• Platz 1 der Musikcharts: Warum Udo Lindenberg nicht mehr „Rudi Ratlos“ singt
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    Veröffentlicht am 28.09.2011 Von Torsten Groß - 65 Jahre alt und kein bisschen müde: Der Künstler Udo Lindenberg, ein Inbegriff von Coolness. Mit „MTV Unplugged – Live aus dem Hotel Atlantic“ ist er an der Chartspitze und im Frühjahr 2012 geht er auf große Tournee.

    Rockmusik-Altstar Udo Lindenberg scheint derzeit alles zu gelingen: Nun steht er mit einem Album zum zweiten Mal in seinem Leben an der Spitze der Hitparade.

    Alles ist so, wie man sich das vorstellt. Die sogenannten Likörelle zieren die Wände des Hamburger Hotels „Atlantic“, in dem Udo Lindenberg (65) seit vielen Jahren wohnt, das sanfte Gedudel des Bar-Pianisten erfüllt den Raum. Lindenberg hat sich verspätet – Zeit, um darüber nachzudenken, was die letzten Jahre so passiert ist.

    Denn wie Udo Lindenberg, den man zeitweise durchaus als den Verfemten, gewiss aber einen viel Belachten der deutschen Rockmusik bezeichnen konnte, 2008 quasi aus dem Nichts das erfolgreichste Album seiner Karriere veröffentlichte und seitdem von einem Gipfel zum nächsten springt, ist wohl eine der erstaunlichsten, aber auch schönsten Erfolgsgeschichten seit langer Zeit.

    Nach einem eigenen Musical steht er nun mit seiner Platte „MTV Unplugged – Live aus dem Hotel Atlantic“ auf Anhieb und zum zweiten Mal in seinem Leben an der Chartspitze. Und nun geht er im Frühjahr 2012 auch noch auf große Tournee.

    Dem Sänger ist sein Comeback also geglückt, seiner langjährigen Wohnstätte auch: Das Hotel „Atlantic“, das einen Stern wegen Baufälligkeit hatte abgeben müssen, bekam noch während der Renovierungsarbeiten seinen fünften Stern zurück.

    Die „Bild“-Zeitung meldete vor einigen Wochen, Lindenberg lebe gar nicht mehr hier, seine Gemächer hätten ihm nach der Renovierung nicht mehr gefallen. Das Personal sagt: „Wir dürfen Herrn Lindenberg nicht anrufen und wissen nicht genau, ob er oben ist.“

    Was im Prinzip bedeutet: Er wohnt noch hier. Nach 30 Minuten kommt er von draußen rein, grüßt und führt in ein Separee in der Halle. Bestellt zuckerfreies Red Bull, zieht an der Zigarre. Sein Smartphone meldet sich alle paar Minuten mit einem John-Sinclair-haften Gespensterheulen, bis er es irgendwann ausmacht.

    Welt Online: Wohnen Sie noch hier?

    Udo Lindenberg: Ich penne nicht hier, morgens ist es hier zu laut.

    Welt Online: Wegen der Renovierungsarbeiten?

    Lindenberg: Genau. Musste auch mal sein, nach 100 Jahren.

    Welt Online: Kommen Sie danach zurück?

    Lindenberg: Och, mal gucken, weiß nicht. Erst mal vielleicht in die Südsee, Gauguin und so. Jacques Brel meine Ehrerbietung erweisen, der liegt da begraben auf einer Insel in der Nähe von Papeete. Und ein bisschen weiter ist dann Marlon Brandos kleines Hotel auf dem Atoll, das er sich gekauft hat, als er aus dem Lug und Trug und dem ganzen Hype von Hollywood rauskommen wollte. Da hat er auch seine Frau kennengelernt, „Meuterei auf der Bounty“ und so. Die lebt immer noch da, hat letztens eine Biografie veröffentlicht. Ich fahre ja drei- bis viermal im Jahr zur See, Sonntag geht’s wieder los zum Nordkap …

    Lindenbergs Antworten mäandern durch die Jahrzehnte, immer wieder unternimmt er weite Ausflüge in vermeintliche Randgebiete, kehrt aber dennoch meist zum Kern der Frage zurück. Wenn man einmal begriffen hat, wie der Rhythmus dieses Mannes funktioniert, kann man auch gut mit ihm reden, und die bekannten Manierismen halten sich in Grenzen.

    Welt Online: Bei dem MTV-Konzert kamen einige eher unerwartete Songs zum Einsatz wie zum Beispiel „Good Life City“. Wie wurden die Sachen ausgewählt?

    Lindenberg: Irgendeiner kam an und meinte: „Hey komm, ist doch ein geiler Song, mach den doch mal.“ So lief das mit den meisten Songs.

    Welt Online: Hören Sie selbst diese alten Platten heute noch, und wenn ja, gibt es da welche, die besser und schlechter gealtert sind?

    Lindenberg: Durch den spielerischen Umgang mit dem Material, wie Bert Brecht immer gesagt hat, kann man eine Menge aus manchen alten Dingern machen. Einigen Songs kann man ein neues Kleidchen anziehen, sodass sie plötzlich zur schönsten Dame des Abends werden. Andere stehen allerdings eher mit einem Fragezeichen in der Ecke. Bei einigen alten Sachen hört man auch zu sehr meine damalige Hit-Absicht raus.

    Welt Online: Was wären das für Sachen?

    Lindenberg: Ach, „Rudi Ratlos“, „Reggae Meggie“ und so. Diese flapsige Zeile „Leibmusikalartist von Adolf Hitler“, so was gefällt mir heute nicht mehr. Es gab ein Konzert in Schwerin vor 15 Jahren, wo mir aufgefallen ist, wie doof das ist. Und dann hab ich zu den Leuten gesagt: „So, ihr seid jetzt Zeugen eines historischen Augenblicks, ich werde nie wieder ,Rudi Ratlos‘ live singen.“ Hab mich dran gehalten.

    Welt Online: Wie wurden die Gäste ausgewählt?

    Lindenberg: Erst mal gab’s einen Wunschzettel, auf den jeder seine Favoriten geschrieben hat. Dann haben wir geguckt, wer kann denn, wen wollen wir, und welcher Song könnte zu wem passen? Ich wollte ja gerne auch mal Lou Reed haben auf die alten Tage. Hat aber nicht geklappt, weil er gerade mit Metallica an einer Platte arbeitete.

    Welt Online: Kennen Sie einander?

    Lindenberg: Ja, aus der Berliner Zeit. Lou war damals im Hansa-Studio, arbeitete an Berlin-Songs, Brecht, Weill, „September Song“, so was. Bowie war damals auch da, eine historische Stätte.

    Welt Online: Ich hätte eher alte Weggefährten wie Westernhagen, Otto oder Peter Maffay erwartet. Gibt’s da noch Kontakt?

    Lindenberg: Hm, nee, eigentlich nicht so richtig. Wenn Peter mal auf Tour kommt, gehe ich immer hin, weil er ja auch mit unseren Musikern unterwegs ist. Zu Marius und Grönemeyer gibt es keinen Kontakt. Nicht meinetwegen, die haben das nicht so gesucht in den letzten Jahren. Machen ihren eigenen Streifen, was ja auch okay ist. Otto hingegen schon, wir haben einen sehr guten Draht. Aber sonst …

    Viele gibt’s ja auch gar nicht mehr. Niedecken treffe ich manchmal. Oder Doldinger, der ist superfit mit seinen 75 Jahren. Grundsätzlich finde ich es aber interessanter, mit jungen Musikern Zeit zu verbringen. Jennifer Rostock, Frida Gold oder so … Manchmal ist das ganz genial, manchmal auch eher so, dass man denkt: „Nun ja, mal gucken, braucht wohl noch ein bisschen Zeit.“

    Welt Online: Auf einmal erinnert sich wieder jeder an Udo Lindenberg. Als es mit der Karriere nicht mehr so lief, waren Sie für manche ein bisschen zum Spottobjekt geworden.

    Lindenberg: Ich freu mich wie ein Kleinkind! Dieser Riesenerfolg ist ja sehr unerwartet über mich reingebrochen. Und dann sitzt du morgens im Bett und heißt nicht mehr Lindenberg, auf einmal heißt du Udo Freuberg! Das passiert ja doch nur wenigen. Die meisten spielen immer weiter ihre alten Songs, aber dass man noch mal ein neues Publikum erreicht. Das ging vom Kleinkind bis zum Ur-Daddy.

    Welt Online: War das vielleicht auch eine Genugtuung, es den Spöttern noch mal gezeigt zu haben?

    Lindenberg: Ja, das gab’s. „Karikatur seiner selbst“ und so haben einige geschrieben. Aber Genugtuung? Hm … eher Freude! Weil ich so auch beweise, dass Alter für Radikalität stehen kann und nicht für Durchhängen. Wie bei den alten Bluesern. Bei den Rockern sind wir ja die erste Generation, die den Beweis antritt, dass das geht. „Die young, stay famous“ muss nicht sein, es gibt Alternativen zu James Dean.

    Welt Online: Nachdem Sie 20, 30 Jahre lang jedes Jahr mindestens eine Platte veröffentlich hatten und dauernd auf Tournee waren, haben Sie Ihr Pensum zuletzt zurückgefahren.

    Lindenberg: Wir haben in den Studios gewohnt, hatten da dauernd Partys, lagen breit unterm Mischpult, blieben nachts gleich da, das ging über Monate. Wir hatten große Budgets, konnten alle Ideen verwirklichen. Und dann diese Masse an Songs. Wir waren unheimlich produktiv.

    Die meisten Stars schützen ihr Privatleben und pflegen zwei Identitäten: die öffentliche und die private. Nicht so Udo Lindenberg. Der ist 24 Stunden Udo Lindenberg. Selbst alte Freunde wie Westernhagen sagen: Der ist immer so. Redet mit jedem gleich. Macht keine Unterschiede.

    „Und in den Kneipen haut man ihm auf die Schulter, sodass sie ihm fast bricht, doch er weiß, wie das gemeint ist, und deshalb weint er nicht“, sang er 1977 in „Mister Nobody“. Zwei Kellnerinnen kommen um die Ecke, sagen: „Hallo, wie geht’s?“ "Hallöchen Mädels", sagt Lindenberg, „alles cool, alles wunderbar, fangt ihr gerade an? Welch ein erfrischender Anblick am frühen Morgen. Ich komm gerade aus der Poofe, das baut einen wieder auf.“ Es ist 18 Uhr.

    „Allerdings war ich auch schon schwimmen“, schiebt er schnell hinterher. Das sei das Praktische am Hotelleben: „Ich werde wach, frühstücke im Bett, lese Zeitung, gucke bisschen Nachrichten, gehe schwimmen. Während ich unten bin, wird das Zimmer fertig gemacht – ideal.“

    Welt Online: Damals wie heute war Ihr Lebensmittelpunkt in Hamburg. Stadt und Kiez haben sich seitdem verändert.

    Lindenberg: Es wird immer schlimmer, jetzt wollen sie sogar die Esso-Tankstelle abreißen. Das ist immer weniger unser alter Rock-’n’-Roll-Kiez und immer mehr Schnöseldorfer Plastikallee. Das St. Pauli Theater, das Docks, die Große Freiheit – das muss bleiben, und bitte nicht zu clean. Dann natürlich die Elbphilharmonie mit der ganzen Kohle, die da reingeht. Das erste Interview mit Olaf Scholz war dann so: „Alle Kinder sollen da hingehen.“ Aber was sollen die denn da machen? Orff-Schulwerk oder was? Es gibt einen großen Lockefinger Richtung Berlin. Da zieht’s mich immer mehr rüber.

    Welt Online: Gibt es noch unerfüllte Träume?

    Lindenberg: Vielleicht Kino, große Filme machen und so. Aber als älterer Herr will ich auch nicht dauernd mit hängender Zunge rumhecheln und nur malochen. Allerdings bin ich nach wie vor Abenteurer und Spielkind. Und wenn Angebote kommen wie MTV oder das Musical, dann juckt mich das schon.

    Danach kommt ein Paar aus Wanne-Eickel. Sie erzählt, wie sie früher der DDR-Cousine heimlich Lindenberg-Platten mitgebracht hat. Natürlich wollen sie Fotos, Autogramme. Und natürlich macht der öffentliche Mensch Udo Lindenberg gelassen alles mit. Er lässt sich auf die Schulter hauen. Und natürlich bricht sie nicht.

    #Allemagne #musique