LITERATUR : So leicht zu verführen

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  • LITERATUR: So leicht zu verführen - DER SPIEGEL 22/2009
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    Nach mehr als 60 Jahren ist jetzt ein Tagebuch entziffert und publiziert worden, das der Schriftsteller Hans Fallada 1944 heimlich in der Haft schrieb.
    Er ist abhängig vom Alkohol, seine literarische Karriere auf dem Nullpunkt, seine Ehe zerbrochen. Dann auch noch das: Ein Schuss aus seiner Pistole löst sich, als er mit seiner Ex-Frau streitet. 1944, es ist Krieg, die Mühlen der Nazi-Justiz drehen sich immer schneller. „Kleiner Mann - was nun?“: So heißt der Roman aus dem Jahr 1932, der ihn weltberühmt gemacht hat. Der Titel trifft auf den Verfasser zu, Literatur ist trostlose Wirklichkeit geworden.
    In Sträflingskleidung sitzt Hans Fallada gut drei Monate lang als „gemeingefährlicher Geisteskranker“ zur Beobachtung in der Landesanstalt Neustrelitz-Strelitz, in einem „Totenhaus“ (Fallada). Der Schuss war zwar ins Leere gegangen, niemand wurde verletzt, aber der Vorgang wurde aktenkundig.

    Nachts kann der Dichter - mit einem schizophrenen Mörder und einem kastrierten Sittlichkeitsverbrecher in einer Zelle - kaum schlafen. Rudolf Ditzen, damals 51, mit dem Künstlernamen Fallada nach dem sprechenden Pferdekopf aus Grimms Märchen, mehrfach vorbestraft, scheint nun wirklich am Ende.

    Aber er darf, unter strenger Aufsicht, in der Anstalt schreiben. Das tut er wie ein Besessener. Auf knapp zugeteiltem Papier entstehen Kurzgeschichten, der Roman „Der Trinker“ und noch etwas, das keiner seiner Bewacher sehen darf: Fallada rechnet insgeheim mit den Nazis ab.

    Zwischen den Zeilen lesen - meist ist das etwas für feinsinnige Interpreten. Für die Germanistin Jenny Williams und die Fallada-Expertin Sabine Lange aber war es knallharte und sehr konkrete Arbeit. Denn sie haben Hans Falladas „Gefängnistagebuch 1944“ entziffert, das raffiniert verschlüsselte und todesmutige Zeugnis eines Verzweifelten*.

    Der schwächliche Schreiberling ist ein geschickter Textverstecker. Große Teile seines Tagebuchs quetscht er zwischen die Zeilen des sogenannten „Trinker“-Manuskripts. Anfänge und Fortsetzungen - oft in Sütterlinschrift, oft verkehrt herum - sindnicht leicht zu finden, da sie sich teilweise in unverfänglichen Erzählungsniederschriften verstecken. So entsteht gestricheltes Buchstabengewürm, unentzifferbar für die Blicke der Nazi-Wärter.

    Auch die beiden Herausgeberinnen benötigten Jahre für die Arbeit des Entschlüsselns. Es herrschte zudem lange Unsicherheit darüber, wie mit einem vom Verfasser nichtautorisierten Text überhaupt umzugehen sei.
    Was daher erst jetzt, nach mehr als sechs Jahrzehnten, erstmals komplett zugänglich wird, ist ein typischer Fallada, eine Mischung aus Wutgeheul und Plauderton, aus Ernst und Leichtsinn, aus Kolportage und Faktenbericht, wie eine poetische Liveschaltung mitten in den Wahnsinn. Aber ein todsicheres Gefühl bestimmt den unter den Augen seiner Verfolger entstehenden Bericht: das einer unausweichlichen Katastrophe.
    Fallada (1893 bis 1947), der unpolitische Autor, legt erstmals ein politisches Bekenntnis ab. Mit der Strenge der Nachgeborenen urteilen die Dechiffriererinnen Williams und Lange: „Es ist aufschluss- und lehrreich, überzeugend aber nicht.“

    Hätte Fallada nach der Machtergreifung der Nazis überhaupt in Deutschland bleiben dürfen? Hat er die Möglichkeiten, in innerer Emigration dem Druck und der Kompromittierung durch das Dritte Reich zu widerstehen, überschätzt? Hat er nicht bemerken wollen, dass an allem, was unter den Nazis veröffentlicht wurde, der „Geruch von Blut und Schande“ klebt, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg Thomas Mann formulierte?
    Was der gequälte Autor in der Zelle über seine jede Emigrationspläne verhindernde Heimatliebe zu Papier bringt, klingt manchmal nach nationaler Gartenlaube: „Denn ich liebe dieses Volk, das der Welt unvergängliche Klänge geschenkt hat und weiter schenken wird. Hier sind Lieder gesungen wie in keinem Lande der Welt, hier in Deutschland erklangen Töne, die man nicht wieder hören wird, wenn dieses Volk untergeht! So treu, so geduldig, so standhaft dieses Volk - und so leicht zu verführen! Weil es gläubig ist - jedem Scharlatan glaubt es.“

    Aber wegen der deutschen Töne und auch der „Bäume und der Bienen“ (Fallada) im Nazi-Reich zu bleiben - das wäre bloß lächerlich, wenn Falladas Gefängnistagebuch ein gefühlsduseliger Herzenserguss bliebe. Doch mit fortschreitender Lektüre verdunkelt sich das Bild: keine Bäume, keine Bienen und keine Komponisten mehr. Fallada erscheint als ein Zeitgenosse, dem sich erst allmählich die Augen öffnen für Verhängnis und Mitschuld.

    Große Töne bestimmen den Anfang der Aufzeichnungen, lustige Lokalrunden in Berlin, auf denen die Arrivierten über die gerade an die Macht gekommenen Nazis spotten - der Verleger Ernst Rowohlt voran, den Fallada seit den frühen zwanziger Jahren kennt und dem er in kameradschaftlicher Verbundenheit ein Denkmal setzt.

    Doch dann zieht Fallada mit Frau und Familie aufs Land und begegnet der brutalen Wirklichkeit. Seine Wirtsleute, eigentlich gescheiterte Existenzen, sind geldgierige Denunzianten, die den Schriftsteller der mordlüsternen SA ausliefern - kleine Leute, nun plötzlich groß und schrecklich.

    Fallada macht diese Erfahrung mit dem Bäume-Bienen-Beethoven-Volk mehr als einmal. Da gelingen ihm großartige Schilderungen vom flachen braunen deutschen Land, von der alles beherrschenden Stimmung aus Angst und Gier, von Rücksichtslosigkeit jenseits jeder Moral.

    Doch der eingesperrte Autor weiß, dass auch er selbst nicht bloß die verfolgte Unschuld vom Lande ist. Er hat sich mit dem Propagandaapparat eingelassen. Er hat sich nach langem Zögern bereit erklärt, die von ihm verfasste Filmvorlage für den „Eisernen Gustav“, die Fahrt eines Berliner Pferdedroschkenkutschers nach Paris, im Sinne der Nazis mit einem neuen Schluss zu versehen: Gustav, der störrische Modernisierungsverweigerer, kommt in ein politisch gewendetes Hakenkreuz-Berlin zurück.

    Dass aus dem Film nichts wurde, weil ihn der oberste NS-Mythenmeister Alfred Rosenberg verhinderte, erleichtert Fallada keineswegs, sondern führt im Tagebuch zu Hassausbrüchen gegen den gerade durch Frauenaffären geschwächten Goebbels.

    Fallada, wie immer in Geldnot, erklärt sich bereit, einen „nichtantisemitischen antisemitischen Roman“ im Auftrag des Propagandaministeriums zu liefern. Das Manuskript ging verloren. Fallada, der persönlich kein Antisemit war und nach der Machtergreifung eine Jüdin in seinem Hause wohnen ließ, benutzt in seinem Tagebuch Redewendungen, die erschauern lassen.

    So belustigt er sich über den Rowohlt-Lektor Paul Mayer: „Das gute Gewissen des Verlages, unser aller Freund und Berater, unbestechlich, getreu: nichts als ein kleiner degenerierter Jude von knapp 35 Kilo Gewicht und grotesk hässlich.“ Die Unentschuldbarkeit dieser Sprache wird Fallada erst 1945 bewusst, als er in einer eigenhändigen und früh abgebrochenen Klarschrift seiner Aufzeichnungen solche Passagen abmildert.

    Gleichzeitig entstehen Aperçus über den Schauspieler Emil Jannings, bei Fallada ein von Goebbels und der NS-Filmwirtschaft umhätscheltes, herrschsüchtiges Mimenkind, und auf den Karikaturisten e. o. plauen, den Schöpfer der beliebten Bildergeschichten von Vater und Sohn, den Denunziationen in den Selbstmord trieben. Auch was Fallada über das unglückliche Leben eines ehemals kommunistischen Musiklehrers schreibt, an dem sich die SS rächt, ist von rührender emotionaler Eindeutigkeit. Doch Erkenntnis mischt sich bei ihm immer mit Blindheit - ein sehr deutsches Phänomen.

    Am Ende geht der Tagebuchschreiber auf die Flucht. Er träumt sich in eine Idylle und phantasiert von einem Kellergewölbe, einem unterirdischen Palast, den er für sich und seine Familie unter seinem Haus gebaut hat - mit Blumen, schön eingerichteten Zimmern und künstlichen Aussichten auf deutsche Landschaften.

    Als der Krieg vorbei ist, entsteigt Fallada seinem erträumten Bunker. Die Menschen stammeln, wenn sie nach Hitler gefragt werden. Eine Frau stellt den aus ihrer unterirdischen Fluchtburg wieder Auferstandenen die Frage, die sich alle Deutschen hätten stellen müssen: „Wie konntet ihr das tun?“
    Fallada hat versucht, unter Lebensgefahr eine Antwort zu geben. Sie konnte nur unbefriedigend ausfallen.

    NIKOLAUS VON FESTENBERG

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