Geschichte einer Aggression (Tageszeitung junge Welt)

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  • 06.03.2019: Geschichte einer Aggression (Tageszeitung junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/artikel/350415.von-bismarck-bis-westerwelle-geschichte-einer-aggression.html

    Im Jahre 1878 reklamierte Reichskanzler Otto von Bismarck im Kontext des Berliner Kongresses zur Balkanfrage für sich den Ruf des »ehrlichen Maklers«, da er für Deutschland auf dem Balkan keine Interessen sehe, »welche auch nur die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert« seien. 36 Jahre später stand »Serbien muss sterbien« als Losung auf der Berliner Tagesordnung. Anlass war die Tötung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand 1914 in Sarajevo durch eine Gruppe junger Serben, die mit dem Attentat den kolonialistischen Anspruch Österreich-Ungarns auf Teile des Siedlungsgebietes der Südslawen zurückweisen wollten. Eigentlicher Hintergrund war aber, dass Serbien aufgrund seiner Intention, die südslawischen Siedlungsgebiete zu einem gemeinsamen souveränen Staat zusammenzuführen, zu einer ernsthaften Gefahr deutscher und österreichischer Imperialpolitik in Südosteuropa wurde. Dies sollte verhindert werden.

    So begann der Erste Weltkrieg als Einhegungskrieg der Donaumonarchie und Deutschlands gegen das allzu selbstständige Serbien, das allerdings als Sieger aus dem Krieg hervorging und einen südslawischen Staat (»Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen«, später Königreich Jugoslawien) konstituieren konnte. Deutschland hingegen musste seinen imperialistischen Anspruch zunächst aufgeben.

    Auch im Zweiten Weltkrieg blieb Großdeutschland seiner imperialistischen Politik gegenüber dem Balkan treu: Es zerschlug den jugoslawischen Staat und konnte dabei auf die Unterstützung regionaler Nationalisten setzen. Insbesondere slowenische (Domobrancen), kroatische (Ustascha) und bosnisch-muslimische (13. Waffen-Gebirgs-Division der SS »Handschar«) Provinznationalisten sowie die albanische Minderheit bewiesen dabei große Kollaborationsfreude. Das Vorhaben Hitlerdeutschlands, Jugoslawien endgültig zu zerstören, scheiterte aber. Titos Partisanen befreiten nahezu selbstständig ihr Land, Jugoslawien wurde ein sozialistisch-föderativer Staat und genoss als blockfreies Land weltweit hohes Ansehen. Deutschland hingegen musste eine Zwangspause als imperialistische Macht einlegen.

    Die Veränderungen in Osteuropa in den Jahren 1989–91 berührten auch Jugoslawien. Während die BRD im Zuge des Anschlusses der DDR ihre volle Souveränität wiedererlangte, gewannen in Jugoslawien die Provinznationalisten zunehmend die Oberhand – mit Unterstützung der wiedererwachenden Hegemonialmacht Deutschland. Bonn setzte sich unter missbräuchlicher Verwendung des Selbstbestimmungsrechts an die Spitze der internationalen Sezessionsbefürworter.

    Die Normenhierarchie staatlicher Souveränität und territorialer Integrität wurde zugunsten eines reaktionär-sezessionistischen Selbstbestimmungsrechtsverständnisses verkehrt. Dieses hat aber nichts mit dem emanzipatorisch-antikolonialen Selbstbestimmungsrecht der UN-Charta zu tun. Während die UN-Charta das Selbstbestimmungsrecht als Grundlage staatlicher Souveränität, nämlich frei von äußerer Intervention, betrachtet, stellt die deutsche Interpretation einen Gegensatz zwischen staatlicher Souveränität und Selbstbestimmungsrecht dar, also ein primitives Sezessionsrecht.

    Deutschlands interventionistischer Vorstoß war damit die erste und gleichzeitig erfolgreiche außenpolitische Machtprobe. Dabei verwendete die neue deutsche Außenpolitik nicht einmal diplomatische Floskeln, um ihren imperialistischen Anspruch gegenüber Serbien zu formulieren. »Serbien muss in die Knie gezwungen werden«, polterte 1992 der damalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel.

    Der Besuch von Außenminister Guido Westerwelle in Belgrad 2010 verdeutlichte nicht weniger, wer Herr und wer Knecht ist. In kolonialer Selbstgefälligkeit erklärte er: »Die Unabhängigkeit des Kosovo ist Realität.« Terroristen der »Kosovo-Befreiungsarmee« (UCK) war es mit militärischer Unterstützung der NATO gelungen, einen Teil serbischen Staatsgebietes gewaltsam herauszubrechen und weltweit den ersten Mafiastaat zu gründen.

    Als es Ende Juli/Anfang August 2010 an der »Verwaltungsgrenze« zwischen Zentralserbien und seiner Provinz Kosovo zum Widerstand aufgebrachter Serben kam, warnte Westerwelle Belgrad: »Hier geht es um den Frieden in Europa.« Zynisch ergänzte er: Die Zeit gewaltsamer Auseinandersetzungen, die Zeit von Kriegen und Konflikten entlang ethnischer Linien in Europa, müsse zu Ende sein. »Wir sind der Überzeugung, dass die Landkarte in dieser Region gezeichnet ist.«

    Nachdem Deutschland die Landkarte des Balkans nach eigenen Vorstellungen und in Absprache mit den USA verändert hatte, soll nun Ruhe herrschen, d. h. die Ergebnisse westlicher und regional-sezessionistischer Gewaltpolitik sollen akzeptiert werden. Wenn Serbien dies nicht will, bleibt es der Brandstifter auf dem Balkan. Als Belgrad und Pristina 2018 den Gedanken eines Gebietsaustauschs zwecks Befriedung des Konflikts ins Spiel brachten, senkte Berlin seinen Daumen.

    Für dieses das Völkerrecht negierende und selbstherrliche »ordnungspolitische Verständnis« steht die neue Wortkreation »regelbasierte internationale Ordnung«, die die Charta der Vereinten Nationen stillschweigend ersetzen soll. Gemeint ist damit die vom Westen gestaltete imperiale Ordnung.

    Deutschlands antiserbische und antijugoslawische Politik stellt eine Konstante deutscher Außenpolitik dar. Seit der Zerschlagung Jugoslawiens bestimmen Deutschland, Österreich und die USA das Schicksal der postjugoslawischen Staaten. Anstelle ihrer erhofften Unabhängigkeit steht eine nur formale Souveränität.

    Alexander S. Neu ist Obmann der Linksfraktion im Verteidigungsausschuss des Bundestages und war im Jahr 2000 als Mitarbeiter der OSZE im Kosovo.

    Uminterpretation der Ereignisse von 1999 auf internationalem Parkett

    Im Jahr 2008 proklamierten die Albaner der serbischen Provinz Kosovo die Unabhängigkeit von Serbien. Belgrad sieht sich außer Stande, diesem illegalen Schritt durch Ausübung seiner Hoheitsgewalt zwecks Verteidigung seiner territorialen Integrität und Souveränität entgegenzutreten, da die US-geführte NATO seit 1999 auf diesem Gebiet Serbiens präsent ist und die Unabhängigkeit des Kosovo de facto militärisch absichert. Zwar verfügt die NATO über ein Mandat des UN-Sicherheitsrates in Form der Resolution 1244 zur Stabilisierung der Sicherheitslage – jedoch nicht zur militärischen Absicherung einer illegalen Sezession.

    Die Sicherheitsratsresolution 1244 diente dazu, den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien zu beenden. Hierzu wurde die NATO nach Beendigung ihres Luftkrieges zynischerweise durch den Sicherheitsrat vom Aggressor zur offiziellen und »unparteiischen Friedenskraft« KFOR in diesem Teil Serbiens geadelt, woraus die NATO wiederum eine Scheinlegalität für ihre vorangegangene Aggression ableitete.

    Die Alternative zu der Resolution, die ein UNO-­NATO-Protektorat etablierte, wäre indes ein reines NATO-Protektorat gewesen, so die damalige Befürchtung. Genau diese Entwicklung aber wollten Russland, China und Serbien verhindern, indem sie die UNO in der Rolle als internationalen Verantwortungsträger zur Lösung des Konflikts sehen wollten, um so eine von der NATO forcierte Sezession auszuschließen.

    Der deutsche KFOR-Anteil gehörte mit bis zu 6.400 Soldatinnen und Soldaten zu den größten Truppenstellern. Deutschland kontrollierte militärisch bis Ende 2018 den Südwesten des Kosovo. Dieses Kontingent ist nun aufgelöst. Die Bundeswehr ist noch mit etwa 70 Soldatinnen und Soldaten in Pristina präsent. (asn)

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