Hermann Göring : So funktionierte sein Geheimdienst im Reichsluftfahrtministerium

/forschungsamt-des-reichsluftfahrtminist

  • Hermann Göring: So funktionierte sein Geheimdienst im Reichsluftfahrtministerium - FOCUS Online
    https://m.focus.de/wissen/mensch/geschichte/nationalsozialismus/forschungsamt-des-reichsluftfahrtministeriums-goerings-braune-voegel_id_1009

    Armin Fuhrer: Görings NSA - Das »Forschungsamt« im Dritten Reich. Die unbekannte Geschichte des größten Geheimdienstes der Nazis ; ISBN: 9783957681942
    –—
    Der Name klingt harmlos, doch tatsächlich verbarg sich hinter dem „Forschungsamt des Reichsluftfahrtministeriums“ der größte und bis heute weitgehend unbekannte Geheimdienst der Nazis. Niemand war vor der Telefonüberwachung des Amtes sicher – nicht einmal Propagandaminister Joseph Goebbels.

    Der Anrufer schmolz dahin vor Sehnsucht nach seiner Geliebten. „Ich wäre jetzt viel lieber bei dir als auf der langweiligen Parteiveranstaltung“, säuselte er ins Telefon und gab im weiteren Verlauf des Gesprächs intimste Liebesbeweise von sich. Der Mann war niemand anderes als einer der ranghöchsten Vertreter des Dritten Reiches: Propagandaminister Joseph Goebbels, ein enger Vertrauter des Führers Adolf Hitler.

    Normalerweise peitschte er mit seinen Reden die Massen auf, doch in dieser Nacht umgarnte er mit sanften Worten seine Geliebte: die tschechische Schauspielerin Lida Baarova. Klar, dass seine Gattin Magda Goebbels , die inoffizielle First Lady des Dritten Reiches, von solchen Anrufen nichts mitbekommen durfte.

    Dass sich aber ein Mann heimlich in das Telefongespräch eingestöpselt hatte, das verbale Liebesspiel mithörte und sogar mitschrieb, ahnte Goebbels nicht. Doch tatsächlich saß in einem riesigen Gebäudekomplex in der Schillerstraße im Berliner Bezirk Charlottenburg in ganz offizieller Mission ein Mitarbeiter des „Forschungsamtes des Reichsluftfahrtministeriums“ mit einem Kopfhörer an seinem Arbeitsplatz und hörte und schrieb alles mit, was Goebbels und die Baarova von sich gaben. Den Auftrag hatte sein oberster Chef erteilt: Hermann Göring. Die Berichte landeten direkt bei Göring und dann bei Hitler auf dem Schreibtisch.

    Der Name der Einrichtung war lediglich eine Tarnung. Tatsächlich handelte es sich um einen bis heute weitgehend unbekannten Geheimdienst der Nazis, der zu seinen besten Zeiten bis zu 6000 Mitarbeiter gehabt haben soll. Nichts und niemand war vor ihm sicher, nicht einmal Vertreter der NS-Spitze wie Joseph Goebbels. Er war ins Visier des Forschungsamtes gekommen, weil seine Geliebte unter dem Verdacht stand, eine tschechische Spionin zu sein.
    „Görings NSA. Das ‚Forschungsamt’ im Dritten Reich. Die unbekannte Geschichte des größten Geheimdienstes der Nazis“ bei Amazon kaufen.

    Gründung schon kurz nach der „Machtergreifung“

    Gegründet worden war das Forschungsamt schon im April 1933 von Göring, der damals unter anderem preußischer Ministerpräsident und Reichsluftfahrtminister war. Als einige Offiziere der Reichswehr ihm vorschlugen, einen neuen Geheimdienst zu gründen, schlug der machtbewusste Göring sofort zu. Denn Hitler billigte dem Forschungsamt, das unter seinem Tarnnamen im Reichsluftfahrtministerium angesiedelt wurde, eine Kompetenz zu, die sonst keine andere Stelle im Reich bekam: das Abhören von Telefonen.

    Auf anderen Gebieten geheimdienstlicher Arbeit konkurrierte das Forschungsamt mit anderen Dienststellen – nicht aber bei der Telefonüberwachung. Niemand war davor sicher, dass sein Telefon ins Visier der Lauscher vom Amt kam: Regimegegner, Kirchenvertreter, ausländische Botschafter und Diplomaten, Wirtschaftsunternehmen, Minister. Sogar Wehrmachtsgeneräle wurden belauscht, obwohl das offiziell untersagt war.

    Doch den Mann ganz oben an der Spitze interessierten solche Beschränkungen überhaupt nicht: Hermann Göring. Er hatte sofort erkannt, welche Machtfülle ihm das Amt bringen würde, und zwar sowohl gegen äußere wie auch gegen innere Feinde. Und nicht zuletzt gegen die Widersacher im Nazi-System, das aus zahllosen rivalisierenden Stellen bestand. Göring, der unter sich einen offiziellen Amtschef installierte, musste jeden Auftrag zur Telefonüberwachung persönlich genehmigen, und er bekam als erster die Ergebnisse auf den Tisch – noch vor den Auftraggebern der Maßnahme und auch vor Hitler.

    Aufgeschrieben wurden die Erkenntnisse aus den abgehörten Gesprächen nach strengen Regeln in Berichten, den sogenannten Braunen Vögeln. Sie hießen so, weil sie auf braunem Papier getippt waren. Sie boten Göring ein fantastisches Herrschaftswissen, und so ist es kein Wunder, dass sie einige Zeit, nachdem sie an den Auftraggeber geliefert wurden, auch wieder eingesammelt werden sollten.

    Eine halbe Million Telefonate wurden abgehört

    Abgehört wurden nach einer Angabe aus den frühen fünfziger Jahren zwischen Frühjahr 1933 und Februar 1945 etwa 498.000 Telefonate. Eine Zahl, die heute, in Zeiten hemmungsloser Telefonüberwachung, gering erscheinen mag. Man darf aber nicht vergessen, dass damals jede Überwachungsmaßnahme einzeln beschlossen werden musste und die Zahl der Telefonanschlüsse natürlich erheblich kleiner war als heute.

    Das Amt, das seit 1935 in einem großen Gebäude in der Schillerstraße untergebracht war, tat seinem Herrn hervorragende Dienste. Es spielte, soweit das heute noch nachvollziehbar ist, auch beim sogenannten Röhm-Putsch vom 30. Juni 1934 eine wichtige, heute völlig unterschätzte Rolle.

    Ebenso leistete es wichtige Hilfe, als Hitler Ende September 1938 in Bad Godesberg den britischen Premierminister Nevil Chamberlain empfing. Es ging bei diesem Gespräch um Krieg und Frieden und die Lauscher vom Amt überwachten den Telefonverkehr zwischen Chamberlain und seiner Londoner Zentrale. Hitler verzögerte die Gespräche sogar eigens solange, bis ihm die abgetippten Berichte vorlagen, denn das verschaffte ihm Vorteile gegenüber seinem Kontrahenten.

    Die Berichte widersprachen Hitlers Intuition

    Gleichwohl stand der „Führer“ den „Braunen Vögeln“ zumindest teilweise skeptisch bis ablehnend gegenüber. Vor allem stets dann, wenn sie seiner „Intuition“ widersprachen, auf die er so viel Wert legte. So stellten die Berichte des Forschungsamtes im Sommer 1939 klar fest, dass Briten und Franzosen Deutschland den Krieg erklären würden, wenn die Wehrmacht in Polen einmarschieren würde. Hitler glaubte das nicht – als am 3. September 1939 London und Paris infolge des deutschen Überfalls auf Polen zwei Tage zuvor tatsächlich Kriegserklärungen übermittelten, war er ebenso erstaunt wie ratlos.

    Ebenso wenig glaubte er den recht präzisen Angaben des Amtes über die militärische und wirtschaftliche Stärke der Sowjetunion. Als er am 22. Juni 1941 die Wehrmacht losschlagen ließ, gingen Hitler und seine Generäle von einem Spaziergang nach Moskau aus, weil sie die Stärke des Erzfeindes radikal unterschätzten und nicht auf das Forschungsamt hörten. Ebenso gibt es unter anderem einen Hinweis darauf, dass das Amt einem Spion im direkten Umfeld Hitlers, der für die Alliierten arbeitete, auf die Spur kam.
    Der größte Coup gelang der Reichspost

    Erst 1941 wurde einer anderen Stelle eingeschränkt genehmigt, ebenfalls Telefonüberwachung durchzuführen: der Reichspost. Auf sie war Göring angewiesen, weil sie für die technische Durchführung sorgen musste und wohl deshalb willigte er ein. Die Reichspost gründete eine „Forschungsstelle“. Ihr gelang der wohl größte Abhörcoup bis dahin überhaupt: Ende Juli 1943 schafften es ihre Experten, ein Telefongespräch zwischen US-Präsident Franklin D. Roosevelt und dem britischen Premierminister Winston Churchill aufzuzeichnen und abzuschreiben.

    Das Forschungsamt hatte in mehreren deutschen Städten Außenstellen, die später auch auf die besetzten Länder ausgeweitet wurden. Im November 1943 ereilte die Zentrale ein schwerer Schlag: sie wurde fast vollkommen ausgebombt. Sie wurde daraufhin nach Breslau verlegt, das bis dahin weitgehend von feindlichen Fliegerangriffen verschont geblieben war. Die Arbeit wurde unter erschwerten Bedingungen wieder aufgenommen. In den letzten Monaten des Krieges teilten sich die Mitarbeiter – eine Gruppe begab sich nach Schleswig-Holstein, die andere nach Bayern. Hier verstreuten sich die letzten Mitarbeiter des Forschungsamtes in den letzten Kriegstagen in alle Himmelsrichtungen und tauchten unter.

    Vorher verbrannten sie jedoch viele Akten, die nicht schon beim Angriff auf die Zentrale vom November 1943 verbrannt waren. Daher blieben von den Aktivitäten des Forschungsamtes fast keine Spuren übrig – wahrscheinlich der Grund dafür, dass sich Historiker bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht mit der Geschichte dieser Einrichtung befasst haben. Das führt dazu, dass selbst renommierte Forscher in Standardwerken zum Dritten Reich regelmäßig fälschlicherweise von der Gestapo schreiben, wenn es um das Abhören von Telefonen geht. Die Gestapo war aber nur einer der Auftraggeber für solche Aktivitäten.
    Die Alliierten waren ahnungslos

    Auch die Alliierten waren offenbar ahnungslos was die Existenz des Forschungsamtes betraf. Erst in Verhören unmittelbar nach der deutschen Kapitulation 1945 stießen sie auf dessen Spuren. Hermann Göring war nach dem Ende des Krieges sichtlich stolz auf die Arbeit seines Forschungsamtes, wie aus Aussagen während der Vorbereitung auf den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und im Prozess selbst hervorgeht.

    Das Amt wurde jedoch nicht zu einer verbrecherischen Organisation erklärt. Die allermeisten ehemaligen Mitarbeiter blieben unbekannt – es ist anzunehmen, dass eine ganze Reihe von ihnen als echte Abhörspezialisten bald in der „Organisation Gehlen“, der Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienstes, oder später im BND selbst einen neuen Job fanden. Tatsächlich nachzuweisen ist das derzeit nur für ganz wenige von ihnen.

    Joseph Goebbels musste übrigens, nachdem Hitler die Berichte über seine Telefonate gelesen hatte, auf dessen Geheiß seine Affäre mit der Baarova beenden. Er verfiel in tiefen Liebeskummer. Als bevorzugten Tröster suchte er sich ausgerechnet den Mann, der ihn hatte ausspionieren lassen: Hermann Göring.

    Focus Online-Autor Armin Fuhrer hat die unbekannte Geschichte des Forschungsamtes recherchiert und aus seinen Ergebnissen ein Buch verfasst, das gerade erschienen ist: „Görings NSA. Das ‚Forschungsamt’ im Dritten Reich. Die unbekannte Geschichte des größten Geheimdienstes der Nazis.“

    #histoire #nazis #télécommunication #surveillance #Forschungsamt