Ringvereine gegen Zimmermänner : Die « Schlacht am Schlesischen Bahnhof » vor 90 Jahren

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  • Von wegen Verrohung: Was die Massenschlägerei am Alexanderplatz wirklich aussagt - Berlin - Tagesspiegel Mobil
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    Der Streit zwischen zwei Youtubern endet in realer Gewalt. Es kommt einem so vor, als ob alles immer schlimmer wird. Doch das stimmt nicht.

    Die Woche bot wieder mal eine gute Gelegenheit, sich zu fragen: Sind in dieser Stadt jetzt endgültig alle verrückt geworden? 400 junge Menschen versammelten sich am Donnerstag auf dem Alexanderplatz und starteten eine Massenschlägerei.

    Die Polizei nahm neun Randalierer fest, zwei Beamte wurden verletzt, der Einsatz zog sich bis in den späten Abend, weil die verfeindeten Lager anschließend noch im Gleisbett der U 8 mit Schottersteinen schmissen. Das alles angeblich nur, weil auf Youtube zwei sogenannte „Influencer“ miteinander in Streit geraten waren. Geht es eigentlich noch kaputter? Und vor allem: Drohen solche Eskalationen jetzt häufiger?

    Gefühlt nehmen in Berlin die Ereignisse, angesichts deren Beklopptheit man sich nur an den Kopf fassen kann, stetig zu. Das könnte ein Zeichen einer fortschreitenden Verrohung sein, ein Beleg für allgemeinen Werteverfall, besonders in Zeiten des Internets und seiner Begleiterscheinungen, besonders in dieser Stadt. Es kommt einem so vor, als ob alles immer schlimmer wird. Die gute Nachricht lautet: Das stimmt nicht.

    Zunächst ist da bloß der subjektive, wenn auch sehr verbreitete Eindruck. Er kommt zustande, weil unser Hirn den meisten Irrsinn, der um uns herum geschieht, gnädigerweise bald verdrängt oder ihm zumindest die Dramatik nimmt, als ulkige Anekdote abspeichert – weil er eben zum Glück herzlich wenig mit dem eigenen Leben zu tun hat.

    Was waren wir zum Beispiel alarmiert, als die Polizei vor zehn Jahren regelmäßig mit einem Großaufgebot an der Kreuzberger Admiralbrücke durchgreifen musste, weil Hunderte Feiernde spätnachts die Anwohner störten. Oder als 2013 das überfüllte Freibad Pankow geräumt werden musste, weil Bademeister bedroht wurden und Randale ausbrach.

    Oder als ein 18-Jähriger in Frohnau 2016 über Whatsapp Fremde zu einer Party einlud und diese dann so arg eskalierte, dass 60 Polizisten und ein Hubschrauber nötig waren, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Oder als 2007 der Media-Markt im Alexa öffnete und 5000 Menschen derart drängelten, dass es 15 Verletzte und riesigen Sachschaden gab. Oder als ein Jahr später der Ostbahnhof lahmgelegt wurde, weil sich 1500 per Handy dazu verabredet hatten, simultan 10.300 Burger zu bestellen – und das eine Diskussion auslöste, wie gefährlich sie sind, diese neuartigen Flashmobs.

    Hatten Sie alles schon vergessen, oder?

    Dass sich Anhänger von Fußballklubs prügeln, ist weniger verstörend, weil seit Langem bekannt. Die Schlägerei am Alexanderplatz kommt uns auch deshalb so bekloppt vor, weil wir sie nicht verstehen. Weil man sich als Außenstehender nicht vorstellen kann, weshalb sich Menschenmassen wegen eines Streits unter zwei Youtubern attackieren sollten.

    Doch es ist so: Je näher man hinschaut, desto verständlicher wird es. Was nicht bedeutet, dass man eine Gewalttat auf dem Alexanderplatz dann gutheißt, im Gegenteil. Es bedeutet, dass man die Motive der Schläger erkennt – und begreift, dass eben nicht alles immer schlimmer und verrückter wird. Und dass eine Stadt, zumal eine wie Berlin, damit fertig werden wird.

    Worum es bei dem Streit wirklich ging

    Fremd ist vielen schon allein das Berufsbild des „Influencers“. Das sind Menschen, die andere übers Internet an ihrem Leben teilhaben lassen. Die in Videos Schminktipps geben, Computerspiele testen oder einfach Geschichten aus dem Teeniealltag erzählen – und genug Fans haben, die sich das anhören wollen.

    Sie teilen ihre Gedanken und Emotionen, sie sind ihren meist ebenfalls jungen Anhängern so wichtig wie früheren Generationen die Lieblingsfigur aus „Verbotene Liebe“ oder noch früher das Popidol in der „Bravo“. Die beiden 18-jährigen „Influencer“ namens Bekir und Bahar, die mitsamt ihren Fans auf dem Alexanderplatz aneinandergerieten, hatten sich zuvor über Wochen in Videos beleidigt. Sie hatten auch etliche andere „Influencer“ beleidigt, für einen kleinen Teil dieser Szene gehört das dazu.

    Auf Außenstehende wirken solche Streits absurd, es fallen Sätze wie „Meine Livestreams sind sehr viel besser als alle deine Livestreams zusammen“ oder „Ich ficke deine Videos“. Bekir zum Beispiel hatte vor Bahar schon mit Jounes auf Instagram Streit. Grund dafür war, dass Jounes ein Video kommentiert hatte, in dem sich Bekir mit Ali Hakim stritt (Bekir sagte, Ali Hakim sei Abschaum, weil der zuvor jemand Dritten beleidigt hatte). Mittlerweile hat sich Bekir auf Youtube immerhin beim Vater von Jounes entschuldigt, den hatte er ebenfalls beleidigt. Angeblich aber nur, weil Jounes gedroht hatte, Bekirs Mutter zu beleidigen.

    Eine Zeitlang hatte Bekir auch Streit mit A.B.K. und Lecanko. Und mit Sila, doch diesen Streit haben sie beigelegt und verabredet, dass Bekir ab sofort nicht mehr schlecht über Sila redet und sie nicht mehr schlecht über ihn. „Jeder Streit hat einen Grund“, sagt Bekir in einem Video. Meistens einen sehr infantilen, aber immerhin einen Grund.

    Zivilisierter als die Rapper damals
    Dass sich junge, von anderen angehimmelte Menschen gegenseitig beleidigen und handgreiflich werden, gab es schon vor 15 Jahren bei den sogenannten Gangsta-Rappern. Deren Sprache war allerdings brutaler, manchmal wurden Messer gezückt. Unrühmlicher Höhepunkt war, als dem Berliner Rapper Massiv 2008 von Unbekannten in den Arm geschossen wurde.

    Seine Feinde streuten das Gerücht, er habe das selbst getan, um Aufmerksamkeit zu erhalten, was der Rapper aber rigoros bestritt. Jedenfalls tragen die heutigen Youtuber ihre Konflikte im Vergleich zu den Rappern damals sehr viel zivilisierter aus. Nix Verrohung. Nix alles immer schlimmer.

    Leider fallen einem positive Veränderungen selten auf. Wie vorbildlich sich etwa die jungen Menschen heute bei Rockkonzerten benehmen. Wer hätte das vor 50 Jahren voraussagen können, nachdem die Fans der Stones damals die Waldbühne verwüstet hatten? Im 20. Jahrhundert gab es Vorfälle, bei denen sich Anhänger verschiedener Musikstile gegenseitig die Köpfe einschlugen. 2019 schwer denkbar.

    An diesem Freitag hat die Polizei eine weitere Massenschlägerei verhindert. In Köpenick wollten zwei Gruppen junger Männer aufeinander losgehen, die Polizei war durch einen anonymen Anruf gewarnt. Sie stellte Messer, Schlagstöcke und Elektroschocker sicher. Ob „Influencer“ anwesend waren, ist unklar.

    Selbst der Dauerrivale ist geschockt

    Die beiden Youtuber vom Alexanderplatz haben sich inzwischen bei ihren Fans entschuldigt. Für das angerichtete Chaos, fürs Angstmachen, fürs Pfefferspray in der Luft. Bahar entschuldigte sich zudem bei der Polizei, Bekir dankte den Beamten, dass sie vor Ort waren und eingriffen. 17.000 Menschen gefällt das. Dauerrivale Jounes (der, der sich bei der Sache mit Ali Hakim eingemischt hatte) lud ebenfalls ein Video hoch, in dem er sämtlichen Beteiligten sein Mitgefühl aussprach. Klingt alles ziemlich vernünftig.

    Die übelste Massenschlägerei, die es zuletzt in Berlin gab, brach übrigens in der Kneipe „Naubur“ in Sichtweite der Oberbaumbrücke los. Lokale Kleinkriminelle gerieten mit einer größeren Gruppe zugereister Hamburger in Streit. Zuerst wurden Billardqueues eingesetzt, später auch Eisenstangen und Messer. Am Ende gab es zwei Tote und zehn Schwerverletzte. Die Schlägerei fand im Dezember 1928 statt.

    #Berlin #Mitte #Alexanderplatz

    Ringvereine gegen Zimmermänner: Die „Schlacht am Schlesischen Bahnhof“ vor 90 Jahren - Friedrichshain
    https://www.berliner-woche.de/friedrichshain/c-blaulicht/die-schlacht-am-schlesischen-bahnhof-vor-90-jahren_a196351

    10. Januar 2019
    Thomas Frey Wegen des Fernseh-Mehrteilers „Babylon Berlin“ war zuletzt der Blick in das nächtliche, halbseidene Berlin der 1920er-Jahre angesagt. In diese Kategorie passen auch die Ereignisse vom Dezember 1928 rund um den heutigen Ostbahnhof.

    Sie sind als „Schlacht am Schlesischen Bahnhof“ nicht nur in die Verbrechensgeschichte eingegangen. Ihre Bilanz: zwei Tote, mehrere Dutzend zum Teil schwer Verletzte; über 200 Beteiligte, vor allem Hamburger Zimmerleute und Mitglieder der sogenannten Berliner Ringvereine.

    Die Ringvereine hatten nach den Ereignissen vor 90 Jahren ungefähr den Ruf, den heute arabische und andere Großfamilien genießen: kriminelle Organisationen, die in den Bereichen Einbruch, Hehlerei, Schutzgelderpressung oder Prostitution unterwegs waren, mit Dominanz etwa um den Schlesischen Bahnhof. Damals ein Hotspot der Halb- und Unterwelt.

    Die Ringbrüder bewerteten sich selbst als eine Art soziale Organisation. Hilfe für in Not geratene Mitglieder stellten sie als Vereinsziel heraus. Saß jemand von ihnen im Gefängnis, kümmerten sie sich um seine Familie und halfen nach der Entlassung häufig beim Wiedereinstieg in den ursprünglichen „Beruf“.

    Das Gebiet am Schlesischen Bahnhof stand unter weitgehender Kontrolle des Ringvereins „Immertreu 1921“. Der hatte bereits vor der Eskalation kurz nach Weihnachten 1928 ein Problem mit den Hamburger Zimmermännern. Die waren zwecks Arbeit am Bau der heutigen U-Bahnlinie 5 nach Berlin abkommandiert worden. Deren großspuriges Auftreten gepaart mit schlagkräftigen Argumenten stellte die Autorität der Immertreuen auf eine harte Probe. Auch dadurch, dass sich manche Kneipenwirte durch die Hamburger genügend geschützt sahen und dem Ringverein das Schutzgeld verweigerten.

    Verschwundene Jacke war Auslöser
    Trotzdem plädierte Immertreu-Geschäftsführer Adolf Leib, genannt „Muskel-Adolf“, für Abwarten. Das Thema hätte sich spätestens nach Ende des U-Bahnbaus erledigt, meinte er. Die heutige U5 eröffnete im Dezember 1930, zunächst bis Friedrichsfelde. Dass es dann auch bei Muskel-Adolf zu einem Meinungsumschwung kam, hatte als Ursache eine verschwundene und dann wieder gefundene Zimmermannsjacke. Ihr erneutes Auftauchen feierte der Besitzer samt Kollegen am Abend des 28. Dezember exzessiv im Lokal „Klosterkeller“ an der Klosterstraße. Aus dem Gelage entwickelte sich Krawall. Ein Zimmermann stieß Biergläser um und krakeelte. Als ihn der Wirt zum Verlassen aufforderte, widersetzte er sich. Nun griffen auch andere Gäste ein, es kam zu einer Schlägerei, bei der der renitente Hamburger mit einem Messer um sich stach. Das Resultat war ein Schwerverletzter, der wenige Tage später starb.

    Bei dem Toten handelte es sich um ein Mitglied des „Männergesangvereins Norden 1891“. Dahinter verbarg sich ebenfalls eine Ringformation. Solidarität anderer „Brüder“ war deshalb angesagt. Vor allem die von Immertreu.

    Die Abrechnung folgte am nächsten Abend. Und zwar im und vor dem Lokal „Naubur“ an der damaligen Breslauer Straße 1 (heute Straße Am Ostbahnhof), eine der Stammkneipen der Zimmerer. Zunächst wurden dort nur Muskel-Adolf sowie ein fünfköpfiges Gefolge vorstellig, unter anderem der Wirt des Klosterkellers, der den Messerstecher identifizieren sollte. Weitere Unterstützer warteten auf der Straße. Als der Mann erkannt war, forderte ihn Muskel-Adolf zum Gang nach draußen auf. Der folgte zunächst mehr oder weniger bereitwillig, stoppte aber an der Tür, als er die Menschenmenge sah. In diesem Moment bekam er einen Schlag auf den Kopf und wurde auf die Straße geworfen. Damit begann der erste Teil der Auseinandersetzung.

    Die Zimmermänner kamen dem Kameraden zu Hilfe und attackierten die Immertreuen mit ihren Werkzeugen. Die Kontrahenten wehrten sich mit Stuhlbeinen und Billardqeues. Aus dem Lokalmobiliar wurde schnell Kleinholz.

    Da die Ringbrüder zunächst in der Minderheit waren, zogen sie sich nach einigen Minuten zurück und forderten über eine Telefonkette Verstärkung an. Auch die Polizei traf kurz darauf mit drei Einsatzkräften ein. Ihre Nachforschungen blieben ergebnislos. Die Beamten zogen wieder ab, gaben vorher noch den Rat, die Rollläden herunterzulassen.

    Bis zu 100 Schüsse fielen
    Erst danach begann die eigentliche Schlacht. Nach und nach trafen Ringbrüder, häufig per Taxi, ein. Sie verschwanden im Lokal „Leos Hof“, das schräg gegenüber des Naubur lag. Auch die Zimmerleute hatten bei der Maurergilde um Unterstützung nachgesucht. Sechs Maurer machten sich auf den Weg, vier wurden abgefangen und zusammengeschlagen. Was wiederum die Zimmermänner auf die Straße trieb.

    In den folgenden rund 20 Minuten wurde nicht nur mit Fäusten gekämpft. Auch zwischen 60 und 100 Schüsse fielen. Dazu kamen weitere Waffen zum Einsatz. Muskel-Adolf soll einem Kombattanten eine Axt aus der Hand gerissen haben. Beim späteren Prozess wurde ihm dies zugute gehalten.

    Als die anrückenden Sirenen des Überfallkommandos zu hören waren, suchten die Immertreuen samt Verwundeten das Weite. Zurück blieben zahlreiche schwer verletzte Zimmermänner und Maurer. Einer starb auf dem Weg ins Krankenhaus, ein weiterer Beteiligter einige Tage später in der Klinik. Die Todesursache waren bei ihm aber nicht die Blessuren der Schlacht, sondern eine Grippeerkrankung plus Lungenentzündung. Letztere hatte er sich im Krankenhaus zugezogen.

    Milde Haftstrafen und Freisprüche
    Die Ereignisse am Schlesischen Bahnhof sorgten für ein nicht zuletzt mediales Nachhutgefecht. Detailliert widmeten sich die Zeitungen den Gewaltexzessen und den Ringvereinen. Die Polizei, so ein Vorwurf, habe sie zu lange mehr oder weniger geduldet. Ändere sie das jetzt, ginge das womöglich über ihre Kräfte.

    Dass den Syndikaten nicht so ohne weiteres beizukommen war, zeigten auch die folgenden Wochen. Zunächst waren mehr als 20 Mitglieder verhaftet worden. Bis auf zwei kamen alle bald wieder auf freien Fuß. Sie hatten die Auseinandersetzung als eine Art „Scherz“ bezeichnet. Auch ein Verbot der Ringvereine Immertreu und Norden musste nach etwa einem Monat wieder aufgehoben werden.

    Beim Prozess, der vom 4. bis 9. Februar 1929 stattfand, wurden ihre neun Angeklagten durch Dr. Dr. Erich Frey und Dr. Max Alsberg vertreten, zwei der bekanntesten Strafverteidiger der Weimarer Republik. Zeugen konnten sich an nichts mehr erinnern oder gar jemanden erkennen. Adolf Leib erklärte, er habe den Messerstecher nur ausfindig machen wollen, um ihn anschließend der Polizei zu übergeben. Außerdem wurde ihm der verhinderte Axt-Angriff zugute gehalten. Leib erhielt eine Gefängnisstrafe von zehn Monaten, ein weiterer Angeklagter wurde zu fünf Monaten verurteilt. Für die anderen gab es Freisprüche.

    Skurrile Popularität
    Was blieb, war ein gestiegener Bekanntheitsgrad der Ringbrüder und eine Art schaurig-skurrile Popularität. Als der Regisseur Fritz Lang 1931 seinen Film „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ drehte, wurde Muskel-Adolf als Berater engagiert. Denn in dem Werk ging es um einen Kindermörder, auf den sowohl die Polizei, als auch Unterweltorganisationen Jagd machen.

    Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten kam das Ende der Ringvereine. Viele ihrer Mitglieder landeten im Konzentrationslager. Auch Adolf Leib. Sein weiteres Schicksal ist nach 1934 unbekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nicht zuletzt in Kreuzberg eine Art Comeback des Ringwesens. In den 1960er-Jahren endete auch diese Epoche, aber nicht die Geschichte des Verbrechens und von Verbrecherorganisationen in Berlin.

    Zahlreiche Informationen für diesen Text stammen aus dem Buch „Pistolen Franz und Muskel Adolf“ von Regina Stürickow. Es ist 2018 im Elsengold-Verlag erschienen und kostet 26 Euro.

    Zeitgeschichte: Die Schlacht am Schlesischen Bahnhof - Berlin - Tagesspiegel Mobil
    https://www.tagesspiegel.de/berlin/zeitgeschichte-die-schlacht-am-schlesischen-bahnhof/1405284.html

    29.12.2008 Ulrich Zander Abrechnung im Milieu: Vor 80 Jahren lieferten sich Berliner Gauner und Hamburger Zimmerleute mehrtägige Massenschlägereien.

    Wie aus dem Ei gepellt betreten die acht Herren an jenem Winterabend das Lokal „Armelien“ nahe dem Schlesischen Bahnhof in Friedrichshain. Mit Frack, Zylinder, Lackschuhen und den weißen, seidenen Halstüchern erweisen sie „Latten-Paule“, den sie kurz zuvor zu Grabe getragen haben, ihre Reverenz. Im „Naubur“, so wird das Lokal in der Breslauer Straße 1 (heute: Am Ostbahnhof / Ecke Holzmarktstraße) nach seinem Besitzer genannt, hat man nun noch etwas zu erledigen. Denn hier treffen sich die rund 40 Hamburger Zimmerleute, die beim Bau der neuen U-Bahnlinie Gesundbrunnen-Leinestraße beschäftigt sind. Die selbstbewussten Hanseaten sind diversen Berliner „Ring-, Spar- und Sportvereinen“ – syndikatähnlichen Zusammenschlüssen einheimischer Diebe, Betrüger, Räuber, Einbrecher, Zuhälter, Rauschgifthändler, Falschspieler und vor allem Schutzgelderpresser – ein Dorn im Auge. Denn die Hünen von der Waterkant untergraben schon durch ihre bloße Anwesenheit die Autorität von „Muskel-Adolf“ Leib, dem klein gewachsenen Vorsitzenden des „Geselligkeitsvereins Immertreu“ und seinen Mannen. So hatte es Wirt Naubur gewagt, seinen „Schutzvertrag“ mit den Berliner „Brüdern“ just aufzukündigen, als die Zimmerleute als Stammgäste einzogen. Die Immertreu-Vereinsfahne hängt noch im Schankraum an der Wand.

    Und es gab noch einen weiteren Anlass, den respektlosen Handwerkern zu zeigen, wo der Hammer hängt. Denn einen Tag zuvor, am 28. Dezember, hatten die Hamburger in einer Kneipe, ebenfalls im übel beleumundeten Kiez rund um den Schlesischen Bahnhof, gefeiert. Ein betrunkener 18-jähriger Geselle war dabei Berliner Ringbrüdern zu nahe gekommen. Gegen die unvermeidliche Abreibung hatte er sich in seiner Not mit dem Messer zur Wehr gesetzt. Erst als die Hamburger arg ramponiert vor die Tür gesetzt sind, bemerken die verbliebenen Gäste, dass ein „Bruder“ namens Malchin vom „Männer-Gesangverein Norden“ – eine mit Immertreu befreundete Unterweltvereinigung – niedergestochen am Boden liegen geblieben war. Er schwebt in Lebensgefahr.

    Da man laut Vereinssatzung zum gegenseitigen Beistand verpflichtet ist, ist nun die Zeit gekommen „den Hund totzuschlagen“. Es trifft sich gut, dass augenscheinlich nur wenige Hamburger in der Gaststube sind. Der Messerstecher vom Vortag kauft gerade bei „Aale-Hehde“ sein Abendessen, als sich die Immertreuen auf ihn stürzen und zusammenschlagen. Doch die im Hinterzimmer sitzenden Handwerker werden auf den Überfall aufmerksam und stürmen dem bedrängten Kollegen zu Hilfe. Muskel-Adolfs Leute greifen zu Billardqueues, schlagen mit Tisch- und Stuhlbeinen zu. Schnapsflaschen und Räucheraale sausen durch die Luft, Glas splittert, und die Zimmerleute stellen die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten ihres Werkzeugs unter Beweis. Hämmer, Beile Winkeleisen und Hobel krachen auf die Berliner nieder. Ins kollektive Gedächtnis ist der Fischhändler eingegangen. Er gerät zwischen die Fronten und ruft im größten Tohuwabohu immerzu „Aale, Aale“ – dann schwinden ihm die Sinne. Nach zirka zehn Minuten sind die Hanseaten Herren der Lage und Muskel-Adolf bläst zum Rückzug. Zuvor war ihm noch eine besondere Demütigung zuteil geworden: Der Altgeselle der Zimmerer, „ein riesiger Kerl mit großen blanken Messingohrringen“, hatte dem Immertreu-Chef mit der Faust auf den Zylinder gehauen, so dass der ihm über die Ohren hinunterrutschte: Muskel-Adolf sieht aus wie eine Schießbudenfigur, die ehemals elegante Festtagskleidung ist ruiniert.

    Noch im Hinausgehen, die Verletzten werden selbstverständlich mitgenommen, schwören die Ringbrüder Vergeltung für ihren missratenen Rachefeldzug. Als die Polizei eintrifft, herrscht trügerische Ruhe. Ermittlungen sind zum Scheitern verurteilt, da lediglich ein Ganove festgenommen werden konnte, der sich an nichts erinnert, da er „von hinten wat uffn Kopp“ erhalten hatte. Auch die Hamburger schweigen sich gegenüber „der Polente“ lieber aus. Die Gaffer am Rande der, wie eine Zeitung schrieb, „interessanten Abendunterhaltung“, meist Strichmädchen und der als „Rattenjungs“ berüchtigte Ganovennachwuchs, wollen als Urheber der Schlägerei „Pollacken“ ausgemacht haben. Bevor die Beamten abziehen, befehlen sie den Hamburgern, sich bis Sonnenaufgang im „Naubur“ einzuschließen. Ein schwerer Fehler.

    Denn inzwischen hatten sich die Brüder unbemerkt direkt gegenüber in „Leos Hof“ zurückgezogen und „Ringalarm“ ausgelöst. Im Immertreu-Stammhaus, dem „Schwarzen Walfisch“ und in diversen Kaschemmen in Moabit und am Wedding, rund um den Alexanderplatz und in Neukölln schrillten die Telefone: „Alarmstufe drei.“ Das hieß, alle verfügbaren „Streitkräfte“ haben sich umgehend zur Breslauer Straße aufzumachen. Auch die Hamburger bemühen sich um Verstärkung. Von sechs befreundeten Berliner Maurern kommen jedoch nur zwei durch. Die anderen werden abgefangen und verdroschen.

    „Reinstürmen und zusammenschlagen“ – so lautet Muskel-Adolfs taktische Anweisung. Gegen Mitternacht wird die Kneipentür eingetreten und rund 150 Ringbrüder von „Immertreu“ und „Norden“ gehen auf die verbliebenen etwa 20 Zimmerleute los. Die nachfolgende, rund zwanzigminütige „Schlacht am Schlesischen Bahnhof“ stellte alles in den Schatten, was der an Brutalität gewohnte Kiez bislang erlebt hatte. Das Naubur ist innerhalb kürzester Zeit völlig zertrümmert, Leos Hof stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Breslauer und die angrenzenden Seitenstraßen sehen aus wie nach einem Bombenangriff. Hier winden sich stöhnend und schreiend die Verletzten. Die „Brüder“ kämpfen mit Dolchen und Eisenstangen, die Hanseaten verteidigen sich mit Äxten und Messern. Gebrochene Rippen, zertrümmerte Nasen, eingeschlagene Köpfe, und überall Blut. Als die Zimmerer partout nicht kapitulieren wollen, ziehen Ringbrüder ihre Revolver. Später werden rund 100 Patronenhülsen aufgesammelt.

    Der Berliner Maurergeselle Mörlitz, der auf Seiten der Zimmerleute kämpfte, liegt tot auf dem Pflaster. Auch von einem zweiten Todesopfer, einem Hamburger, ist später die Rede. Zehn schwer verletzte Hanseaten werden in nahe liegende Krankenhäuser gebracht. Der Messerstecher hat schwer verletzt überlebt.

    Schlagzeilen wie „Verbrecher-Verein Immertreu überfällt Hamburger Zimmerleute“, oder „Der Kampf der Zimmerer gegen die Unterirdischen“ belegen, dass die Sympathien der Berliner Presse auf Seiten der Handwerker liegen. Doch das soll sich bald ändern.

    Die Polizei verhaftet die üblichen Verdächtigen, darunter den an der Schlaghand verletzten Adolf Leib. Unter dem Druck der Öffentlichkeit verbietet der Polizeipräsident die Ringvereine. Die reagieren sofort. Am Silvestertag, so erinnert sich der berühmte Berliner Rechtsanwalt Erich Frey, entern „acht kesse Fürstinnen, wie man sie nur bei ,Walterchen, dem Seelentröster‘ oder in der ,Femina‘ traf“, sein Büro. Die „Brautens vom Vorstand von Immertreu“ unter Führung von Hulda Spindler, genannt „Aktien-Mieze“, breiten wertvollen Schmuck („det is keene heiße Ware“) auf dem Tisch des Anwalts aus und bitten ihn, die Verteidigung zu übernehmen. Frey sagt zu. Und da er nun gegen Polizeiführung, Presse und öffentliche Meinung kämpft, tut er etwas völlig Außergewöhnliches. Er zieht seinen schärfsten Konkurrenten, den zweiten Berliner Staranwalt, Max Alsberg, hinzu.

    Der fünftägige Prozess beginnt am 4. Februar 1929 vor dem Moabiter Kriminalgericht. Es gelingt dem um drei Kollegen erweiterten Verteidigerstab durch konsequente Verharmlosung der Ringvereine, die Sympathien weg von den Handwerkern auf die Seite der Verbrecher zu ziehen. Denn inzwischen wurde bekannt, dass Malchin seinen Stichverletzungen erlegen ist – und es auch in Dresden und Kiel zu handfesten Auseinandersetzungen mit Zimmerleuten gekommen war, die flugs in einen Zusammenhang mit dem Zuhältermilieu gebracht wurden. Die Verhandlung wird zur Farce. Unschuldsengel überall. Niemand hatte etwas gesehen, denn „es war ja dunkel“. Die wenigen Aussagewilligen werden von den Anwälten als unglaubwürdig dargestellt. Sämtliche Hauptbelastungszeugen gegen „Immertreu“ fallen um (was, wie es später hieß, von den Brüdern mit je 300 Reichsmark honoriert wurde). Als Erich Frey während der Verhandlung sein edler Pelzmantel gestohlen wird, nutzt er das zu einer geradezu grotesken Verklärung der Immertreuen: „Sehen Sie, Herr Richter, solche Diebstähle würden nicht vorkommen, wenn man die Vereinsbrüder wieder gewähren lässt. Sie haben solche Dinge verhindert.“

    Muskel-Adolf wird wegen einfachen Landfriedensbruchs zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt, ein weiterer Bruder, „Mollen-Albert“, erhält fünf Monate. Der Anklagepunkt der Körperverletzung mit Todesfolge wird fallen gelassen, da ungeklärt bleibt, wer geschlagen, zugestochen oder geschossen hat. Die übrigen sieben Angeklagten werden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. „Norden“ und „Immertreu“ dürfen sich anschließend über die Wiederzulassung ihrer Vereine freuen. Auch der Hamburger Messerstecher ist freigesprochen worden. Das Gericht hat ihm Notwehr zugebilligt.

    Noch einmal gerät der „Immertreu“-Chef in die Schlagzeilen, als ihn Regisseur Fritz Lang nicht ganz freiwillig als gut bezahlten „Berater“ für seinen weltberühmten, 1931 uraufgeführten Film „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ engagiert. Darin jagen die Ringvereine, um ihrer Ganovenehre besorgt, im Wettlauf mit der Polizei einen mehrfachen Kindermörder.

    Der „Kellner und Geschäftsführer“ Adolf Leib kommt einige Jahre später wie die meisten Ringbrüder als „Berufsverbrecher“ in einem Konzentrationslager der Nazis ums Leben.

    Heiligabend 1929 erhält Erich Frey ein Paket. Darin ein wertvoller Pelzmantel mit der Nachricht: „Ehrlich verloren, ehrlich erworben. Aktien-Mieze.“

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