Frau lass ick ma jerne quälen“, sagte Fritz leise. Für die Fußmassage nahm ich mir Zeit. Ich schloss die Tür, dimmte das Licht und ausnahmsweise zog ich die Latexhandschuhe aus. Ich berührte die schönen Füße, spürte die warme Haut, senkte den Blick. Meine Hände sannen den antiken Formen nach. Ich zögerte alles hinaus, jeden Griffwechsel, massierte langsam, mit Hingabe. Ich empfand Fritz’ Blick auf mir und hörte mich atmen. Mit Fritz kann man schweigen, aktiv und zweideutig schweigen.

    Schweren Herzens trennte ich mich von den Füßen. Dann hob ich den Blick, sah Fritz ins verschmitzte, gelöste Gesicht mit den träumenden Augen. „Ach“, sagte Fritz. „Wenn ick 20 Jahre jünger wäre.“ Ich lächelte, sagte nichts, dachte aber etwas.
    Fritz ist nicht in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Keine Stirnperch, keine Stangenakrobatik. Fritz hat einen ordentlichen Beruf gelernt. Er hat eine Frau, Kinder und Enkelkinder, er hat ein Wochenendgrundstück und einen Hund. Mit dem Hund dreht er täglich mehrstündige Gassirunden. Fritz ist fit. Vielleicht hat er die stabile Gesundheit vom Vater geerbt. Vielleicht hat er auch die schönen Füße mit dem sicheren Tritt vom Vater geerbt. Neulich, als Fritz’ Sohn heiratete, war Fritz erstaunt, dass er sich keinen neuen Anzug kaufen musste, weil jener Anzug, der seit 20 Jahren ungetragen im Kleiderschrank hing, ihm noch immer wie angegossen passte. Ich hätte Fritz gern in diesem Anzug gesehen, am liebsten barfuß.

    Das Wochenendgrundstück, die Familienfeiern, die Enkel, der Hund – das alles lastet Fritz nicht aus. Er kommt auch deshalb gern zu mir. Der Fußpflegetermin ist der Höhepunkt des Tages. Seit Fritz nicht mehr arbeitet, ist sein größter Feind die Langeweile.

    Um sie zu vertreiben, rennt er einmal täglich im Treppenhaus der Raoul-Wallenberg-Straße 40/42 die Stufen hoch, Hunderte Stufen, vom Erdgeschoss bis in die 15. Etage, wo er wohnt. Und obwohl Fritz Tag für Tag in seinem eigenen Haus die Treppen hinaufrennt, war er noch kein einziges Mal ganz oben, in der 21. Etage. Für Fritz ähnelt der Skywalk der Stirnperch. Fritz hat auf dem Dach, was sein Vater auf der Stirn hatte – eine extra angefertigte Spezialkonstruktion aus Metall.

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