Nazi-Verbrechen in Reinickendorfer Kinderklinik : Die Erforschung der Grausamkeit - Schule - Berlin

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  • Eichborndamm 238 - ab 1941 städtische Nervenklinik für Kinder »Wiesengrund«
    Museum Reinickendorf
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    https://www.openstreetmap.org/node/2889844074

    Gedenkort und Geschichtslabor Eichborndamm 238

    Im Juli 1941 wurde am Eichborndamm 238/240 die städtische Nervenklinik für Kinder, kurz »Wiesengrund« genannt, eingerichtet. Hier waren die Stationen 2 und 3 untergebracht. Letztere erhielt den täuschenden Zusatznamen »Kinderfachabteilung«. Die Klinik verfügte neben den Bettenzimmern über eine eigene Röntgenabteilung, ein Labor, einen Sektionsraum sowie Dienst- und Verwaltungszimmer. In die sogenannte »Kinderfachabteilung« wurden Kinder aus ganz Berlin und der Umgebung eingewiesen. Ihre Krankenakten enthielten vielfach den Vermerk »R.A.«. Er weist darauf hin, dass der »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« diese Kinder als »lebensunwert« eingestuft hatte. Entsprechen wurden die Kinder »behandelt«. Viele Kinder starben an den Folgen von medizinischen Versuchen oder riskanten Untersuchungen, aufgrund von fehlender ärztlicher Hilfe oder mangelnder Ernährung. Auch die Kinder der Station 2 überlebten nicht immer den Klinikaufenthalt. An ihnen wurden ebenfalls risikoreiche Untersuchungen vorgenommen, die zum Tode führen konnten.

    Die Karrieren der verantwortlichen Ärzte gingen nach Kriegsende ungebrochen weiter. Einzig der Klinikleiter Ernst Hefter wurde im Dezember 1945 verhaftet und im August 1947 starb er im Zuchthaus Bautzen. Der Oberarzt Gerhard Kujath wurde nach Kriegsende kommissarischer Direktor des Hauses, ab 1952 übernahm er die Leitung der Kinderpsychiatrischen Abteilung der Freien Universität Berlin. Der Pathologe Berthold Ostertag wurde nach 1945 Leiter der Neuropathologischen Abteilung der Universitätsnervenklinik Tübingen und erhielt später das Große Bundesverdienstkreuz. Die Fachärztin für Nervenheilkunde, Gertrude Reuter, praktizierte von 1946 bis 1975 als niedergelassene Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie in Essen.

    Nazi-Verbrechen in Reinickendorfer Kinderklinik: Die Erforschung der Grausamkeit - Schule - Berlin - Tagesspiegel
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    Schüler eines Reinickendorfer Gymnasiums erforschen die Geschichte von behinderten Kindern, die in ihrem Kiez in einer ehemaligen Klinik von den Nazis ermordet wurden. CLAUDIA KELLER

    Vor 70 Jahren lebten hier Kinder. Manche waren ein paar Monate alt, andere zwei, sieben oder 15 Jahre. Heute ist in den schmucklosen Häusern am Eichborndamm 238-240 das Reinickendorfer Garten- und Straßenbauamt untergebracht. Doch einst gehörten die Häuser zu einer Klinik, hier war die „Kinderfachabteilung“. Doch die Kinder kamen nicht, um geheilt zu werden. Sie waren geistig zurückgeblieben und galten als „lebensunwert“. Sie starben meistens kurz nach der Einlieferung, weil sie die medizinischen Versuche nicht überlebten, die Ärzte mit ihnen machten.

    Die Eingriffe müssen furchtbar wehgetan haben. Wer mit Schülern der elften und zwölften Klasse des Friedrich-Engels-Gymnasiums in Reinickendorf durch die Räume geht, meint, die Kinder wimmern zu hören. Denn Luise Sommer, Nastasia Wolter, Paul Riemann und Melissa Kulicke können viel erzählen über die kleinen Patienten. Sie haben deren Schicksal erforscht. Im „Seminarkurs Geschichte“ sichteten sie im Landesarchiv Akten und forschten nach Zeitzeugen.

    Es ist Montagnachmittag. Auf einem großen Tisch in einem Kellerraum des früheren Klinikgebäudes breiten die Jugendlichen alte Fotos und Kopien von Dokumenten aus. Sie waren zu zehnt im Kurs und haben sich im Landesarchiv alle Akten geben lassen, die es zur „Kinderfachabteilung Wiesengrund“ gibt. Das waren sehr viele, erzählt Luise Sommer und zeichnet mit der Hand einen Berg in die Luft. 120 Kartons mit jeweils 30, 40 Akten – zu viele für ein Schuljahr. Sie haben mit den Unterlagen der gestorbenen Kinder angefangen. Jeder konzentrierte sich auf vier Akten, schrieb das Wichtigste heraus und erstellte zu jedem Kind einen „Steckbrief“ mit den Bemerkungen des Pflegepersonals, der Art der „Behandlung“ und der Todesursache.

    „Heute spielt Ruth mit der Puppe. Sie ist ein recht sorgsames Puppenmutterchen“, notierte eine Krankenschwester. Ingrid sei oft sehr lieb und habe das Bedürfnis, in den Arm genommen zu werden. „Auf freundlichen Zuspruch lächelt das Kind“, ist über Hans zu lesen. „Vorgehaltene Gegenstände werden nicht ergriffen; berührt man aber seine Händchen, so umklammert er sie fest und lässt nicht los.“ Und der siebenjährige Werner „hatte furchtbaren Hunger, so dass er sogar in ein Stück Seife biss“.

    Anfangs sei es ihr sehr schwergefallen, in den Dokumenten zu lesen, sagt Luise Sommer. Nicht nur, weil manchmal die Schrift der Ärzte schwer zu entziffern war. Sondern weil ihr die Schicksale so nahegingen. „Viele Kinder waren ja noch ganz klein, süße Babys lächelten einem da von den Fotos entgegen“, sagt die Abiturientin. Sie hatte den Eindruck, dass etlichen Kindern gar nichts fehlte, als sie hier eingeliefert wurden. „Schauen Sie hier“, sagt Nastasia Wolter und zeigt einen Eintrag aus Ruths Akte: Das Mädchen wurde in der Klinik abgegeben, „da die Pflegemutter das Kind als anstrengend empfand und nicht mehr gewillt war, sich um Ruth zu kümmern“.

    Geschichtslehrerin Sabine Hillebrecht hatte die Idee zu dem Projekt. Sie wusste um die Häuser am Eichborndamm 238-240 und wunderte sich, dass über die Vergangenheit so wenig bekannt ist. Mit den Schülern fand sie heraus, dass die „Kinderfachabteilung Wiesengrund“ Teil der 1942 neu gegründeten „Städtischen Nervenklinik für Kinder“ war. Hierher überwies der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ Kinder, denen die Nazis das Recht zu leben absprachen, zum Beispiel weil sie mit Down-Syndrom auf die Welt gekommen waren. Nastasia Wolter deutet auf das Kürzel „R.A.“ unten links in der Krankenakte. Sie erzählt, wie den Kindern Liquor aus dem Rückenmark entnommen und Luft ins Gehirn gepumpt wurde, damit sich das Gehirn vergrößerte und bei Röntgenaufnahmen besser zu sehen war.

    Der kleine Hans erlitt während der Prozedur eine Kreislaufschwäche, die Atmung setzte teilweise aus. Zwei Wochen später starb er, nur zehn Monate alt. Als Todesursache notierte der Arzt Bronchitis, Lungenentzündung und Herzmuskeldegeneration. Dem siebenjährigen Werner spritzten die Ärzte Tuberkulosebakterien. „Dies rief äußerst schmerzhafte Entzündungen im Ober- und Unterbauch hervor, die ihn monatelang quälten“, schrieb der Arzt. Dazu ließ man ihn hungern.

    Die zweite Schülergruppe hat sich auf die Täter konzentriert. Paul Riemann, Melissa Kulicke und ihre Mitschüler aus der elften Klasse haben in Ermittlungsakten recherchiert, dass im „Wiesengrund“ vier Ärzte und 19 Schwestern arbeiteten. Nur ein Arzt wurde nach dem Krieg belangt. Die anderen machten Karriere. „Einer hat sogar das Bundesverdienstkreuz bekommen“, sagt Paul Riemann und schüttelt den Kopf.

    Noch etwas haben sie entdeckt, indem sie die alten Fotos studierten: Hier unten im Keller war früher das Labor der Klinik. „Wir haben die Heizungsrohre wiedererkannt und den Heizkörper“, sagt Melissa Kulicke. Sie kratzten vorsichtig mit einem Schlüssel an der Wandfarbe; darunter kamen die alten, auf den Fotos sichtbaren Kacheln hervor. „Im Fernsehen laufen oft Dokumentationen zur NS-Zeit“, sagt Paul Riemann, „aber wenn man sich mit Einzelschicksalen und konkreten Orten beschäftigt, kriegt man ein ganz anderes Verhältnis zur Geschichte“.

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