Reisen nach Somalia und Afghanistan sind lebensgefährlich. Doch die Schweiz schafft in diese Länder aus. Sie ist darin Europameister.
Der Trip nach Afghanistan war ein totaler Flop. Die Behörden am Hauptstadt-Flughafen von Kabul hatten sich quergestellt und die Schweizer Polizisten gezwungen, den Asylbewerber, den die Ordnungshüter eigentlich in seine Heimat zurückschaffen wollten, wieder mitzunehmen. Nach dieser gescheiterten Ausschaffung im September 2017 versuchte die Schweiz nie wieder, einen abgewiesenen Asylbewerber gegen seinen Willen nach Afghanistan abzuschieben.
Erst vor wenigen Wochen änderte sich das: «Nach fast zweijähriger Blockade konnte im März 2019 erstmals wieder eine polizeilich begleitete Rückführung durchgeführt werden», so das Staatssekretariat für Migration (SEM) in einem internen Papier, das SonntagsBlick vorliegt.
Ausschaffungen sind lebensgefährlich
Die Entwicklung war ganz nach dem Geschmack der neuen Chefin: «Dank intensiver Verhandlungen» sei die «zwangsweise Rückkehr nach Afghanistan» wieder möglich, lobte Karin Keller-Sutter jüngst bei einer Rede anlässlich ihrer ersten
100 Tage als Bundesrätin.
Afghanistan, das sich im Krieg mit Taliban und Islamischem Staat (IS) befindet, gilt als Herkunftsland mit prekärster Sicherheitslage. Ausschaffungen dorthin sind höchst umstritten – anders gesagt: lebensgefährlich.
Auch der Hinweis des Aussendepartements lässt keinen Zweifel: «Von Reisen nach Afghanistan und von Aufenthalten jeder Art wird abgeraten.» Diese Woche entschied der Basler Grosse Rat aus humanitären Gründen, dass ein junger Afghane nicht nach Österreich abgeschoben werden darf – weil er von dort in seine umkämpfte Heimat weitergereicht worden wäre.
Erste Rückführung nach Somalia
Noch einen Erfolg vermeldet das SEM: Auch nach Somalia war im November wieder die polizeiliche Rückführung eines Asylbewerbers gelungen – zum ersten Mal seit Jahren.
Somalia fällt in die gleiche Kategorie wie Afghanistan, in die Kategorie Lebensgefahr. «Solange sich die Lage vor Ort nicht nachhaltig verbessert, sollte die Schweiz vollständig auf Rückführungen nach Afghanistan und Somalia verzichten», warnt Peter Meier von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.
Das SEM hält dagegen: Wer rückgeführt werde, sei weder persönlich verfolgt, noch bestünden völkerrechtliche, humanitäre oder technische Hindernisse. Ob es sich bei den Abgeschobenen um sogenannte Gefährder handelt – also um potenzielle Terroristen und Intensivstraftäter – oder lediglich um harmlose Flüchtlinge, lässt das SEM offen.
56 Prozent werden zurückgeschafft
Was die beiden Einzelfälle andeuten, gilt gemäss aktuellster Asylstatistiken generell: Wir sind Abschiebe-Europameister! «Die Schweiz zählt auf europäischer Ebene zu den effizientesten Ländern beim Wegweisungsvollzug», rühmt sich das SEM im besagten internen Papier. In Zahlen: 56 Prozent der abgewiesenen Asylbewerber werden in ihr Herkunftsland zurückgeschafft. Der EU-Durchschnitt liegt bei 36 Prozent.
Die Schweiz beteiligt sich nämlich nicht nur an der europäischen Rückkehrpolitik, sondern hat auch direkte Abkommen mit 64 Staaten getroffen; dieses Jahr kamen Äthiopien und Bangladesch hinzu: «Dem SEM ist kein Staat bekannt, der mehr Abkommen abgeschlossen hätte.»
Zwar ist die Schweiz stolz auf ihre humanitäre Tradition, aber nicht minder stolz, wenn sie in Sachen Ausschaffung kreative Lösungen findet. Zum Beispiel: Weil Marokko keine Sonderflüge mit gefesselten Landsleuten akzeptiert, verfrachtet die Schweiz abgewiesene Marokkaner aufs Schiff – «als fast einziger Staat Europas», wie das SEM betont. Oder diese Lösung: Während die grosse EU mit Nigeria seit Jahren erfolglos an einem Abkommen herumdoktert, hat die kleine Schweiz seit 2011 ihre Schäfchen im Trockenen. Das SEM nennt seinen Deal mit Nigeria «ein Musterbeispiel» für die nationale Migrationspolitik.
Weniger als 4000 Ausreisepflichtige
Entsprechend gering sind die Pendenzen im Vollzug. Zwar führen Algerien, Äthiopien und Eritrea die Liste der Staaten an, bei denen Abschiebungen weiterhin auf Blockaden stossen. Aber weniger als 4000 Personen fielen Ende 2018 in die Kategorie abgewiesener Asylbewerber, die sich weigern auszureisen oder deren Heimatland sich bei Ausschaffungen querstellt. 2012 waren es beinahe doppelt so viele. Nun sind es so wenige wie seit zehn Jahren nicht mehr.
Zum Vergleich: Deutschland meldete im gleichen Zeitraum mehr als 200’000 ausreisepflichtige Personen. Diese Woche beschloss die Bundesregierung weitere Gesetze für eine schnellere Abschiebung.
Hinter dem Bild einer effizienten Schweizer Abschiebungsmaschinerie verbirgt sich ein unmenschliches Geschäft: Es geht um zerstörte Leben, verlorene Hoffnung, um Ängste, Verzweiflung und Not. Rückführungen sind keine Flugreisen, sondern eine schmutzige Angelegenheit – Spucke, Blut und Tränen inklusive. Bei Sonderflügen wird unter Anwendung von Gewalt gefesselt, es kommt zu Verletzungen bei Asylbewerbern wie Polizisten. Selten hört man davon.
Gezielte Abschreckung
Die Schweiz verfolge eine Vollzugspraxis, die auf Abschreckung ziele und nicht vor Zwangsausschaffungen in Länder mit prekärer Sicherheits- und Menschenrechtslage haltmache, kritisiert Peter Meier von der Flüchtlingshilfe: «Das Justizdepartement gibt dabei dem innenpolitischen Druck nach.»
Gemeint ist die SVP, die seit Jahren vom Asylchaos spricht. Das Dublin-System, das regeln soll, welcher Staat für die Prüfung eines Asylgesuchs zuständig ist, funktioniere nicht, so einer der Vorwürfe. «Selbst jene, die bereits in einem anderen Land registriert wurden, können oft nicht zurückgeschickt werden», heisst es im Positionspapier der SVP zur Asylpolitik.
Das SEM sieht auch das anders: «Für kaum ein europäisches Land funktioniert Dublin so gut wie für die Schweiz», heisst es in dem internen Papier. Man überstelle deutlich mehr Personen an Dublin-Staaten, als man selbst von dort aufnehme. Die neusten Zahlen bestätigen das: 1760 Asylbewerber wurden im letzten Jahr in andere Dublin-Staaten überstellt. Nur 885 Menschen nahm die Schweiz von ihnen auf.
«Ausnahmen gibt es selbst bei
besonders verletzlichen Personen kaum», kritisiert die Flüchtlingshilfe; die Dublin-Praxis sei äusserst restriktiv.
Das Schweizer Abschiebewesen hat offenbar viele Seiten, vor allem aber ist es gnadenlos effizient.