• Kriegsertüchtigung - Ampel zerlegt Sozialstaat
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    Lindner am Donnerstag abend bei »Maybrit Illner« : »Das Wichtigste ist, dass keine neuen Sozialausgaben dazukommen« 

    La situation est grave. La droite et les libéraux ne se gênent plus. Ils proclament : des canons ou du beurre, il faut choisir. La majorité des allemands paiera pour la guerre. So it goes.

    4.2.2024 von Raphaël Schmeller - Finanzminister Lindner will Aufrüstung mit Kürzungen finanzieren. Armutsforscher spricht von »sozialpolitischer Zeitenwende«

    Die Ampelkoalition will Deutschland kriegstüchtig machen. Und weil das ins Geld geht, führt für Finanzminister Christian Lindner kein Weg an Sozialkürzungen vorbei. Ein »mehrjähriges Moratorium bei Sozialausgaben und Subventionen« sei nötig, um mehr in die Aufrüstung investieren zu können, erklärte der FDP-Politiker am Donnerstag abend bei »Maybrit Illner«. Clemens Fuest, Präsident des kapitalnahen Ifo-Instituts und ebenfalls Gast der ZDF-Sendung, fügte zustimmend hinzu: »Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht. Sondern Kanonen ohne Butter.« Der Sozialstaat werde noch nicht abgeschafft, »aber er wird kleiner«, so ­Fuest. Auch die dritte in der Runde, die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang, sagte, Deutschland müsse mehr Geld in die Hand nehmen, um die Ukraine zu unterstützen und Europa bei der Verteidigung unabhängiger von den USA zu machen.

    In der vergangenen Woche hatte Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz angedeutet, dass Kürzungen bei Renten und Sozialausgaben nötig sein könnten, um die Verteidigungsausgaben langfristig zu erhöhen. »Deutschland investiert dieses Jahr und auch in den kommenden Jahren, in den Zwanziger-, den Dreißigerjahren und darüber hinaus zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung«, so Scholz auf der Konferenz. Er fügte hinzu: »Mein Ziel ist es, dass wir nach dem Auslaufen des Sondervermögens die Ausgaben für die Bundeswehr aus dem allgemeinen Haushalt finanzieren.« Nach Berechnungen des Spiegels würde das im Jahr 2028 Ausgaben von 107,8 Milliarden Euro bedeuten. Zum Vergleich: Der aktuelle Verteidigungsetat des Bundes beträgt 51,9 Milliarden Euro. Um diese Ausgaben zu decken, müsste also an anderer Stelle gekürzt werden – an welcher, hat Lindner nun bekanntgegeben.

    Der Armutsforscher Christoph Butterwegge verurteilte die »sozialpolitische Zeitenwende« der Ampelkoalition am Freitag gegenüber jW. »Was von Christian Lindner als Moratorium erklärt wird, läuft in Wahrheit auf eine Demontage des Wohlfahrtsstaates hinaus. Denn wenn die sozialen Probleme wie bereits seit geraumer Zeit deutlich zunehmen, die Ausgaben aber nicht mehr mitwachsen dürfen, handelt es sich um reale Kürzungen in diesem Bereich«, so Butterwegge. Deutschland stehe vor der Alternative: Rüstungs- oder Sozialstaat. »Setzen sich Bum-Bum Boris Pistorius, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter und Co. mit ihren Hochrüstungsplänen durch, wird sich die schon jetzt auf einem Rekordstand befindliche Armut noch verschärfen.«

    Auch der Bundestagsabgeordnete und BSW-Generalsekretär Christian Leye kritisierte Lindners Ankündigung scharf: »Während Rüstungskonzerne Dividendenpartys feiern, sollen Menschen, die ohnehin auf dem Zahnfleisch gehen, noch mehr bluten«, erklärte er gegenüber dieser Zeitung. »Dass sich Vertreter der Regierungsparteien am Wochenende gegen rechts auf die Straße trauen, obwohl sie den Rechten die Wähler von Montag bis Freitag in die Arme treiben, grenzt an Hohn.«

    Nach einem Bericht der Financial Times vom Freitag hat weltweit kein Rüstungskonzern so stark vom »Revival der europäischen Verteidigungspolitik« profitiert wie Rheinmetall. Die Düsseldorfer rechnen bis 2026 mit einer Verdoppelung des Umsatzes auf bis zu 14 Milliarden Euro.

    #Allemagne #guerre #austérité

  • Sozialreform in Deutschland: Dem Umsturz vorbauen
    https://www.jungewelt.de/artikel/461153.sozialreform-in-deutschland-dem-umsturz-vorbauen.html


    Dem Staatsgebäude ein paar stützende Säulen einziehen, um es vor dem Einsturz zu bewahren. Karikatur zur Sozialreform in der sozialdemokratischen Satirezeitschrift Der wahre Jakob, Januar 1884

    Le bougeois sous le Kaiser comprenaient qu’il leur fallait freiner la montée du parti social-démocrate. Il nous ont légué une association de bienfaiteurs le Verein für Socialpolitik VfS.

    24.10.2023 von Ingar Solty - Kathedersozialliberale. Vor 150 Jahren wurde der Verein für Socialpolitik gegründet.

    Die immer stärker werdende Arbeiterbewegung in den 1870er Jahren zwang das Bürgertum zu einer Reaktion. Die Kombination aus Erster Internationale (1864–1872) und Pariser Kommune 1871 hatte den Herrschenden das Herz in die Hose rutschen lassen. Der Beginn einer weltumspannenden kapitalistischen Krise verstärkte 1873 die Angst vor einer sozialistischen Revolution. Der Aufstieg der Sozialdemokratie zur Massenpartei schien diese Angst zu bestätigen. Die Reaktion der Herrschenden zeigte zwei verschiedene Tendenzen: einerseits die buchstäbliche Reaktion, die eine demokratische Mobilisierung der Arbeiterklasse mit dem althergebrachten Mitteln aus Unterdrückung und ideologischer Ablenkung im Keim ersticken sollte. Andererseits der weitgefasste »Sozialliberalismus« (Reinhard Opitz), der den Arbeitern entgegenkam, um ihnen den umstürzlerischen Wind aus den Segeln zu nehmen.

    Die erste Strömung setzte auf Demagogie: Die 1876 gegründete Deutschkonservative Partei, die evangelische Kirche unter dem Berliner Domprediger Adolf Stoecker und die »Berliner Bewegung« mobilisierten den Antisemitismus. Das verfing vor allem bei den Grundbesitzern, weil die ökonomische Wut über globalisierte Agrarkonkurrenz, Deflation und Kreditnot sich als Judenhass kanalisieren ließ. Zugleich sollte der Antisemitismus auch die Arbeiter gewinnen. In diesem »Präfaschismus« (Hans-Jürgen Puhle) waren bereits wesentliche Elemente der faschistischen Bewegung herausgebildet.

    Die zweite Strömung entstand in den ideologischen Staatsapparaten. Es brauchte praktische Integrationsangebote, um die mit dem Kapitalismus entstandenen Unsicherheiten einigermaßen abzufedern und die widerspenstige Arbeiterklasse davon zu überzeugen, dass das kapitalistische System und die althergebrachten undemokratischen Hierarchien doch tolerabel seien. Die Geschichte vereint Elemente beider Strömungen, wobei die »Ordnungspartei« dominant blieb: Bei Bismarcks »Zuckerbrot-und-Peitsche«-Politik war das Parteiverbot (»Sozialistengesetz«, 1878–1890) entscheidend und ging auch der Einführung der eingeschränkten Sozialversicherung von 1884 voraus.

    Sozialkonservative Bündnispläne

    Im Geist der Reform von oben zur Verhinderung der Revolution von unten wurde vor 150 Jahren der einflussreiche und bis heute existente »Verein für Socialpolitik« (VfS) gegründet. Lange bezeichnete man die dort Organisierten als »Kathedersozialisten«. Das Attribut »Katheder« verweist auf deren universitäre Verankerung. Sozialismus nannten die Herrschenden in dieser Zeit indes alles, was von der wirtschaftsliberalen Orthodoxie abwich. In Wahrheit handelte es sich bei der Hauptströmung im VfS um Sozialliberale. Sie stellten den krisenhaften Kapitalismus nicht prinzipiell in Frage, sondern diskutierten, welche Sozialpolitik – Regulierung, Redistribution, Staatsinterventionismus – nötig sei, um ihn zu stabilisieren. Es entstand so unter dem Druck von unten und in der Krise der liberalkapitalistischen Weltordnung die Theorietradition der Institutionellen Politischen Ökonomie zwischen Marxismus einerseits und der sich herausbildenden altwirtschaftsliberalen Neoklassik andererseits. Zu ihr zählen letztlich John Stuart Mill, die Historische Schule der Nationalökonomie, Werner Sombart, Max Weber, John Maynard Keynes, John K. Galbraith, u. a.

    Die Bemühung um eine Sozialreform war indes älter. Die Sozialkonservativen im Umfeld von Bismarcks Geheimrat Hermann Wagener und der von ihm herausgegebenen Berliner Revue hatten schon in den 1860er Jahren die weltgeschichtliche Bedeutung der Arbeiterbewegung erkannt und versucht, den Agrarier Bismarck für ein Bündnis der konservativen, kapitalistisch gewordenen Grundbesitzerpartei mit der Industriearbeiterklasse zu gewinnen. Dies entstand im antirevolutionären Geist des »sozialen Königtums« (Lorenz Stein). Es sollte zugleich den Reichskanzler, dessen Machtbasis eine »Klassensymbiose von Junkertum und Bourgeoisie« (Lothar Machtan/Dietrich Milles) war, aus der Abhängigkeit vom liberalen Bürgertum befreien, das parlamentarisch die Mehrheit bildete. Bismarck hatte sich, wie auch sein Briefwechsel mit Lassalle zeigt, hierfür zunächst offen gezeigt.

    Ein solches Bündnis wäre freilich zwangsläufig auf Kosten der Landarbeiterklasse gegangen. Denn die ostelbischen Großgrundbesitzer, die sich im Zuge der »Bauernbefreiung« sukzessive das Agrarland der Kleinbauern unter den Nagel gerissen hatten, waren nicht bereit, sich auf die Vorschläge der Berliner Revue für einen Normalarbeitstag für Landarbeiter einzulassen.

    Daraus ergaben sich aber neue Widersprüche. Mit der Krise des Junkertums wurden sie offensichtlich. Die kleinen sozialkonservativen Kreise beschäftigten sich mit der Agrarfrage weniger aus Sorge um die Landarbeiter, sondern aus Angst vor der Agrarmonopolisierung und ihren Folgen. Sie erschien ihnen aus staatspolitischen Gründen heikel, weil sie eine doppelte Abwanderung zur Folge hatte: nach Nordamerika und in die Städte. Damit verbunden war die Angst vor landwirtschaftlichem Arbeitskräftemangel, der Polonisierung der östlichen Kolonialgebiete (vor allem Ostpreußens), der Wehrunfähigkeit im Osten und des Verlusts der Ernährungssouveränität. Die Abwanderung in die Städte ließ zudem einen Bedeutungszuwachs der Arbeiterbewegung und des Sozialismus auch im Militär befürchten.

    Das kleine und mittlere Grundeigentum sollte aus all diesen Erwägungen heraus erhalten werden. Es entzündete sich eine Debatte über dessen Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem agrarischen Großgrundbesitz. Die Abwanderung verschärfte sich dabei in dem Maße, wie die »Große Depression« auch Ergebnis der Globalisierung der Agrarmärkte war, was eine »Große Deflation« und einen entsprechenden Abwertungsdruck für die Landarbeit sowie intensivierten Rationalisierungsdruck für die ostelbisch-gutsherrschaftliche Landwirtschaft bedeutete. Insofern aber die Finanzkrise bei den Banken eine restriktive Politik des Geldverleihs bewirkte, verteuerten sich die für die Rationalisierung nötigen Kredite. Diese »Kreditnot des Grundbesitzes« (Karl Rodbertus) war die Triebkraft des Antisemitismus, weil die Konservativen die Wut auf das Finanzkapital gegen die Juden richteten.

    Die Angst vor der Arbeiterbewegung wiederum war die Triebfeder der »Eisenacher Versammlung zur Besprechung der sozialen Frage« vom 6. bis 8. Oktober 1872. Aus ihr ging ein Jahr später der »Verein für Socialpolitik« hervor. Mitten in diesem Prozess ereignete sich allerdings die bis dahin größte Krise des Kapitalismus. Seit dem Winter 1872/73 gab es die ersten Warnsignale. Schließlich kam es zwischen dem 23. April und dem 1. Mai zum Wiener Börsencrash mit Kursverfall und Panikverkäufen. Im Juni erreichte die Finanzkrise Berlin. Am 15. September brach die New Yorker Bank Jay Cooke & Co. zusammen, die den Eisenbahnbau finanziert hatte. Es folgte die »Große Depression« (Hans Rosenberg), die bis 1896 anhielt.

    Die Krise warf neue Fragen auf. Sie war eine »organische« (Antonio Gramsci), insofern sich in ihr ausdrückte, dass der bisherige Entwicklungstyp des Kapitalismus an seine inneren Grenzen gestoßen war. Mit der Entstehung der großen Konzerne vollzog sich der Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus. Die Überakkumulation produzierte Überschusskapital auf der Suche nach profitablen Anlagesphären und intensivierte internationale Spannungen. Aus diesem Grund forderten die neu entstandenen Verbände von Großgrundbesitz und Industriekapital nun Schutzzölle. Zugleich drängten die nationalen Bourgeoisien zur Gewährleistung von Kapitalexport und zum Schutz von Auslandsinvestitionen ihre Staaten in Richtung Kolonialismus. So war die Weltwirtschafts- auch eine Transformationskrise. Auf dem Weg des Krisenmanagements verwandelte sich der alte liberale Konkurrenzkapitalismus im Rahmen der freihändlerischen »Pax Britannica« in den »Organisierten Kapitalismus« (Rudolf Hilferding) der zwischenimperialistischen Rivalitäten in einem fragmentierten Weltmarkt der Kolonialreiche. Der Kurs in Richtung Erster Weltkrieg war damit gesetzt.
    Ideologie der nachholenden Nation

    Der Umbruchprozess war notwendigerweise auch ein intellektueller. In den Diskussionen im VfS lässt sich die krisengetriebene Theoriegeschichte der politischen Ökonomie nachvollziehen. Dazu gehört, wie Sozialreform und Staatsinterventionismus, die ursprünglich der Revolutionsabwehr dienen sollten, sich im Kontext der Krise mit einer Orientierung auf einen auch nach außen starken Staat vermengten. Überhaupt besteht seit Cecil Rhodes und Joseph Chamberlain ein enger Zusammenhang zwischen bürgerlicher Sozialreform und Imperialismus, weil dieser als die einzige nichtrevolutionäre Lösung der sozialen Frage erschien. In Deutschland verkörpert diese Verbindung wohl niemand prominenter als Max Weber, der eine tragende Rolle im VfS spielte und sowohl Abhilfe gegen die »Marktabhängigkeit« der Lohnarbeiter wie auch einen starken Staat anstrebte, etwa gegen die »Polonisierung« im Osten.

    1872/73 war die Situation jedoch noch offen. Der zugespitzte Gegensatz von Kapital und Arbeit und die Krise offenbarten die Notwendigkeit einer Reform. Die allgemeine Tendenz in der Wirtschaftswissenschaft der Zeit bestand darin, die angelsächsische liberale Orthodoxie zu hinterfragen und die Rolle des Staates in der Wirtschaft neu zu verhandeln. Die Frage war, wie stark der Bruch ausfallen sollte. Die »Historische Schule« von Bruno Hildebrand und ihrem wichtigsten Schüler Gustav Schmoller wandte sich gegen abstrakten Utilitarismus und betonte das Historische, Institutionelle, Kulturelle, Besondere. Allgemeine Annahmen über den liberalen »Nachtwächterstaat«, den Freihandel usw. als Nonplusultra für alle Zeiten und alle Staaten seien abzulehnen. An die Stelle des theoretischen Abstraktionismus und seiner in Frage gestellten Annahmen setzte man empirisch-induktive Verfahren. Joseph Schumpeter und die zeitgleich entstehende neuliberale Österreichische Schule warfen der Historischen Schule daher Theorielosigkeit vor. Auch aus marxistischer Sicht ist festzustellen, dass sie als Teil der Institutionellen Politischen Ökonomie kaum mit dem Wirtschaftsliberalismus bricht, sondern den kapitalistischen Markt zum Ausgangspunkt nimmt, um dann mehr oder weniger starke Ausnahmen zu definieren.

    Die Kritik der angelsächsischen Ökonomik blieb dabei freilich nicht nur wissenschaftliche Auseinandersetzung. Vielmehr handelte es sich um die ideologische Entsprechung des Konflikts zwischen britisch-imperialem Herzland und einem nachholend sich entwickelnden »hobbesschen Randstaat« (Kees van der Pijl). Zu Recht verwies die Historische Schule gemeinsam mit dem Marxismus auf die Tatsache, dass die Marktvergötterung der Angelsachsen verschweige, dass der Staat durchaus eine wesentliche Rolle in der Entstehung des englischen Kapitalismus gespielt hatte, und zwar sowohl in der gewaltsamen Herstellung von »doppelt freien Lohnarbeitern« während der ursprünglichen Akkumulation als auch in der merkantilistischen Abschottung der Wirtschaft in der kapitalistischen Frühentwicklung. Entsprechend suchte die Historische Schule die notwendige Staatslenkung im nachholenden Deutschland zu begründen.

    Allerdings würde es zu kurz greifen, den VfS nur als Indikator einer nationalen Kurskorrektur anzusehen. Im Kontext von Revolutionsfurcht, zugespitzter internationaler Konkurrenz und Krise war er auch Ausdruck der »Großen Transformation« (Karl Polanyi) und dem damit einhergehenden Paradigmenwechsel. Als solcher wurde er auch von seinen Feinden erkannt. So schrieb Friedrich August von Hayek in »Der Weg zur Knechtschaft« (1944) zutreffend: »Über zwei Jahrhunderte hatten englische Ideen ihren Weg ostwärts genommen (…). Um das Jahr 1870 (…) setzte eine rückläufige Bewegung ein (…). Von nun an wurde Deutschland zum Zentrum, von dem die Ideen, die die Welt im 20. Jahrhundert regieren sollten, nach Osten und Westen ausgingen«: Hegel, Marx, List, Schmoller, Sombart, Mannheim.

    Die Positionen im VfS waren indes kaum einhellig. Es gab heftige Richtungsstreitigkeiten. Sie erfolgten insbesondere zwischen Historischer Schule und den stärker kapitalismuskritischen Sozialkonservativen. Deren wesentliche theoretische Vertreter waren Karl Rodbertus, in Eisenach vertreten durch den Berliner Revue-Redakteur Rudolf Meyer, und der Nationalökonom Adolph Wagner. Es ist Dieter Lindenlaubs Schrift »Die Richtungskämpfe im Verein für Socialpolitik« (1966) zu verdanken, dass die nachträgliche Homogenisierung des VfS entmythologisiert wurde. Sie ergab sich durch die Niederlage der Sozialkonservativen während der Gründungsphase. Die Krise von 1873 hatte deren »Staatssozialismus« noch verstärkt. Standen bis dahin regulatorische Vorhaben wie die Fabrikinspektion, der Arbeiterschutz, der Normalarbeitstag zur Behandlung der Arbeiterfrage sowie das Rentenprinzip von Rodbertus und die Grundentschuldung zur Behandlung der Agrarfrage im Vordergrund, so änderte sich dies mit der Krise, weil sich nun auch sehr viel stärker gesamtwirtschaftliche Steuerungsfragen aufdrängten: für oder gegen den Schutzzoll, für oder gegen staatliche Rettungen privatwirtschaftlicher Akteure, für oder gegen Verstaatlichungen?

    Projekt Staatssozialismus

    In diesem Kontext radikalisierten die Sozialkonservativen ihre »staatssozialistischen« Vorstellungen und operierten mit frühen Formen der makroökonomischen Wirtschaftssteuerung. Die Bezeichnung »Kathedersozialismus« als Gegenprinzip zum Manchesterkapitalismus ist insofern nicht ganz falsch, als sie sich, auf ein Kontinuum Markt – Staat bezogen, stärker in Richtung Staat bewegt. Dies erkannte selbst der dem alten Wirtschaftsliberalismus zugeneigte Lujo Brentano an: Alle »Kathedersozialisten« seien »zu neuer Anerkennung der Berechtigung der Staatseinmischung in das Wirtschaftsleben« gekommen. Damit ist aber noch nicht ausgesagt, wie stark und zu welchem Zweck.

    Die Sozialkonservativen plädierten für ein Bündnis von Grundbesitz und Arbeiterklasse in Gegnerschaft zu den Bürgerlich-Liberalen, die genau das zu verhindern trachteten. Artikuliert wurde der Konflikt in Form der Frage nach der Tiefe der Korrekturen an der kriselnden liberalen Orthodoxie. Die konservativen »Staatssozialisten« Wagener und Meyer befanden sich im Richtungsstreit indes in der strukturell unterlegenen Position. Es war von daher nicht verwunderlich, dass in Eisenach neben Meyer (als Zögling von Rodbertus und Wagener) zwischenzeitlich noch zwei weitere Akteure auftraten: Adolph Wagner, seit 1870 Professor für Nationalökonomie in Berlin, und Hermann Roesler, Professor für Staatswissenschaft in Rostock.

    Wagner hatte am 12. Oktober 1871 auf der freien kirchlichen Versammlung evangelischer Männer in Berlin einen vielbeachteten Vortrag gehalten, der 1872 als »Rede über die soziale Frage« publiziert wurde. In ihm stellte er sich grundsätzlich gegen die liberale Wirtschaftstheorie. In der Folge hatte er auch Tuchfühlung zu den Sozialkonservativen aufgenommen. Seither kooperierten sie eng, was Wagner auch stärker mit Rodbertus verband, der sich von außen in den Konstituierungsprozess des VfS einschaltete.

    Meyer reiste zusammen mit Wagner nach Eisenach. Rodbertus zeigte sich in einem Brief an Meyer vom 17. September 1872 zuversichtlich, dass man hier würde reüssieren können. Der Brief belegt, wie sehr Rodbertus die Gegensätze zwischen »staatssozialistischen« Sozialkonservativen und sozialliberalen »Kathedersozialisten« bewusst waren: »Seit dem Frühjahr (…) glaubte ich, die Kathedersocialisten würden unter sich sein. Nun sehe ich an den andern Namen (…), dass die ganze Angelegenheit ihrem Chef W[agener] in die Hände gespielt ist.« Meyer merkte dazu später an: »R[odbertus] war, nicht mit Unrecht misstrauisch, allein hier ging er zu weit. Die Kathedersocialisten handelten nicht unter den Impulsen Wageners sondern der [liberalen] Delbrückclique (…). Wageners Stellung war schon damals unhaltbar, da er die ganze liberale Bureaukratie gegen sich und Bismarck nur noch hie und da für sich hatte.« Er selbst sei »in Eisenach (…) sofort in die heftigste Opposition zum Gros der Kathedersocialisten« geraten. Diese Einschätzung Meyers teilte auch Brentano, neben Schmoller und Wagner der prominenteste Eisenacher. In seinen Lebenserinnerungen weist auch er auf die isolierte Stellung der Sozialkonservativen hin: »Wagner erwartete vom preußischen Königtum die Förderung (der) kulturhistorischen Entwicklung« der »Verminderung des (Privat-)Eigentumsumfangs als leitendes Prinzip im Kulturgang der Rechtsentwicklung«. In Eisenach habe »1872 nur (…) Meyer (…) diesen Anschauungen Sympathie entgegengebracht.«

    Die erheblichen Unterschiede zwischen Sozialliberalen und »Staatssozialisten« offenbarten sich in ihren Auffassungen über Pläne für die Fabrikinspektion, die Einführung von Mindestlöhnen, einer Sozialversicherung und progressiven Einkommenssteuer, für öffentliche Beschäftigungsprogramme, Verstaatlichungen und den Rechtsschutz für gewerkschaftliche Lohnverhandlungen und Tarifverträge. Am heftigsten tobte der Konflikt über die Besteuerung der großen Einkommen, Verstaatlichungen und die Stärkung von Gewerkschaftsrechten. Dabei nahmen die Sozialkonservativen in all diesen Fragen die »sozialistischere« Position ein, was Rodbertus im Brief an Meyer zu der Aussage führte: »Wie kann man Sie aber die äusserste Rechte in der socialen Frage nennen? Sie repräsentiren ja die äusserste Linke.«

    Auch Brentano bestätigt in seinen Erinnerungen, dass man sich im VfS über die Differenzen bewusst war: »Wagner (…) stimmte in dem, was er wollte, weder mit meiner Auffassung noch mit der von Schmoller und Gneist überein (…). (E)r wollte die soziale Reform prinzipiell und in allen ihren Teilen aufrollen (…). Die Zeit sollte nun bald zeigen, welche Auffassung berufen sei, dem Verein das Gepräge zu geben (…). Auf dem Kongress von 1875 erschien nun Rudolf Meyer allein, um einen von ihm und von Rodbertus unterzeichneten Antrag zu stellen, dem Reichskanzler das Ersuchen auszusprechen, der deutschen Industrie sowie den bei derselben beteiligten Unternehmern und Arbeitern sowohl nach außen wie nach innen den Schutz zu gewähren bzw. zu verschaffen, welcher in Anerkennung des Wertes der Arbeit und der eigengearteten Stellung der deutschen Industrie als das alleinige Mittel erscheint, unsere in Frage gestellte Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt und den sozialen Frieden auf dem heimischen Markt wiederzugewinnen. Meyer wünschte, dass sein Antrag an einem dritten Kongresstage verhandelt werde, um bis dahin soviel Sukkurs heranzuziehen, dass der Antrag angenommen worden wäre. Mit seiner Annahme wäre der Verein (…) Wagener ausgeliefert gewesen. Um dies zu verhindern, habe ich (…) auf Grund (…) unserer Geschäftsordnung, dass jeder Antrag drei Wochen vor der Versammlung bekannt zu geben sei, beantragt, Meyers Antrag als unzulässig abzuweisen. So geschah es. Meyer stampfte vor Wut und verließ zornig den Saal.« Kein Wunder, dass Meyer Brentano fortan als Erzfeind bezeichnete.

    Die »Staatssozialisten« blieben mit ihren Forderungen nach »Nationalisierung der wichtigsten Dienstleistungsindustrien, insbesondere derjenigen, welche bereits unter beinahe monopolistischen Bedingungen arbeiteten wie z. B. auf den Gebieten der Transport- und Kommunikationsmittel, des Bank- und Versicherungswesens, der Kraftwerke und öffentlichen Versorgungsbetriebe« letztlich isoliert.

    So konsequent nun aber Wagner wirtschaftlich war, so eng verknüpft blieb sein Staatssozialismus mit der »Staatsräson«. Er pries den »preußischen Kameralismus« und redete dem Machtstaat das Wort. Dazu gehörte die Propagierung des Kolonialismus. Die Demokratie lehnte er ab. So oder so: Wagner und die Sozialkonservativen unterlagen. Nicht lange danach verließ Wagner den Verein.

    Im »Nationalen« unterschied sich Wagner kaum von Schmoller. Während dem Liberalen Brentano die Nachahmung des englischen Liberalismus vorschwebte, der Arbeiterforderungen über die Gewerkvereine in die liberale Partei integriert hatte, wollte Schmoller die Gesellschaft durch Sozialreformen einen, als Voraussetzung für eine Machtstaatpolitik nach außen.

    Meyer wiederum ging nach der Niederlage im VfS auch mehr und mehr zum Reichskanzler auf Distanz, als sich abzeichnete, dass dieser in Richtung Schutzzoll, Sozialistengesetz und (Kolonial-)Imperialismus gehen würde, womit sich die Hoffnung auf den »staatssozialistischen« Cäsaren zerschlagen hatte. 1877 warf er Bismarck in »Politische Gründer und die Corruption in Deutschland« persönliche Vorteilsnahme vor. Mit Wagner entzweite er sich später in der Frage der Agrarzölle und des Kolonialismus. In »Die Ursachen der amerikanischen Concurrenz« (1883) attackierte er ihn auch in einem Atemzug mit den »Kathedersocialisten, welche (…) noch immer glauben, Fürst Bismarck sei ein socialer Reformator«. Wagners national-sozial-imperialistischen Kurs wollte er nicht mittragen: Er wende sich »mit Abscheu von jenem Chauvinismus ab, der von der Tribüne des Parlaments einer Großmacht (…) mit jener Macht und Größe prahlt, welche wir 1866 und 1870 zwei Nachbarn gegenüber bewiesen haben.«
    Das Elend der Neoklassik

    Der Richtungsstreit von einst kennzeichnet den VfS heute nicht mehr. Dabei gäbe es für Kontroversen ausreichend Grund. Insofern als Ergebnis des Siegs der neoliberalen Konterrevolution jedoch der Druck von unten fehlt, ist er dieser Tage ein homogen dem Wirtschaftsliberalismus und der Neoklassik verschriebener Zusammenschluss. Man könnte auch von einer Versammlung der Kathederneoliberalen sprechen, und insofern wäre der Name »Verein gegen Socialpolitik« passender. Zu den Vorsitzenden gehörten in jüngerer Zeit der Marktdoktrinär Hans Werner Sinn und die aktuelle Vorsitzende der »Wirtschaftsweisen« der Bundesregierung, Monika Schnitzer, die sich u. a. für die Rente mit 70 und viele weitere »alternativlose« Sozialkürzungsmaßnahmen stark macht.

    In jedem Fall hat sich der VfS von seinem Gründungskonsens zum Scheitern wirtschaftsliberaler Politik weit entfernt. Streit findet heute in getrennten Organisationen statt. Im Nachgang der globalen Finanzkrise, die das Elend und den Autismus der Neoklassik und ihrer Annahmen zu »homo oeconomicus«, Gleichgewichtstheorem usw. offenbarte, entwickelte sich der Widerstand heterodoxer Ökonomen. 2012 gipfelte er in einer Gegenkonferenz. Die Kritiker forderten »Theorienvielfalt statt geistiger Monokultur«, »Methodenvielfalt statt angewandter Mathematik« und »Selbstreflexion statt unhinterfragter, normativer Annahmen«. Konsultationen, die eine Erweiterung des Spektrums ergeben sollten, scheiterten.

    Die angesichts der heutigen Systemkrise anstehende Erneuerung des wirtschaftstheoretischen Denkens dürfte sich jenseits des VfS vollziehen. Vielleicht trifft sich die alternative politische Ökonomie irgendwann noch einmal in Eisenach. Von dort kam ja auch nicht das schlechteste Programm der sozialistischen Arbeiterbewegung, das im Bürgertum für ein solches Fracksausen sorgte, dass der VfS überhaupt entstehen konnte.

    #histoire #Allemagne #aide_sociale #counterinsurgency #VfS

  •  »Berufliche Perspektiven wurden zerstört« 
    https://www.jungewelt.de/artikel/416344.antikommunismus-berufliche-perspektiven-wurden-zerst%C3%B6rt.html?s


    Rund 20.000 Menschen demonstrierten am 14. April 1973 in Dortmund gegen Berufsverbote

    Depuis bientôt 50 ans pour les communistes et d’autres personnes affichant des convictions de gauche les emplois dans la fonction publique allemande sont inaccessibles. Le "Berufsverbot" existe toujours dans les Länder où gouvernent le partis de droite.

    11.12.2021 von Lenny Reimann - Die »AG Berufsverbote« der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat eine Ausstellung zum Thema Berufsverbote erstellt, die bei der XXVII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 8. Januar 2022 gezeigt werden wird. Was hat es damit auf sich?

    Wir engagieren uns nunmehr seit Jahren dafür, dass Berufsverbote aufgehoben sowie deren Opfer entschädigt und rehabilitiert werden. Um den politischen Druck zu erhöhen und jüngere Generationen über dieses düstere Kapitel der deutschen Geschichte aufzuklären, haben wir eine Ausstellung mit insgesamt 18 Tafeln erstellt, die bei der RLK gezeigt werden soll.

    Am 28. Januar 1972 verabschiedeten die Ministerpräsidenten der Länder der BRD unter Vorsitz von Kanzler Willy Brandt, SPD, den sogenannten Radikalenerlass. Ziel war es, vermeintliche Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Wie viele Menschen waren davon betroffen?

    In Westdeutschland kam es bis 1986 zu etwa 3,5 Millionen politischen Überprüfungen aufgrund des »Radikalenerlasses«. Davon wurden in mehr als 10.000 Fällen Berufsverbotsverfahren eingeleitet. Rund 2.250 Bewerberinnen und Bewerber wurden daraufhin nicht eingestellt, 256 Beamtinnen und Beamte wurden entlassen. In Westberlin waren die Behörden sogar noch aktiver.

    Richtete sich die staatliche Kriminalisierung einzig gegen Kommunisten?

    Mehr als 90 Prozent der sogenannten Radikalen waren Linke. Es ging aber nicht nur um Mitglieder der DKP oder der SEW. Betroffen waren auch Gewerkschafter und Friedensbewegte sowie maoistische oder trotzkistische Gruppierungen. Auch Sozialdemokraten, die sich in der Außerparlamentarischen Opposition engagierten, und viele junge Menschen, die gegen den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze, für Frauenrechte oder für eine demokratische Bildungsreform kämpften, standen im Visier. Es reichte damals schon, mit »Verdächtigen« in einer WG zu wohnen oder einen »Kapital«-Lesekurs besucht zu haben, um in die Fänge des sogenannten Verfassungsschutzes zu geraten.

    Welche Folgen hatte diese Kriminalisierung für die Betroffenen?

    Die berufliche Perspektive vieler junger Menschen wurde zerstört. Jahrelange Prozesse und finanzielle Nöte brachten viele nicht nur an die nervlichen Grenzen. Bekanntester Fall war in Westberlin Hans Apel, verbeamteter Lehrer mit vielen Meriten und zugleich SEW-Mitglied. Trotz großer Protestbewegung war seine Entlassung nicht zu verhindern.

    Wenn nicht die breite Solidaritätsbewegung Mut gemacht hätte, wäre der Widerstand leicht gebrochen. So aber solidarisierten und politisierten sich viele mit den Betroffenen: Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schüler, Studierende und Lehrlinge auf Demonstrationen und Kundgebungen.

    Die Verabschiedung des »Radikalenerlasses« jährt sich im Januar zum 50. Mal. Wie schätzen Sie die Chancen auf Aufarbeitung unter der neuen Bundesregierung ein?

    Es gibt schon jetzt eine Reihe von Initiativen, die darauf abzielen, dass sich die Bundesregierung und auch die Länderregierungen mit dem Thema befassen. Wir fordern, dass die Betroffenen entschädigt und das begangene Unrecht wissenschaftlich aufgearbeitet werden sollen, wie es einige Bundesländer schon im Ansatz getan haben. Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien sieht es allerdings eher so aus, als wolle man noch schneller und effektiver gegen kritische Geister jeder Art vorgehen.

    Welche Initiativen erwarten Sie von den Gewerkschaften, um den Druck auf die politischen Entscheidungsträger zu erhöhen?

    Zum 50. Jahrestag sehen wir eine erfreuliche Unterstützung durch die GEW, Verdi und die IG Metall. Auch dies hat dazu geführt, dass wir im September dieses Jahres einen Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses erreicht haben, in dem die Berufsverbotspraxis zumindest »bedauert« wurde.

    #Allemagne #anticommunisme

  • 10.04.2021 : Abbau Ost (Tageszeitung junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/artikel/400215.armut-und-konzernmacht-abbau-ost.html

    Les dirigeants politiques en Allemagne de l’Est font détruire les logements sociaux afin de faire place aux des investisseurs privés. L’appauvrissement de grandes parties de la population continue et prépare le terrains aux faux prophètes de l’extrême droite.

    Ostdeutschland ist das Eldorado für das deutsche Kapital. Der Staat fördert Konzernansiedlungen und schröpft die lohnabhängige Bevölkerung. So ist die Zahl der Sozialwohnungen auf dem Gebiet der DDR innerhalb von vier Jahren um knapp 43 Prozent gesunken. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Frage der Bundestagsabgeordneten Caren Lay (Die Linke) hervor, wie dpa am Freitag berichtete. Obwohl neue Sozialwohnungen gebaut wurden, schrumpfte der Bestand zwischen 2015 und 2019 von 102.116 auf nur noch 58.604 Wohnungen. Am stärksten war der Rückgang in Sachsen-Anhalt (mehr als 70 Prozent), wo Ende 2019 nur noch 3.510 Sozialwohnungen übrig waren. Auch in Brandenburg sank die Anzahl um mehr als 50 Prozent auf 24.850. Das Ganze ist ein Prozess des Verfalls: Während 2019 64.456 Wohnungen aus der Sozialbindung fielen, wurden im selben Jahr nur 25.565 neue preisgebundene Wohnungen gebaut.

    Steigende Mieten befördern das Armutsrisiko. Das verfügbare Einkommen schwindet. Die Coronakrise verschärft die Lage noch. Rund 3,6 Millionen Menschen waren – ohne statistische Tricks – im März erwerbslos gemeldet. Doch die staatlichen Lohnersatzleistung reichen nicht aus. Mehr als jeder zweite ALG-I-Bezieher erhielt weniger als 1.000 Euro im Monat. In Ostdeutschland sind es sogar zwei von drei Beziehern, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland am 25. März berichtete. Die durchschnittliche Anspruchshöhe beim Arbeitslosengeld lag im Jahr 2020 bei 1.024 Euro. Im Westen waren es im Jahresschnitt 1.047 Euro, im Osten 937 Euro. Wer hierzulande weniger als 1.040 Euro im Monat verdient, gilt als armutsgefährdet.

    Die SPD nimmt diese Entwicklung geduldig zur Kenntnis: »Die Aufstiegschancen aus den unteren sozialen Lagen sind in unserem Land in den letzten Jahrzehnten gesunken und verharren auf viel zu niedrigem Niveau«, schrieb die Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe im Parteizentralorgan Vorwärts am Donnerstag. In Ostdeutschland sei die »Dynamik« noch einmal geringer als im Westen. »Der Armuts- und Reichtumsbericht zeigt uns, dass an sehr vielen Stellen noch viel für die Sozialdemokratie zu tun ist. Wir kämpfen schon seit vielen Jahren für die richtigen Reformen«, schrieb Kolbe, deren Partei das Hartz-IV-Regime installiert hat. Für ihre Genossen ist sie voll des Lobes: »Wir haben in der Pandemie immer darauf geachtet, auch die sozialen Auswirkungen der Krise abzufedern.« Doch während Großkonzerne Dividenden an Aktionäre ausschütten und vom Staat Kurzarbeitergeld kassieren, bekommen Arme und Geringverdiener kaum etwas.

    Die Firmenchefs freuen sich über die günstigen Standortvorteile im Osten. Niedrige Löhne, geringe Tarifbindung und wenig Gewerkschaftsvertreter in den Betrieben schaffen ein prima Investitionsklima. Vorneweg die Auto­industrie. Der US-Autobauer Tesla wehrt sich in seinem Werk in Grünheide vehement gegen Gewerkschaftsvertreter. Auch der Deutschland-Chef des kanadischen Batterieproduzenten Rock Tech Lithium, Dirk Harbecke, ist euphorisch. Die Subventionen seien viel höher, frohlockte er gegenüber Business Insider am 2. April. Während in Hamburg oder Hessen nur zehn Millionen Euro einzustreichen wären, kassiere sein Konzern an der Grenze zu Polen idealerweise bis zu 45 Millionen Euro vom Staat. »Man kann in Ostdeutschland viel bewegen«, so der Manager.

    #Allemagne #logement #privatisation #capitalisme

  • 25.03.2021: Ohrfeigen zum Mittagsschlaf (Tageszeitung junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/artikel/399330.literatur-ohrfeigen-zum-mittagsschlaf.html

    25.03.2021, von Jürgen Heiser - Wie Anja Röhls »Das Elend der Verschickungskinder« mein eigenes verschüttetes Trauma ans Licht holte

    Es ist eine Binsenweisheit, dass Veränderungen nur durchsetzt, wer selbst quälende gesellschaftliche Verhältnisse erleidet. Sind die Betroffenen jedoch Kinder, kann es dauern. Oft können sie selbst erst als Erwachsene aktiv werden, wenn sie gelernt haben, wie das geht: Sich wehren, Widerstand leisten. Brennend aktuelles Beispiel ist das hundertausendfache Elend der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch kriminelle Täter der Amtskirchen und die Duldung und Vertuschung durch ihre Oberen.

    Das »Elend der Verschickungskinder« in der BRD, von dem jetzt das gleichnamige Buch von Anja Röhl berichtet, war lange Zeit als individualisiertes Leiden verschüttet. Viel zu lange, wie auch der Autor dieser Buchbesprechung bestätigen kann, der selbst im Alter von neun Jahren »Erholungskind« war, wie das im Rheinland der 1960er Jahre hieß. Der Vater, Straßenbahnfahrer bei der Düsseldorfer Rheinbahn, war glücklich, seinen Jüngsten über das Sozialprogramm seiner Firma sechs Wochen ins Allgäu schicken zu können. »Damit unser Kleiner endlich mal essen lernt und zunimmt«, hofften die Eltern. Doch nach der sechswöchigen »Erholung« fiel ihnen am Bahnhof ein schluchzendes Kind in die Arme.

    Was war nur passiert mit ihrem Kind in der Obhut der katholischen Schwestern des »Kinderkurheims Maria Theresia« in Kaufbeuren? Entsetzt erfuhren die Eltern, dass dort Essensentzug als Strafe verhängt wurde und tagtäglich ein zweistündiger Bettzwang zur Mittagszeit mit Ohrfeigen durchgesetzt wurde. Normale kindliche Regungen der Neun- bis Zwölfjährigen empfanden die Schwestern als »ungezogenes Benehmen« und ahndeten es oft mit urplötzlichen Züchtigungen. Angst war das Alltagsbrot unter der Obhut dieser sadistischen Truppe von Gottes Gnaden.

    Was die Kinder nach Hause schrieben, wurde zensiert. »Du willst doch auch, dass Mama und Papa nur Schönes zu lesen bekommen, oder?« Also wurde die Ansichtskarte unter Aufsicht neu geschrieben. Reiner Psychoterror. Für viele Kinder waren die Trennung von der Familie und das Ausgeliefertsein in fremder Umgebung der erste wirkliche Schock ihres Lebens.

    Von solchen Vorkommnissen berichtet die Sonderpädagogin und Journalistin Anja Röhl in ihrem Buch zu Hauf. Das Leiden betraf, so die Autorin, »mindestens acht bis zwölf Millionen Kinder«, die »in den 1950er bis 1990er Jahren Erholungs- und Kuraufenthalte in Kinderheimen und Kinderheilstätten« der BRD verbrachten. Seit Röhl, die selbst »Verschickungskind« war, das Problem in die Öffentlichkeit brachte, fassten viele Menschen Mut und trugen »Tausende von Erinnerungen« an »ein ganzes System von Gewalt und Erniedrigung« zusammen, wie es im Buch heißt.

    Die Autorin schildert, wie die »Verschickungskinder« erst erkennen mussten, dass sie nicht allein waren. So wie es auch dem Verfasser erging, dem die Buchbesprechung unverhofft zum Selbstzeugnis wurde. Da schrieb plötzlich das Kind aus dem Rheinland mit, das hoffte, zur »Erholung« im Allgäu auch endlich in so ein »tolles Ferienlager« zu reisen, wie es ihm seine beneidenswerten DDR-Freunde von ihren Pionier- und FDJ-Ferienlagern erzählten, wenn er jährlich einige Wochen bei der Familie seiner Mutter nahe Karl-Marx-Stadt verbrachte. Der Traum vom Abenteuer im Ferienlager verwandelte sich jedoch in den Alptraum eines Straflagers.

    So zeigte sich dem Rezensenten, dass dieses Buch ein Glück für alle ist, die noch ähnliche verschüttete Erfahrungen ans Licht zu holen haben. Röhls Grundlagenwerk steht für den Beginn einer Auseinandersetzung mit einem verschwiegenen Stück Elend der Kinder der Westrepublik. Es analysiert anhand der Betroffenenberichte den bislang von der Wissenschaft ignorierten Forschungsgegenstand, geht bis in die »Kinderheilkunde« des Nazifaschismus zurück und belegt, dass sich in den BRD-Kinderkurheimen das Unheil der »strafenden Pädagogik« der »NS-Schwesternschaft« fortsetzte. Es untersucht auch das lukra­tive Geschäftsmodell »Kinderkuren«. Aber es macht vor allem Mut, weil es davon zeugt, wie die früheren »Verschickungskinder« das individuelle Unglück heute in ein kollektives Erkenntnisprojekt verwandeln, um sich von diesem Trauma zu befreien.

    Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Psychosozial-Verlag, Gießen 2021, 305 Seiten, 29,90 Euro

    Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung e. V.: https://verschickungsheime.de/wissenschaft-und-forschung

    #Allemagne #pédagogie #nazis #colonies_de_vacances

  • Bien joué l’#Unef : maintenant, #Marine_Le_Pen donne des leçons d’#antiracisme

    Invitée de France Inter ce mardi 23 mars, la présidente du Rassemblement national, Marine Le Pen, s’est payé le luxe de rappeler à l’Unef les grands principes de l’universalisme républicain.

    Du pain béni. Invitée de France Inter ce mardi 23 mars, la présidente du Rassemblement national, Marine Le Pen, a atteint le Saint-Graal de la dédiabolisation : donner une leçon d’antiracisme à un syndicat de gauche.

    Le syndicat en question, c’est bien sûr l’Unef, au cœur d’une polémique depuis que sa présidente, Mélanie Luce, a reconnu mercredi 17 mars, au micro d’Europe 1, l’existence de réunions en #non-mixité_raciale - entendue au sens « social », et non biologique - « pour permettre aux personnes touchées par le #racisme de pouvoir exprimer ce qu’elles subissent ». Répondre au racisme par la #ségrégation, quelle bonne idée ! Sans s’engager plus avant sur le fond, force est de constater que l’Unef ne pouvait pas faire de plus beau cadeau à un parti qui, sans avoir renié sa dimension identitaire, a fait de la récupération du combat républicain l’un des gages de sa nouvelle respectabilité.

    « C’est du racisme. On nous a expliqué pendant des années que le racisme est un délit, et heureusement d’ailleurs, s’indigne ainsi Marine Le Pen. C’est profondément immoral ce qu’ils font. » Moins regardante lorsqu’il s’agit d’investir un ancien cadre de Génération identitaire, en la personne de Damien Rieu, comme candidat pour les élections départementales, la présidente du RN se paie le luxe de rappeler les principes fondamentaux de l’universalisme à l’Unef : « Ils rompent avec toute la tradition républicaine, qui consiste dans leur esprit à séparer les gens en fonction de leurs races. Je les appelle à la lecture de la Constitution française : chacun est égal devant la loi quelle que soit sa race, son origine ou sa religion. »

    « On parle ici d’organisation d’ateliers réservés aux noirs ou interdits aux blancs. Je pense que cette #pensée_racialiste est une #pensée_séparatiste, qui devrait d’ailleurs peut-être tomber sous le coup de la loi contre le #séparatisme », martèle Marine Le Pen. Rappelons que, contrairement aux réunions non mixtes réservées aux femmes pour des raisons évidentes, aucune exception légale n’autorise qu’une différence de traitement soit opérée en fonction de la « #race » sans que celle-ci ne soit considérée comme discriminatoire.

    « Il faut les poursuivre »

    La présidente du Rassemblement national a donc beau jeu d’enfoncer le clou : « C’est un syndicat qui commet des #actes_racistes, incontestablement. Alors il faut les poursuivre de ce fait, et s’ils persistent avec ce fonctionnement raciste - soutenu d’ailleurs par monsieur Hamon et par monsieur Mélenchon, ça en dit long sur la dérive de monsieur Mélenchon notamment de soutenir ces actes racistes. »

    Sur son blog, le chef de file insoumis a affirmé voir dans l’attaque contre l’UNEF « une impressionnante démonstration de l’efficacité de la nouvelle tactique de combat de l’#extrême_droite en France », évacuant la question de la non mixité raciale en quelques lignes : « Le mode d’#inclusion par une #exclusion provisoire est encore et toujours un mode ordinaire de travail. Il fonctionne comme un espace d’écoute et de réflexion dans un cadre rassurant pour ceux qui y participent. C’est le ressort simple du principe de #reconnaissance_mutuelle et d’#entraide. »

    Notons au passage que plusieurs cadres du Rassemblement national, par ailleurs grands pourfendeurs de la « #cancel_culture », ont immédiatement réclamé la dissolution de l’Unef. Marine Le Pen s’en tient, elle, à une position plus modérée, en affirmant : « Je suis plutôt contre les dissolutions de manière générale, je suis plutôt pour la préservation de la liberté d’association, sauf quand il y a des appels ou des actes de violence, comme c’est le cas pour les black blocs. » La présidente du Rassemblement national ne peut pas être sur tous les fronts...

    https://www.marianne.net/politique/le-pen/bien-joue-lunef-maintenant-marine-le-pen-donne-des-lecons-dantiracisme
    #non-mixité

    ping @isskein @cede

    • Mélanie Luce (Unef) : « Une polémique infâme et calomnieuse »

      Dans « À l’air libre » mardi, la présidente de l’Unef revient sur les accusations portées contre son syndicat. « Toute cette polémique sur les réunions en non-mixité, ça nous empêche de parler des vrais sujets », dénonce-t-elle.

      https://www.youtube.com/watch?v=etQFmZaDHTA&feature=emb_logo

      https://www.mediapart.fr/journal/france/230321/melanie-luce-unef-une-polemique-infame-et-calomnieuse

    • Quand un syndicat d’étudiants exclut les blancs de ses réunions

      Ciblage de professeurs pour « islamophobie », organisation de réunions où les blancs sont exclus, le syndicat d’étudiants UNEF subit une étrange dérive.

      C’est une interview (http://ais.cloud-services.paris/europe1/prod/audio/emissions/linterview-politique-de-8h20-1861043/IEP-de-Grenoble-C-etait-une-erreur-de-relayer-ces-photos-confe) menée comme un brutal réquisitoire, la semaine dernière sur Europe 1, qui a laissé la présidente de l’UNEF, #Mélanie_Luce, sur le flanc. Depuis ce matin-là, mercredi 17 mars, son organisation, le deuxième syndicat d’étudiants du pays, autrefois tout-puissant et pépinière à talents du PS – Jack Lang ou Lionel Jospin y ont fait leurs armes – est la cible d’attaques féroces. Certains demandent son interdiction ou le retrait de ses subventions, tandis que d’autres volent à son secours. Son crime ? Mélanie Luce a reconnu qu’il arrivait à l’UNEF d’organiser des réunions en non-mixité raciale. En clair : avec uniquement des participants « racisés », donc pas de blancs…

      Mélanie Luce a beau se débattre et multiplier les explications : « Ces groupes non mixtes, nous ne les avons pas inventés, se justifie-t-elle dans « Le Figaro » : ils sont pratiqués depuis des dizaines d’années dans les associations féministes. » De plus, ces réunions sont rares, « deux ou trois fois par an, au maximum », sans rôle décisionnel, juste pour permettre aux participants « d’exprimer les discriminations qu’ils peuvent subir ». Ce qu’on accepte chez les féministes, pourquoi le refuse-t-on aux Noirs et aux « racisés », demande-t-elle ?

      Mais exclure les Blancs, se revendiquer comme « racisée » (Mélanie Luce est née à Toulouse de mère guadeloupéenne), n’est-ce pas accréditer l’idée de race et en définitive sombrer dans une forme nouvelle de racisme ? « Dire que je suis racisée, cela signifie simplement que je ne suis pas blanche, explique-t-elle. La société me fait comprendre au quotidien que, à ma couleur de peau, on me rattache à des stéréotypes. […] S’il n’existe pas de races biologiques, il existe des races sociales. »
      Blanquer indigné

      Ces explications n’ont fait qu’attiser la polémique. « Ceux qui se prétendent progressistes et qui distinguent les gens en fonction de leur peau nous mènent vers des choses qui ressemblent au fascisme, c’est extrêmement grave », a réagi le ministre de l’Éducation Jean-Michel Blanquer sur BFM TV. « L’UNEF a fait un choix d’un clientélisme indigéniste exacerbé totalement scandaleux », ajoute pour sa part le chef du groupe parlementaire LREM, Christophe Castaner, tandis que le porte-parole du Rassemblement national, Sébastien Chenu, ou le député républicain Éric Ciotti demandent la dissolution de l’UNEF.

      Le problème, c’est que le syndicat étudiant n’en est pas à sa première dérive. Il y a trois semaines, à l’école Sciences Po de Grenoble, des affiches dénonçant deux professeurs avec les mots « l’islamophobie tue » étaient relayées sur les comptes sociaux de l’organisation. Quelques mois après l’assassinat de l’enseignant Samuel Paty, de tels propos frôlent l’incitation au meurtre. Si Mélanie Luce a dénoncé ces affiches, elle reste confuse sur le sujet. Dans l’interview d’Europe 1, à la question « En France, est-ce l’islamophobie qui tue, ou l’islamisme ? » elle a répondu : « Les deux », invoquant le cas de « Biarritz récemment ». En réalité, c’était à Bayonne, en 2019, une attaque contre une mosquée qui avait fait deux blessés. Mais pas de morts…

      https://www.tdg.ch/quand-un-syndicat-detudiants-exclut-les-blancs-de-ses-reunions-881553498749

    • Les réunions non mixtes par #Laure_Adler...

      https://twitter.com/Ccesoir/status/1375204092008620036

      Transcription :

      "Je peux vous raconter qu’effectivement le #Mouvement_de_libération_des_femmes, quand il s’est constitué, il est né sur le principe que quand on se retrouvait entre femmes uniquement quelque chose allait se produire. Une autre parole surgissait, on ne parlait pas du tout de la même manière. Moi-même j’étais très jeune et j’étais la première étonnée. Moi j’aimais bien être avec des garçons et avec tout le plaisir qui s’en suit, mais quand je me suis retrouvée avec des filles, et uniquement avec des filles, je me suis aperçue que ce qui surgissait comme type de parole étaient des paroles totalement inattendues, à la fois des camarades filles qui étaient dans les mêmes groupes de parole, mais de moi aussi. Et qu’il y avait une écoute, une bienveillance, qui n’existait pas dans les réunions festives. Quelque chose se produisait, mais nous rapportions tous les ans à la mutualité, ça se passait à Paris, devant des assemblées mixtes, le fruit de notre travail dans les groupes de parole. Je crois que c’est encore un outil de libération que de se retrouver, quand on subit une discrimination, et on subissait une discrimination sexuelle même si on est une majorité de femmes, on subit toujours une discrimination sexuelle et on est considérées comme une minorité... C’est une étape assez révolutionnaire pour se comprendre soi-même et pour pouvoir articuler des principes de combat et peut-être de compréhension avec les garçons. En fait, ils nous ont beaucoup respectées pour avoir tenu ces groupes de parole. Ils nous ont écoutées et d’autre part, conclusion, ils nous ont laissées parler plus qu’avant. Parce que le nombre de fois où quand des garçons et des filles sont ensemble et on ferme la gueule des filles parce que ce sont des filles, y compris dans les réunions de travail, là on a été considérées autrement.

      #MLF #parole #libération #considération #respect

    • Et en #Allemagne, pendant ce temps...
      Der Staat gegen junge Welt
      https://www.jungewelt.de/artikel/402007.in-eigener-sache-der-staat-gegen-junge-welt.html

      –-> « D’après le gouvernement allemand l’idée de l’existence de classes sociales constitue une violation des droits de l’homme », nous apprend @klaus :
      https://seenthis.net/messages/914586

      –—

      L’article paru dans Junge Welt dans son intégralité :
      Der Staat gegen junge Welt

      Fensterreden von Regierungspolitikern für die Pressefreiheit. Unterdessen versucht die Regierung dieser Zeitung den Garaus zu machen.

      Großer Bahnhof im Parlament: Mehr als eine Stunde widmete der Bundestag am Freitag der Debatte um die Lage der Medien und der freien Berichterstattung. Einen äußeren Anlass dafür bot der Welttag der Pressefreiheit am 3. Mai. Geht es um Beschränkungen journalistischer Arbeit in Ländern wie China, Russland oder Kuba, lässt die Regierung sich nicht lumpen, verteilt großzügig Kritik und gute Ratschläge. »Menschen brauchen freie und unabhängige Informationen – ohne sie kann Demokratie nicht funktionieren«, hatte Außenminister Heiko Maas (SPD) am Montag erklärt und mit dem Finger in andere Weltgegenden gewiesen.

      Doch standen am Freitag im Plenum beim Thema Pressefreiheit und Medien ausnahmsweise die hiesigen Zustände auf der Tagesordnung, mit Anträgen der Fraktionen unter den Überschriften »Journalisten schützen – Pressefreiheit gewährleisten«, »Für einen freien und fairen Medienmarkt – Desinformation mit Qualität begegnen« (beide FDP) oder »Pressefreiheit und Journalistinnen und Journalisten besser schützen« (Die Linke). Für die SPD ergriff Martin Rabanus am Pult das Wort, verwies mit geschwellter Brust auf das von seiner Partei beschlossene »Aktionsprogramm freie und unabhängige Medien« und betonte: »Die SPD hat stets und wird stets die Presse- und Meinungsfreiheit gegen ihre Gegner verteidigen.«

      Kleiner Schönheitsfehler: Die an der Bundesregierung beteiligten Sozialdemokraten haben die Reaktion auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion mitzuverantworten, die Rabanus’ Worte ad absurdum führt. Die betreffende BT-Drucksache 19/28956 trägt die Überschrift »Presse- und wettbewerbsrechtliche Behinderung durch Nennung der Tageszeitung junge Welt im Verfassungsschutzbericht« – und die Antworten haben es in sich. So bekennt sich die Regierung freimütig zur geheimdienstlichen Überwachung dieses unabhängigen Mediums und rechtfertigt entsprechende Schritte staatlicher Cancel Culture offensiv. Der jungen Welt wird generell Verfassungsfeindlichkeit unterstellt, und mit Blick auf den von ihr vertretenen »revolutionären Marxis­mus« konstatiert, dieser richte sich »gegen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung«: »Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde«, so die Bundesregierung unter anderem in ihrer Stellungnahme. Offen wird ausgesprochen, dass es darum geht, der jW auch ökonomisch zu schaden.

      Nicht ohne Witz: Ausgerechnet am 5. Mai, dem 203. Geburtstag von Karl Marx, war das regierungsamtliche Papier der Linksfraktion zugestellt worden. In Reaktion auf Rabanus’ Fensterrede ergriff die Linke-Abgeordnete Gesine Lötzsch im Bundestag das Wort: »Ich sage ganz deutlich: Ich bin der Auffassung, die Beobachtung einer Tageszeitung durch den Verfassungsschutz ist nicht hinnehmbar. Wir als Linke können das nicht akzeptieren. Ich hoffe, dass das andere Fraktionen in diesem Bundestag auch nicht akzeptieren können.« Bislang hat man diesbezüglich leider wenig gehört.

      In der Kriminalisierung einer wissenschaftlichen Weltanschauung sieht junge Welt einen handfesten politischen Skandal, der nicht nur diese Zeitung betrifft, sondern progressive Menschen als solche. Redaktion, Verlag und Genossenschaft haben sich daher mit einem dringenden Appell gegen diesen staatlichen Angriff auf die Pressefreiheit an die Öffentlichkeit gewandt und werden sich mit allen verfügbaren rechtlichen Mitteln dagegen zur Wehr setzen.

      Wer hat Angst vor wem?

      Diejenigen, die sich nicht scheuen, gegen Faschismus, Rassismus, Krieg und Ausbeutung einzutreten? Die dafür mit Verfolgung und Repression rechnen müssen? Oder diejenigen, die Verfassung und die herrschenden Verhältnisse »schützen«?

      Für alle, die es wissen wollen: Die junge Welt drei Wochen lang (im europäischen Ausland zwei Wochen) gratis kennenlernen. Danach ist Schluss, das Probeabo endet automatisch.

      https://www.jungewelt.de/artikel/402007.in-eigener-sache-der-staat-gegen-junge-welt.html

  • 03.08.2020: »Der Rechtsruck ist ein Alptraum für mich« (Tageszeitung junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/artikel/383440.antifaschistin-der-rechtsruck-ist-ein-alptraum-f%C3%BCr-mich.html

    Ihre Reportagen sind unter anderem illustre Darstellungen von Heuchelei in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit. Würden Sie diesen Staat als eine Anpassungsgesellschaft bezeichnen?

    Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, ihn so zu nennen. Denn um sich selbst zu schützen, war es für die Täter nicht nötig, sich anzupassen – sie wurden ja nicht verfolgt, sie wurden nicht vor Gericht gestellt. Sie konnten ihre Karrieren einfach fortsetzen. Die Täter waren in der Nachkriegsgesellschaft keine Fremdkörper, sie passten da gut rein. Es gab ein Ein- und Untertauchen in die bzw. den Massen und das falsche Bewusstsein der Täter, dass sie es ja nicht gewesen sind. Hannes Heer hat darüber ein Buch geschrieben mit dem sehr zutreffenden Titel »Hitler war’s«. Die Schuld wurde an ihn delegiert.

    Wie ist es für Sie als Überlebende der Schoah, in diesem Deutschland zu leben? Wut, Hilflosigkeit, Abscheu – was empfinden Sie?

    Das Gefühl von Ungerechtigkeit hatte ich bereits als kleines Kind. Zwangsläufig. Was mich umhaut, ist nicht ein einzelnes Verbrechen hier oder da, sondern das weltweite Ausmaß von Unrecht. Wie kann man etwas loswerden, das derart etabliert ist? Die zwölf Jahre Nazizeit waren dabei die Steigerung ins Unermessliche.

    2019 diffamierte das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten«, VVN-BdA, als »linksextremistisch beeinflusst«, woraufhin der Organisation der Opfer des Naziterrors als Ganzes die Gemeinnützigkeit entzogen wurde. Anfang Juli bekräftigte das Berliner Finanzamt für Körperschaften diese Entscheidung. Warum ist die VVN wichtig in Deutschland?

    Ich finde es wichtig, dass Verfolgten des Naziterrors das Recht zugestanden wird, sich zusammenzutun, eine Organisation haben zu dürfen, um ihre Trauer und ihre Erinnerung wahren zu können – in einem Land, das Schuld an der Ermordung von 50 Millionen Menschen in Europa trägt …

    Der Entzug der Gemeinnützigkeit rückwirkend ab 2016 durch diese Berliner Behörde ist für die VVN existenzgefährdend. Es drohen hohe Steuernachzahlungen.

    Wie kann man eine Opferorganisation im Land der Täter derart sanktionieren? Und selbst wenn die VVN wirklich »linksextrem« sein sollte – mich würde das sehr freuen.

    Der VVN wird unter anderem vorgeworfen, Naziaufmärsche und Polizeieinsätze gewaltsam zu blockieren.

    Einfach lächerlich … Das ist ein internationaler Skandal! Wir, die Opfer des Naziterrors, VVN-Mitglieder und -Sympathisanten, brauchen Aufmerksamkeit für dieses unwürdige Vorgehen und Unterstützung der VVN. Aber auch internationale Solidarität mit der deutschen Linken. Man darf einer Organisation der Opfer des Naziterrors in Deutschland nicht das Existenzrecht rauben. Unvorstellbar, dass Naziopfer in Deutschland mundtot gemacht werden sollen.

    Sie selbst haben ja den Naziterror überlebt …

    Meine ganze Familie, alle Verwandten – Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten, Vettern, Cousinen – sind in Treblinka und anderen KZ der Nazis ums Leben gekommen. Alle. Man kann Opfern nicht den Mund verbieten. Aber man sollte verbieten, wie mit Opfern umgegangen wird. Statt dessen sehen wir, wie die VVN bedrängt wird, weil die Nazis immer noch da sind. Sie organisieren sich in neuen Parteien, Terrorgruppen, sie dienen in der Polizei ...

    Das Bundesamt für Verfassungsschutz erwähnte in seinem kürzlich erschienenen Bericht für das Jahr 2019 mit keinem Wort die rechte Terrorgruppe »NSU«, die von Neonazis durchsetzte Bundeswehr-»Elitetruppe« KSK oder die Tatsache, dass Polizisten in »sozialen Netzwerken« Hitlerbilder und faschistische Sprüche austauschen.

    Die Nazis scheuen sich nicht mehr, offen auszusprechen, was sie vorhaben. Und ihre heimlichen Unterstützer schützen sie dabei. Der gegenwärtige Rechtsruck ist ein Alptraum für mich.

    Was war angesichts der politischen Verhältnisse in Westdeutschland Ihre wichtigste Erkenntnis als Publizistin?


    Lukas Schulze/dpa/picture alliance
    Peggy Parnass, aufgenommen im März 2016 in Hamburg

    In der alten Bundesrepublik war ja immer die Rede vom »Sympathisantensumpf« der RAF. Um dagegenzuhalten, machten Axel Engstfeld und ich 1982 einen Film unter dem Titel »Von Richtern und anderen Sympathisanten« – und widmeten ihn den Nazirichtern, die ja nie angeklagt wurden, eben weil sie so viele Unterstützer im Apparat hatten. Richter mit Nazivergangenheit, über die immer eine schützende Hand gehalten wurde. Der Film basierte auf Texten von mir, die zuerst als Kolumne in Konkret erschienen waren. Er war sehr erfolgreich, bekam sogar den Bundesfilmpreis. Doch geändert hat sich nichts, null … Das war wohl der Kern, die wichtigste Erkenntnis: Dass du dich hier abstrampeln kannst, um politisch etwas geradezubiegen, aber ändern tut es gar nichts.

    Hatten Sie je das Gefühl, dass Sie sich sich in Ihrer Arbeit Beschränkungen auferlegen mussten?

    Für mich gibt es kein Tabuthema. Natürlich gibt es diesen Druck gegen links. Jedes Mal, wenn ich irgendetwas veröffentlichte, wurde ich abgestraft, gab es Drohbriefe und -anrufe, Morddrohungen. Praktisch immer, wenn ich den Mund aufgemacht habe. Aber es gibt da nichts, was mich aufhalten würde: Ich sage, schreibe und denke, was ich will – wie in dem neuen biographischen Film über mich (»Überstunden an Leben«, 2018, Regie Gerhard Brockmann und Jürgen Kinter, A. D.), der gerade mit großem Erfolg läuft und der sehr politisch ist.

    Darin ist eine Aufnahme Ihrer Wohnung zu sehen – an einer gut sichtbaren Stelle hängt ein Foto von Ulrike Meinhof. Was bedeutete Ihnen die Freundschaft mit ihr?

    Immer noch viel. Sie bestand, bis ­Ulrike 1968 Hamburg verließ. Danach habe ich sie nie mehr gesehen und nichts mehr von ihr gehört. Ich bin ihr in gewisser Weise auch sehr dankbar dafür, dass sie mich nicht aufgesucht hat. Wenn sie mich gebeten hätte, sie unterzubringen, bei mir übernachten zu dürfen, wäre es mir wie so vielen ihrer Bekannten und Freunde gegangen – ich hätte nicht nein sagen können. Aber mit dem, was sie dann tat, war ich überhaupt nicht einverstanden. In unserer Freundschaft waren wir uns als Pazifistinnen einig, und Ulrike hatte ein starkes Unrechtsbewusstsein, das ich teilte. Sie war unglaublich warmherzig, mitfühlend, großzügig.

    Im Stern erschien im März 2007 ein Gastbeitrag von Ihnen zur Debatte um die Freilassung von Christian Klar, der wegen seiner RAF-Aktivitäten seit 1982 im Gefängnis saß. In dem Artikel setzen Sie die Dauer seiner Haft – damals bereits 24 Jahre – ins Verhältnis zu der in der BRD verurteilter faschistischer Massenmörder. Die Öffentlichkeit bemitleide, heißt es bei Ihnen, die »beklagenswerte, greise Witwe von Hanns Martin Schleyer! Die unglückliche Frau. Die Arme«. Dabei war der SS-Hauptsturmführer und spätere »Arbeitgeberpräsident« Schleyer, in führender Position beteiligt an Kriegsverbrechen in der besetzten Tschechoslowakei …

    Klar musste insgesamt fünfundzwanzig Jahre im Knast absitzen, das musste kein Nazi. Schleyer wurde, nach dem, was er im »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« verbrochen hatte, nicht bestraft. Die Nazimörder durften ruhig und unbehelligt weiterleben. Der Artikel über Christian Klar war mir sehr wichtig, keiner wollte den haben. Der Stern druckte ihn überraschenderweise ab.

    Ihre Prozessberichte sind lebhafte Zeugnisse dafür, dass sich im Westdeutschland der Nachkriegsjahre hinter der Fassade von Wohlstand und Wirtschaftswunder Abgründe auftaten.

    Es gab ja diese Wirtschaftswunderzeit – für mich selbst aber war es eine Zeit des Hungerns: Ich hatte kein Geld und nichts zu essen … Und das war die große Blütezeit hier. Die Zeit auch, in der man »Gastarbeiter«, denen wir unser Wohlleben zu verdanken haben, wie Scheiße behandelt hat. Dabei war die Bundesrepublik nach meinem Empfinden keine traumatisierte Gesellschaft, es war ja nicht so, dass man hier schreiend und weinend herumlief. Die Leute hätten, nach dem, was sie der Welt angetan hatten, das doch tun müssen. Eigentlich jeder, nicht nur die Täter, sondern alle, weil es so war, wie es war. Sie haben hier aber einfach weitergemacht, als wäre nichts gewesen.

    Welches Ihrer Bücher ist Ihnen besonders wichtig?

    »Prozesse« kostete mich neun Jahre Arbeit, sechzehn Stunden am Tag … Mein Lieblingsbuch ist aber »Unter die Haut«, ein sehr persönliches Werk. Es kam zu einer Zeit heraus, als es mir furchtbar peinlich war, dass Leute mich gelesen haben, weil alles, was ich schrieb, so intim war. Da kamen dann Menschen mit wissendem Blick auf mich zu, und ich kannte die Leute überhaupt nicht, wusste nichts über sie. Sie aber alles über mich ...

    Ein Lebensabschnitt, der mich besonders interessiert, ist Ihr Aufenthalt in Paris. Sie haben diese Zeit zwar in manchen Interviews erwähnt, aber nie ausführlicher darüber geschrieben oder berichtet.

    Aus London kommend, fuhr ich für zwei Tage mit einem schwedischen Kollegen dorthin. Er kehrte zurück – ich blieb. Weil die Stadt mir gefiel und weil ich dort neue Menschen kennenlernte. Ich war in Paris, als sie wie verrückt Algerier jagten (im Algerienkrieg, 1954–1962, gegen die Unabhängigkeit der ehemaligen französischen Kolonie, A. D.) – und war sehr enttäuscht davon und fand es schrecklich zu sehen, dass es Franzosen gab, die kaum besser waren als deutsche Nazis. Ich wohnte damals in kleinen billigen Hotels. Eines Tages haben sie meine Zimmertür aufgerissen und unterm Bett nachgesehen, ob ich einen Algerier verstecke …

    Einer Ihrer Texte ist unter dem Titel »Weihnachten« erschienen. Sie beschreiben darin Ihre Wut über Freunde, die jahraus, jahrein darüber jammerten, dass sie über die Feiertage zu ihren Eltern reisen mussten. Ihre wurden Ihnen genommen, als Sie noch ein sehr kleines Mädchen waren.

    »Mein Gott, Weihnachten …! Schon wieder zu meiner Mutter« – ich hatte Lust, sie zu verprügeln. Mir hat meine Familie zeitlebens gefehlt, mir wurde kein Lieblingsgericht von meiner Mutter zubereitet. Meine Mutter, meine Eltern haben mir die Nazis genommen. Ich habe bis heute nicht verkraftet, dass ich keine Eltern habe, sie fehlen mir ständig.

    Peggy Parnass, 1927 in Hamburg geboren, überlebte die Schoah zusammen mit ihrem Bruder in Schweden – die beiden waren 1939 mit einem Kindertransport nach Stockholm gebracht und gerettet worden. Ihre Eltern wurden im KZ Treblinka ermordet. Ihre gesamte Familie wurde von den Nazis umgebracht.

    Peggy Parnass ist Publizistin und Schauspielerin. Sie studierte in Stockholm, London, Hamburg und Paris. Als Gerichtsreporterin schrieb sie 17 Jahre lang für das Monatsmagazin Konkret; eine Auswahl ihrer Kolumnen erschien in dem preisgekrönten Buch »Prozesse« (Erstauflage 1978). Sie veröffentlichte mehrere Bestseller, darunter »Unter die Haut« (1983) und »Süchtig nach Leben« (1990). Ihre Berichte demaskieren die Lebenslügen der Bundesrepublik und kratzen am Selbstbild der angeblichen Musterdemokratie. Im vergangenen Jahr wurde Peggy Parnass mit Esther Bejarano die Ehrenbürgerschaft der Stadt Hamburg verliehen.

  • 18.06.2019: Zwei Kugeln für General Lukow (Tageszeitung junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/artikel/356853.antifaschismus-zwei-kugeln-f%C3%BCr-general-lukow.html

    »Ein Mensch von unvergleichlicher Kühnheit« – Violeta Jakova

    Seit 2003 rufen europäische Neonazis zu jährlichen Gedenkmärschen in Sofia für den bulgarischen General und zeitweiligen Kriegsminister Christo Lukow auf, der 1943 einem kommunistischen Anschlag erlag. Über den historischen Vorgang ist hierzulande nur wenig bekannt, und über die Täterin gibt es nicht einmal einen Eintrag in der deutschen Wikipedia – wohl aber über das Opfer. Doch die Frau, die dazu beitrug, den General ins Jenseits zu befördern, galt nicht nur jahrzehntelang als bulgarische Nationalheldin, sondern wird seit einigen Jahren im englischsprachigen Raum als Protagonistin des jüdischen Widerstands wiederentdeckt.

    Violeta Jakova kam am 2. Juni 1923 in der westbulgarischen Stadt Dupniza in einer sephardisch-jüdischen Familie zur Welt. Ihr Vater, ein Kleinhändler, war vor ihrer Geburt verstorben; über ihre Mutter ist nichts bekannt. Sie soll von ihrer Großmutter erzogen worden sein. Die Quellenlage ist schwierig; die meisten Informationen über sie entstammen Zeitzeugenberichten, manche sind wohl nur Gerüchte. Eigene Aussagen von ihr, etwa aus Briefen oder Akten, wurden bisher nicht öffentlich bekannt.

    Bereits mit 14 Jahren begann Jakova, in einer Tabakfabrik zu arbeiten. Dort machte sie die Bekanntschaft von Funktionären des bulgarischen kommunistischen Jugendverbands RMS, dessen Mitglied sie 1939 wurde. Nach kurzer Zeit siedelte sie in die Hauptstadt Sofia über, wo sie eine Lehre als Schneiderin absolvierte. Daneben engagierte sie sich im RMS und avancierte schließlich zur Bezirkssekretärin. »Unter ihrer Führung leistete die Organisation eine große Arbeit«, berichtete ihre Freundin Mitka Grabtschewa. »Als der Krieg gegen die Sowjetunion begann, war sie bereits eine angesehene Persönlichkeit mit großer organisatorischer Erfahrung.«

    Das zaristische Bulgarien war damals mit Deutschland verbündet. Die illegale Kommunistische Partei hatte sich auf die Seite der Sowjetunion gestellt und den Beschluss gefasst, das deutsche Militär mit allen Mitteln zu schwächen. So übernahm Jakova die Aufgabe, mit den Mitgliedern ihres Jugendverbandes Sabotageakte auszuführen.

    Zunächst setzten sie einen Heuschober in Brand, in dem Heu für die Wehrmacht gelagert wurde. Da die meisten Beteiligten verhaftet und Jakova als Verantwortliche in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, ging sie in die Illegalität. Sie nahm den Decknamen Iwanka an, und es gelang ihr, Arbeit in einer Kürschnerei zu finden. Dort schmiedete sie mit einem befreundeten Genossen, Slawtscho Radomirski, einen neuen Anschlagsplan. Diesmal wurde das Lager der Kürschnerei angezündet, in dem Lederwaren und Pelze für die Wehrmacht bereitgehalten wurden.

    Danach schloss sie sich der von der Kommunistischen Partei organisierten »Kampfgruppe für besondere Aufgaben« in Sofia an, die von Radomirski geleitet wurde. Sie lernte schießen und wurde bald eine sehr gute Schützin. »Sie war ein Mensch von unvergleichlicher Kühnheit«, bezeugte Mitka Grab­tschewa. Die Gruppe tötete zunächst einen Verräter, der dem ZK der BKP angehört und zahlreiche Genossen der Polizei ausgeliefert hatte. Dabei versagte jedoch Jakovas Pistole, sodass ihr Begleiter einspringen musste.

    Der erfolgreiche Überfall auf General Christo Lukow, den sie am 13. Februar 1943 mit zwei Kugeln tötete, machte sie zur Legende. Als potentieller faschistischer Diktator Bulgariens schien er besonders gefährlich, hatte auch bereits eine paramilitärische Organisation (Bund der Bulgarischen Nationalen Legionen) aufgebaut. Bei der am 3. Mai 1943 erfolgten »Hinrichtung« von Polizeichef Oberst Atanas Pantew, bei dem ihre Freundin Mitka Grabtschewa schoss, sicherte Jakova den Rückzug.

    Nach Auflösung der Kampfgruppe wurde sie der Partisanenabteilung »Tschawdar« zugeteilt, die sie jedoch – angeblich wegen einer Erkrankung – wieder verlassen musste. Anfang 1944 gründete sie mit Slawtscho Rado­­mir­ s­­ ki eine neue Partisaneneinheit. Sie agitierte in den Dörfern, organisierte Versammlungen und Konferenzen der Jungkommunisten. Als sie am 17. Juni 1944 von einer solchen Zusammenkunft aus dem Dorf Kondofrej zurückkehrte, geriet sie in einen Hinterhalt der Polizei. Sie soll noch drei Polizisten erschossen haben, bevor sie, selbst durch Schüsse schwer verletzt, gefangengenommen wurde.

    Über Violeta Jakovas letzte Stunden gibt es eine Schilderung von Mitka Grabtschewa, die zwar nicht dabei war, aber als spätere Mitarbeiterin des bulgarischen Ministeriums für Staatssicherheit Einblick in Polizeiakten hatte. Jakova sei gefoltert worden, um den Standort ihrer Partisanenabteilung preiszugeben, habe jedoch nichts ausgesagt, sondern sogar noch politisch agitiert. Ob das stimmt, bleibt unklar.

    Am 18. Juni 1944 wurde sie in Radomir erschossen. Dort wurde nach dem Krieg ein Denkmal für diese tapfere Frau errichtet. Es steht noch heute.

  • 27.05.2019 : Tunceli soll wieder Dersim heißen (Tageszeitung junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/artikel/355564.t%C3%BCrkei-tunceli-soll-wieder-dersim-hei%C3%9Fen.html


    Fatih Mehmet Macoglu am 15. April vor dem Rathaus von Tunceli, das künftig wieder Dersim heißen soll

    Der Namensstreit ist ein Politikum, denn 1935 hatte die Regierung in Ankara im Zuge ihrer Assimilationspolitik gegen die nichttürkischen Bevölkerungsgruppen den Namen der alevitisch-kurdisch geprägten Provinz per Gesetz in den türkischen Namen Tunceli (Bronzefaust) geändert. Unter dem Vorwand, einen Aufstand niederschlagen zu müssen, wurden in den folgenden Jahren Zehntausende alevitische Kurden von der Armee getötet oder in andere Landesteile deportiert. Dabei wurde auch Giftgas eingesetzt, das Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk persönlich aus Nazideutschland hatte liefern lassen, wie die Tageszeitung Dersim Gazetesi vor einigen Tagen unter Berufung auf Dokumente aus dem Staatsarchiv berichtet hatte. Aus Deutschland stammten auch die beim Abwurf der Gasbomben eingesetzten Heinkel-Kampfflugzeuge.

    Neben der Umbenennung der Stadt hat der Bürgermeister angeordnet, dass kommunale Dienstleistungen in Dersim künftig nicht mehr nur auf Türkisch, sondern auch in den kurdischen Sprachen Kurmanci und Zazaki angeboten werden. Mit diesem Beschluss tritt Macoglu, der bei der Kommunalwahl im März zum ersten kommunistischen Bürgermeister einer Provinzhauptstadt gewählt wurde, in die Fußstapfen seiner Vorgänger von der prokurdischen Linkspartei HDP. Deren Bürgermeister waren 2016 per Regierungsdekret abgesetzt und unter Terrorismus- und Separatismusvorwürfen in Untersuchungshaft genommen wurden. Ein an ihrer Stelle eingesetzter Zwangsverwalter hatte gemäß der türkischen Verfassung alle Sprachen außer dem Türkischen aus der Stadtverwaltung verbannen lassen.

    Détail personnel intéressant : d’après le récit de mon père toute la petite famille a déménagé à Ankara plus ou moins au moment des événements décrits dans l’article. Pour l’époque c’était un long voyage plein d’aventures avec l’Orient Express jusqu’à Ankara. La famille rentrait à Berlin après un séjour plus court qu’intialement prévu. Mon père racontait que ma grand-mère n’appréciait pas l’éloignement de Berlin. Sachant que le bureau de mon grand-père se trouvait dans le nouveau ministère de l’aviation à Wilhelmstraße et qu’il allait partir en Espagne en 1936/37 on devine la raison due séjour en Turquie dont il n’avait mis au courant personne. Cette nouvelle information sera utile pour mes recherches dans les archives allemandes.

    Orient-Express, 1.4 L’âge d’or de l’entre-deux-guerres (1919-1939)
    https://fr.wikipedia.org/wiki/Orient-Express#L'%C3%A2ge_d'or_de_l'entre-deux-guerres_(1919-1939)

    Dans les années 1930, l’Orient-Express consiste en une famille de trains de luxe reliant l’Europe de l’Ouest à l’Europe de l’Est et du Sud. Il y a trois trajets reliant Paris et Calais (France) à Istanbul (Turquie), Athènes (Grèce) et Bucarest (Roumanie) : l’Orient-Express, le Simplon-Orient-Express et l’Arlberg-Orient-Express ; auxquels s’ajoutent des liaisons vers Amsterdam (Pays-Bas) et Bruxelles (Belgique) avec l’Ostende-Vienne-Orient-Express, vers Berlin (Allemagne) et Prague (République tchèque) avec le Berlin-Budapest-Orient-Express

    La version anglaise de Wikipedia mentionne la coopération entre les armées de l’air de l’Allemange et de Turqui à une époque quand l’arme se trouvait au début de son développement. Il n’y a jamais eu en Turquie une intevention allemande comme en Espagne, mais on entretenait les bonne relations nouées pendant la première guerre mondiale.

    Turkish Air Force - Wikipedia
    https://en.wikipedia.org/wiki/Turkish_Air_Force

    The fleet size reached its apex in December 1916, when the Ottoman aviation had 90 active combat aircraft. Some early help for the Ottoman Air Force came from the Imperial German Fliegertruppe (known by that name before October 1916), with future Central Powers 13-victory flying ace Hans-Joachim Buddecke flying with the Turks early in World War I as just one example.

    Luftwaffe (Wehrmacht) – Wikipedia
    https://de.wikipedia.org/wiki/Luftwaffe_(Wehrmacht)

    Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Reichsluftwaffe. 2, 1935, in: Bundesarchiv R43 II/127a.

    #Allemagne #Turquie #Kurdistan #histoire #aviation #Reichsluftwaffe

  • Wiglaf Droste (1961–2019) Hier war ich ja noch nie …!
    https://www.jungewelt.de/artikel/354894.wiglaf-droste-1961-2019-hier-war-ich-ja-noch-nie.html

    Autobiographie

    Ich war nie ein Jünger des Verzichts

    und gab, wie ich es nahm und wie es kam,

    im Fall des Falles immer alles,

    und eines Morgens kommt das große Nichts.

    Wiglaf Droste weilt nicht mehr unter den Sterblichen, wie er selbst bei solchen Anlässen sagte, wenn es ihm nicht die Sprache verschlug wie zuletzt beim Tod von F.W. Bernstein. Am Mittwoch nachmittag ist Droste im Haus seiner Liebsten, Andrea Jungkunz, an den Folgen einer Leberzirrhose gestorben. »Bis ganz zuletzt hatte er einen Witz auf den Lippen«, sagte die Buchhändlerin gegenüber jW. In ihrem Haus in Pottenstein in der oberfränkischen Provinz hat der Schriftsteller, Satiriker und Sänger seine letzten anderthalb Jahre verbracht. Er habe sich »wohl gefühlt, nicht mehr rumgedöbert, niemanden mehr angepöbelt«, meinte Jungkunz am Donnerstag. »Er hat gesagt, er geht den Leuten jetzt auf den Keks, weil er immer sagt: Sei glücklich!« Man solle ihn als »Schelm« in Erinnerung behalten, »sprachgewaltig«.

    Mix
    https://www.youtube.com/watch?v=PI0P4KbyHxY&list=RDPI0P4KbyHxY&start_radio=1

    Wiglaf Droste kam am 27.6.1961 in Herford zur Welt und 1994 zur jungen Welt, seit Januar 2011 hatte er eine tägliche Kolumne. Dem Tod schon mehr als einmal von der Schippe gesprungen, schickte er uns vor etwa einem Jahr drei »Epitaphe«, die wir hier nun zum ersten Mal veröffentlichen:

    (1)

    Der ist auch ruhiger geworden.

    (2)

    Das Leben ist sicherlich endlich

    Liebe und Werk sind es ganz sicher nich’.

    (3)

    Hier war ich ja noch nie … !

    Letzteres, meinte er damals, könnte gut auf seinem Grabstein stehen. Das war Galgenhumor, es zog ihn nicht runter. Im Gegenteil. In den vergangenen Monaten strotzte er nur so vor Tatendrang, war »glücklich und guten Mutes«, wie es in einer seiner letzten Mails heißt, »mein Luxus ist die Liebe und die Arbeit«. Im Frühjahr 2020 werde bei Antje Kunstmann sein neuer Gedichtband »Wie ein Pfeil im Flitzebogen« erscheinen, der schwelle »auf Lutherbibelstärke an. Aber streichen kann man immer«.

    Apropos Frühjahr: Ende Januar war er Feuer und Flamme für eine jW-Beilage »Frühling, Freiheit, Liebe, Leben!« Er wollte dafür ausschließlich Autorinnen anfragen. Uschi Brüning, Karin Gregorek, Marion Brasch, Rahel Valdiviéso-Fieramonte, Ulla Rowohlt und einige andere standen auf seiner Wunschliste, und für die Grafik Heike Ollertz. Er wollte die Beiträge besorgen, redigieren und komponieren, wie er das zuvor für die achtseitige jW-Weihnachtsbeilage gemacht hatte, auf die er Ende Januar »immer noch angesprochen« wurde, wie er schrieb. Was immer die jW für dieses Extrablatt ausgeben könnte, er würde das komplette Geld mit den beteiligten Frauen »verfressen«, meinte er. Leider überstieg das Vorhaben bei aller Sympathie unsere Produktionsmöglichkeiten.
    Lausige Zeiten

    Mitte April verkündete er den Plan, die Zeitschrift Häuptling eigener Herd wiederzubeleben, die er mit Sternekoch Vincent Klink herausgegeben hatte. Nach 15 Jahren und 55 Ausgaben war dieses einzigartige »Hetzblatt« für guten Geschmack eingestellt worden. Nun hatte Klink ihm die Rechte am Titel übertragen und er eine Mannschaft zusammen, mit der »man glatt Meister werden« könnte, nur eben keinen Verlag: »Alle haben Bammel. It’s a shame, und es sind lausige Zeiten«. An der Notwendigkeit, die Zeitschrift wiederzubeleben, änderte das nichts: »Ich möchte das wieder machen; die ›Medienlandschaft‹ genannte Wüstenei ist so fade wie trist (Ausnahmen gibt es, aber zu wenige)«.

    Der Häuptling stand auch für sein Wirken insgesamt, den Kampf gegen die Unempfindlichkeit der Sinne, gegen deutsche Dumpfheit und Geschmacklosigkeit. Dass er damit bei Flachköpfen aller Richtungen aneckte, versteht sich, aber genau dafür liebten ihn seine Fans.

    In den 80ern war Droste als Redakteur der Taz unter anderem dafür verantwortlich, epische TV-Kritiken von Dr. Seltsam, »auf die Länge eines Haiku« zu bringen. Als sein Autor bei einer Redaktionskonferenz zur unerwünschten Person erklärt werden sollte, meinte Droste einfach: »Jeder Redakteur ist autonom, und bei mir darf Dr. Seltsam schreiben.« Das war auch mutig, weil Seltsam so ziemlich jeden Artikel mit dem heftigen Schwenken der roten Fahne beendete. Einige Monate später wurde Droste mit anderen »zu Linken« aus der Taz herausgedrängt.

    Das hatte auch eine ästhetische Dimension: Wiglaf Droste beurteilte literarische Texte vor allem danach, ob sie eine Geschichte vollständig erzählten. Das konnten Zweizeiler sein, Gedichte, Lieder, Erzählungen oder Romane. Das bedeutet auch: Ohne gute Ästhetik keine gute politische Aussage. Schlechte Politik schlägt regelmäßig um in schlechte Lyrik, Kitsch. Das gilt auch oder besonders für schlechte linke Politik.

    Man möchte ergänzen: Eine Gesellschaft, die Menschen kleinmachen oder vernichten will und die – mit Peter Hacks gesagt – z. B. »Medien« hat, kann und will Kunst nicht mehr hervorbringen. Eine vollständige Erzählung über den Imperialismus – was sollte das sein?

    Die aus der Taz Gedrängten wollten weiter schöne Texte verbreiten, hatte aber keine Lust auf den Aufbau eines ganzen Zeitungsapparats. So kam Droste zusammen mit dem Hausbesetzer Cluse Krings auf die Idee, eine regelmäßige Vorleseshow zu veranstalten, »Die höhnende Wochenschau«, eine der ersten Lesebühnen. 30 Jahre ist das her. Wenig später wurde der Mauerfall dort höhnisch kommentiert: »DDR = der vorerst letzte Versuch, aus Deutschen Menschen zu machen.« Droste wurde dann Redakteur bei der Titanic, aber seine Idee führte zur Gründung vieler weiterer Leseshows, bis heute der einzige originelle Beitrag Kreuzbergs zur kulturellen Moderne. Auch Drostes »Benno-Ohnesorg-Theater« gastierte Anfang, Mitte der 90er noch nicht in der Berliner Volksbühne, sondern in Kinos oder Kneipen in Kreuzberg.

    Zur jW kam Droste 1994 mit dem damaligen Kurzzeitherausgeber Hermann L. Gremliza. Damals erhielt die Zeitung ihr neues Profil, verzichtete auf SPD-Lyrik und Grünen-Kitsch. Auch das Layout wurde überarbeitet. Dazu gab es eine Abokampagne mit dem Slogan: »Ich gebe mein letztes Hemd«. Wiglaf Droste machte mit.

    Im Gegensatz zu vielen anderen blieb er der Zeitung treu. Nicht wenige seiner Wegbegleiter waren überrascht, als er sich 1997 im Zuge der Jungle World-Abspaltung auf die Seite der verbliebenen Rumpfredaktion stellte. In der vierseitigen Notausgabe vom 23. Mai 1997 findet sich neben einer Erklärung von Verlag und Redaktion nur ein Text von ihm, in dem er den suizidalen Spaltungstrieb der Linken geißelt. Der blieb ihm weiterhin verhasst, auch wenn er selbst nicht eben zimperlich mit denjenigen umsprang, die er im Verdacht hatte, aufklärungsfeindlichen Abfall in die Welt zu kübeln. »Moralisches Gespreize« war ihm ebenso verhasst wie »linkstypischer Muff«, womit er sich keine Freunde machte.

    Als Droste im vergangenen Jahr den »Göttinger Elch« für sein satirisches Lebenswerk erhielt, sagte sein Freund Friedrich Küppersbusch in der Laudatio: »Wo andere zaghaft ein Fenster spaltbreit öffnen, springt er hindurch, und was dann hinterher blutet, ist nicht selten er selbst. Warum er das tut – Gewalt wittert, wo andere noch schunkeln; gewaltig austeilt, wo der sanfte Ordnungsruf als Hochliteratur gilt – das wurzelt in Wiglafs Wissen um Verletzung. Droste mag, wie die Süddeutsche schrieb, ›der Tucholsky unserer Tage‹ sein – ganz sicher beherrscht er die Zärtlichkeit des Holzhammers, ist ein Hooligan der Inbrunst, und manchmal leider untröstlich und selbstzerstörerisch im falschen Trost. Sehen Sie Wiglaf Droste in seiner Lebensrolle: ›Der Unumarmbare‹.«

    Doch umarmen wen oder was er liebte, das konnte Droste. Er sei »unglaublich großzügig« gewesen, sagt sein Verleger Klaus Bittermann. Menschlich, aber auch finanziell. »Er war immer auf der Überholspur, ohne Rücksicht für alles, was die Menschen so umtreibt, ihre Rente oder sonstwas. Er hat viel Geld verdient und alles wieder rausgeschmissen.«
    Die sprechende Kuh

    Seine letzte Fortsetzungsgeschichte in dieser Zeitung erzählte von einem Aufstand sprechender Tiere auf einem Biobauernhof und zog sich etwas. Wir kamen überein, dass sie noch 2018 abgeschlossen werden müsse. Als der für den 29. Dezember in der Zeitung bereits angekündigte, 69. und letzte Teil auf sich warten ließ, telefonierten wir, und es ging ihm überhaupt nicht gut. Er war nicht zu verstehen, und es schien völlig ausgeschlossen, dass er eine E-Mail senden, geschweige denn formulieren könnte. Wenige Minuten später kam die Mail mit dem Schluss der Serie, in der die Kuh Melissa den Bauern anstupst, um ihm »warm, klar und gerade ins Gesicht« zu sagen: »›Was wir im Feuer verlieren, finden wir in der Asche wieder.‹ – Idiot, der er war, begriff er.«

    Droste schrieb noch im tiefsten Delirium wahrhaftiger als die auflagenstarken Betriebsliteraten, das lag auch an seiner Ungeschütztheit. Die machte Auftritte für ihn so riskant. Die Angst, eines jüngsten Tages vor einer gleichgültigen Masse von Kulturkonsumenten auf der Bühne zu stehen, wird mehr als einmal lebensbedrohlich gewesen sein. Dass es nie auch nur annähernd soweit kam, dafür sorgte er jedesmal selbst. Mit maximaler Verausgabung. Exemplarisch war eine Veranstaltung vor einigen Jahren in einer linken Buchhandlung in Berlin-Moabit um die Ecke des Krankenhauses, in dem er auf Alkoholentzug war. Er nahm bei solchen Klinikaufenthalten immer rapide ab. Sein Körper wirkte schmächtig, sein Kopf dadurch riesengroß, was ihn störte, wenn auch nicht sehr. An jenem Abend in Moabit stand er in einer Art Krankenhaushemd in der völlig überfüllten Buchhandlung, mindestens 100 Leute waren erschienen. Das vielleicht größte Elend des Alkoholikers sei das ständige Klirren der unzähligen in der Wohnung herumliegenden Flaschen, erklärte er, trällerte einen Agitprop-Song von Piet Janssens (»Du kleine Löterin Halle sechs Platz sieben / was hast du alles schon gelötet / was ist von dem Mehrwert deiner Arbeit übrig geblieben / in deiner gottserbärmlich schmalen Lohntüte – du meine Güte!«), um am Ende des Abends in die Mitte des überfüllten Saales zu treten und mit geschlossenen Augen und einer warmen, festen, unglaublich vollen Stimme a cappella einen Klassiker von Tom Petty vorzutragen: »No I won’t back down / You can stand me up at the gates of hell / But I won’t back down / No I’ll stand my ground / Won’t be turned around«. Einigen wird beim Anblick dieses schwer gezeichneten Mannes, der tatsächlich bis zuletzt nie auch nur ein Schrittchen zurückweichen würde, ganz anders geworden sein.
    Herzensbildung

    In der jW vom vergangenen 1. Mai erinnerte sich Droste an die Folgen eines Textes, in dem er sich Anfang der 90er gegen die verbreitete Ansicht wandte, man müsse mit Nazis reden. »Muss man an jeder Mülltonne schnuppern? Niemand wählt Nazis oder wird einer, weil er sich über deren Ziele täuscht«, hatte er damals erklärt. Ihm seien diese Typen »komplett gleichgültig; ob sie hungern, frieren, bettnässen, schlecht träumen usw. geht mich nichts an. Was mich an ihnen interessiert, ist nur eins: dass man sie hindert, das zu tun, was sie eben tun«. Einige Wochen später zeigte ihm ein Polizeikommissar in Berlin eine Todesliste von Nazis, auf der er recht weit oben stand, und schlug ihm vor, einen Waffenschein zu machen. Er lehnte das ab. »Mein alter Freund Till Meyer von der Bewegung 2. Juni hatte mir einmal gesagt: ›Mit einer Knarre unterm Kopfkissen schläfst du nicht gut, vor allem nicht mit deiner Frau.‹« Was da nicht stand, einfach, weil kein Platz mehr war: Er sicherte die Tür seiner Berliner Mietwohnung in jener Zeit mit einem massiven Balken, den er beim Öffnen immer erst mal beiseite wuchten musste. Ein Vierteljahrhundert später seien die Nazis »phantomdemokratisch und medial eingemeindet«, endete die Erinnerung. »Sie haben Kampfgruppen bilden können und beste Verbindungen zur Bundeswehr, zur Polizei und zu den Geheimdiensten.« Bei solcher Gefahr im Verzug sei es um so wichtiger »zu wissen, wogegen man kämpft; wenn man auch noch weiß, wofür, rundet es sich. La vita è bella.«

    Es ging ihm um einen »Antifaschismus im Stil von Charlie Chaplin oder Ernst Lubitsch«. Der schien ihm »jedenfalls vielversprechender als die Fixierung auf Hitler als Jahrhundertbestie. Ein treffender Witz kann eine schärfere Waffe sein als der Knüppel über den Dääz, und wer mit Waffen kämpft, die seinem Feind nicht zur Verfügung stehen, läuft nicht Gefahr, ihm ähnlich zu werden.«

    Bei einem der letzten längeren Telefonate erzählte Droste Ende April von sich, von seiner Freude am Leben in Oberfranken und von Zurückliegendem, das ihm nicht gut getan habe, von einem Leseabend mit Gesang in der Buchhandlung seiner Frau und vom bevorstehenden Auftritt bei der SDAJ, die ihn zu ihrem »Festival der Jugend« zu Pfingsten nach Köln eingeladen hatte. Er sei sehr stolz darauf. Und dann, sinngemäß: »Weißt Du, ich bin Kommunist geworden. Anders ist das alles nicht auszuhalten.« Er sprach von denen, die ständig anderen Unsägliches bereiten und das auch noch rechtfertigen, von ihrer Indolenz, also Schmerzfreiheit und völligen Gleichgültigkeit. Er zähle sich zu denen, die Vernunft und Verstand folgen und, das sei wichtig, das mit »Herzensbildung« verbinden.

    Kämpfen wir also in seinem Sinne weiter gegen Bigotterie und Geiz, gegen das Sich-selbst-in-die-Tasche-Lügen, gegen Nazis und für das schöne Leben.

    Nach Angaben von Andrea Jungkunz ist eine Seebestattung geplant. Droste habe sich bei Trauerfeiern immer unwohl gefühlt, sagt sie, und deshalb keine für sich gewollt.

    12.04.2011: Grönemeyer kann nicht tanzen (Tageszeitung junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/162254.gr%C3%B6nemeyer-kann-nicht-tanzen.html

    https://www.youtube.com/watch?v=PI0P4KbyHxY

    Ein Konzertbesuch im April 1986
    Wiglaf Droste
    (laut stammeln und nuscheln):

    Herbert war hier. In Berlin. Tempodrom. Total ausverkauft. Aber billig. Feiner Zug. Könnte mehr nehmen. Ist populär genug.

    Herbert hackt Sätze. Nuschelt. Klingt lustig. Auch irgendwie kaputt.

    LP heißt Sprünge. Was meint er: Große Sprünge? Bochum– Hollywood? Sprung in der Schüssel? Weiß nicht.

    Kann nichts sagen. Angst. Kindheit: Vater Pils, Mutter ...