Das ganz andere (Tageszeitung junge Welt)

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  • 13.06.2019 : Das ganz andere (Tageszeitung junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/artikel/356476.raf-und-co-das-ganz-andere.html
    C’est une analyse politique d’un ancien membre de la Rote Armee Fraktion . Il est rare de pouvoir lire le point de vue de ces militants qui ne sont que des « terroristes » pour les médias majoritaires. C’est moins bête que bien des pamphlets des années ’70 et ’80.

    13.06.2019, von Karl-Heinz Dellwo

    Die RAF und andere bewaffnete Gruppen waren für die Linke in Westdeutschland eine Zeitlang von großer Bedeutung. Beerdigung der RAF-Mitglieder Wolfgang Beer und Juliane Plambeck am 1. August 1980 auf dem Dornhaldenfriedhof in Stuttgart

    Karl-Heinz Dellwo (Jg. 1952) war Mitglied der Rote Armee Fraktion. Er ist Verleger des ­Laika-Verlags in Hamburg. Wir dokumentieren im folgenden einen leicht gekürzten Vortrag, den Karl-Heinz Dellwo am 1. Juni auf Einladung der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken – Weser-Ems im Ostpassagen-Kino in Leipzig gehalten hat. (jW)

    Nächstes Jahr, am 14. Mai, jährt sich zum 50. Mal die Befreiung von Andreas Baader, ein Ereignis, das in der Geschichtsschreibung als offizielle Gründung der Rote Armee Fraktion (RAF) gilt. Können wir heute davon sprechen, dass die RAF Geschichte ist, es also auch eine Geschichtsschreibung gibt, die sie in ihrer Zeit betrachtet und auch bewertet?

    1970, im Gründungsjahr der RAF, wurde ich 18 Jahre alt. Gut 50 Jahre zurück lag damals die Novemberrevolution. Ein Ereignis, unendlich weit weg. Dazwischen lagen die Weimarer Zeit, die Nazizeit, der Zweite Weltkrieg, die Restaurationsperiode der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die Kommunistenverfolgung und der Kalte Krieg, die Entpolitisierung der inneren Klassenkämpfe auf den Zustand ökonomischer Verteilungsfragen, die Revolution in Kuba, die Kolonialverbrechen in Afrika und der antikoloniale Kampf dagegen, der Vietnamkrieg, und endlich der Aufbruch in jener Zeit, die wir mit der Chiffre »’68« bezeichnen und den wir als unseren betrachten.

    Ohne Geschichte

    Wir fanden uns ohne tradierte Geschichte wieder. Die Geschichtsschreibung der revolutionären Linken war zerstört, fragmentiert, in das Vergessen-Sein hinabgedrückt worden. Ich bin mit 19 Jahren ein paar Monate zur See gefahren und traf auf dem Schiff einen älteren Mann, der mir, als wir alleine waren, erzählte, dass er KPD-Mitglied war und dafür später eine Zeitlang im Gefängnis saß – wohlgemerkt: in der BRD. Als ich ihn später in einem größeren Kreis darauf ansprach, zuckte er zusammen und erklärte mir hinterher, ich solle ihn bloß nicht in der Öffentlichkeit auf diese Vergangenheit ansprechen. Die Vergangenheit war für ihn verloren und tabuisiert.

    Mit dem Sieg der Nazis begann die Zerschlagung letzte systemoppositioneller Positionen in der Gesellschaft, etwas, das durch das Bündnis kaisertreuer und rechtsnationaler Militärs und der sich durch Kriegsbeteiligung am Ersten Weltkrieg korrumpierten Sozialdemokratie mit ihren Noskes und Eberts damals schon in Gang gesetzt war.

    Der restaurierte Kapitalismus nach 1945 mit seiner von außen erzwungenen neuen Bürgerlichkeit – die ist kein Verdienst der deutschen Eliten, sie wurde ihnen durch die Alliierten diktiert – und den darin bruchlos integrierten Nazis, hat an dieser Vernichtung, an diesem alten Klassenhass der Nazis und der mit ihnen verbündeten Bourgeoisie angesetzt, sie beibehalten und vollendet: Dafür steht das KPD-Verbot 1956. Man bekommt heute noch Atemnot, wenn man sieht, wie die in die BRD übergewechselten Verbrecher aus der Nazizeit in der bundesdeutschen Justiz und Polizei, in Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz oder in den Medien weiterhin die Kommunisten verfolgen und sanktionieren konnten.

    Wir, die wir in dieser Zeit aufgewachsen sind, waren also in gewisser Weise geschichtslos. Nicht, dass man uns keine Geschichte anhing. Es wurde dauernd versucht, Kommunismus und Sozialismus als das Schlimmste auf der Welt zu vermitteln. Aber wir hatten von unserer Seite her keine Klassenkampfgeschichte mehr. Wir hatten nur noch die Geschichte der sich restaurierenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, und die war einfach nur verlogen.

    Wir wussten wenig. Aber das lag nicht an uns. Wir mussten die Wahrheit über die Verhältnisse selber suchen. Von denen, die das System verteidigten, wurde alles verschleiert. Wir wussten zuerst intuitiv, dann aber als Begriff, dass die Arbeiterbewegung mit ihren alten Klassenkampfformen offenkundig eine historische Niederlage erlitten hatte, mit der verheerenden Folge, dass zwölf Jahre lang das reine Verbrechen in Europa wüten konnte. Wir wussten, dass der Realsozialismus ein erstarrter Klassenkampf war, dass der emanzipatorische Impetus, der mit jeder Revolution verbunden ist, natürlich auch mit der Oktoberrevolution in Russland (die beim Aufbau einer Staatlichkeit, nachholend war, denn der Zarismus hatte in Russland eine völlig veraltete Staats- und Gesellschaftsstruktur hinterlassen), in der Verteidigung gegen eine von außen angreifende internationale Konterrevolution geopfert worden war. Wir mussten also den Klassenkampf neu erfinden. Aus der Vergangenheit war kein Mut zu ziehen.

    Und irgendwie ahnten wir, dass die Zeit reif war für einen Bruch mit den bisherigen Verhältnissen. Schlagartig wurde einem klar, wo man hingehörte und wohin nicht. Man gehörte zu denen, die alles verändern wollten, und nicht zu denen, die, wenn vielleicht auch reformiert, das alte fortsetzen wollten. Plötzlich war die Vorstellung einer anderen Welt konkret, sie war da, und sie war befreiend, ein neues Atmen, ein Zerfetzen des Nebels der Gewohnheiten, und sie brachte die notwendigen Tugenden für den Aufbruch mit: Unerschrockenheit, Mut und Übermut, völliger Verlust der Angst vor Autoritäten und Traditionen, Selbstsicherheit und Selbstvertrauen gegenüber einer Welt, die nicht die unsere war.

    Selbstverständliche Gewalt

    Und wir haben natürlich nach den Gründen der Niederlage des alten Klassenkampfes gefragt. Ich bin 1973 in Hamburg für ein Jahr ins Gefängnis gekommen als Hausbesetzer. Wir hatten ein Haus besetzt mit der expliziten Absicht, etwas Grundsätzliches gegen den Kapitalismus zu machen. Grundsätzlich bedeutete für uns, dass wir einen Raum kämpfend erobern, in dem jedes kapitalistische Prinzip gebrochen ist, das der Verwertung, das der Degradierung des Menschen zum Objekt, das mit der bürgerlichen Gesellschaft verbundene System aus Schuld und Sühne, Fehler und Bestrafung, Anpassung und Unterwerfung. Der Staat in Gestalt der von der SPD geführten Stadt Hamburg hat das auch so gesehen und einen militärischen Einsatz gegen uns befohlen: Die Räumung war der erste Einsatz eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK), und während der Räumung wurde scharf geschossen. Ich war ein Jahr lang im Gefängnis, vollständig isoliert und habe viel durchgemacht, aber auch viel gelesen, darunter das Buch von Max Hoelz: »Vom weißen Kreuz zur roten Fahne«. Vor dem Hintergrund unserer unmittelbaren eigenen Erfahrung, dass auf unsere Hausbesetzung reagiert wurde, als hätten wir einen bewaffneten Angriff auf den Staat durchgeführt, mit Gefängnis, Totalisolation, der Gewalt im Vollzug mit seinen ganzen Zurichtungsversuchen, fand ich die Prozessrede von Max Hoelz Ende der 1920er Jahre, in der er selbstkritisch bemerkte, dass die Linke immer zu harmlos ist, dass sie Mühe mit den revolutionären Kampfformen hat, treffend für unsere Situation. Wir wussten lange vorher, auf was wir stoßen würden und haben es dennoch verdrängt und anders gehandelt. Wir, die wir nach der Hausbesetzung ins Gefängnis kamen, waren wegen Banalitäten hart verurteilt worden, und ich zählte zu denen, die daraus den Schluss zogen, dass unser Kampf ein wirklicher sein muss.

    Jahre zuvor hat es den Schuss auf Benno Ohnesorg gegeben, eine von der Justiz dann gedeckte staatliche Exekution, ein Jahr später das Attentat auf Rudi Dutschke, ideologisch vorbereitet und mitinitiiert von den Medien des Springer-Konzerns und der Deutschen Nationalzeitung, aber auch von der rechten Berliner SPD-Fraktion unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz.

    Um uns herum war eine herrschende Klasse, die wie selbstverständlich Gewalt einsetzte und dabei die Unterstützung einer altnazistisch geprägten Mehrheitsgesellschaft hatte, die gewalterprobt war, die jahrelang im Krieg Mord und Terror gegen andere Völker, gegen Juden, Kommunisten, Roma und Sinti, Homosexuelle und andere, die nicht in ihr Weltbild passten, geübt hatte und von dieser Sozialisation auch nicht mehr weg kam. Die gesamte Gesellschaft war gewalttätig aufgeladen. Ich erinnere immer wieder daran, dass 1970 in Konstanz der Facharbeiter Hans Obser einen 17jährigen Auszubildenden auf einer Parkbank mit einem Bolzenschussgerät tötete, weil er ihn für einen Gammler hielt. Er wurde dafür von einer verständigen Justiz zu tatsächlich nur drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, gewiss nicht, weil man die Tat billigen wollte, offensichtlich aber, weil man sie verstehen konnte.

    Die Erzählung von der »Demokratie in der BRD« ist eine Lüge. Der Form nach mag das stimmen, vom Inhalt her nicht, und deswegen konnte der »Wirtschaftswunderminister« und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard auch die Ständeordnung einer »formierten Gesellschaftsordnung« propagieren. Angela Merkel toppte das später mit dem Begriff der »marktkonformen Demokratie«.

    Von dieser Gesellschaft wollte man kein Teil sein und nichts mit ihr gemein haben. Von ihr wollte man getrennt sein und eigene Wege gehen. Diese Trennung war nur möglich als Bruch, als eine Haltung, die sich gegen das Ganze stellte. Denn nicht nur die Mentalität der Mehrheitsgesellschaft war für uns falsch. Das ganze Konstrukt einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft war für uns falsch und bedrohlich.

    Wenn wir an die Zeit damals denken, dann haben wir nicht nur die Haltung der altnazistisch geprägten Mehrheitsgesellschaft vor uns. Wir haben es auch mit einer Zeit zu tun, in der das Kapital in eine Verwertungskrise geraten war und zu einer Modernisierung ansetzte. Die Verwertungskrise war offenkundig. Die »soziale Marktwirtschaft« war ökonomisch an eine Grenze gekommen. Nachdem die Deutschen so fanatisiert waren, dass sie ihrem Führer bis zum letzten Tag folgten und mit aller Gewalt niedergerungen werden mussten, war auch das Land zerstört, und in der Tat brauchte man zur Aufhebung dieser Zerstörung Massen an Arbeitskräften. Wenn man heute wieder alles zerstören würde, käme man morgen auch für eine längere Zeit wieder zur Vollbeschäftigung zurück. Aber dieser Wiederaufbau, international auch aus politischen Gründen gegen den Realsozialismus mitfinanziert, war Mitte der 1960er Jahre abgeschlossen, und damit trat auch in der BRD die Normalität der kapitalistischen Produktion und ihrer Krisenzyklen wieder in den Vordergrund, der Zwang zur Senkung der Produktionskosten und damit zur Abschaffung von Arbeitskraft.

    Auf diese Mitte der 1960er Jahre auftretende Krise reagierte das Kapital mit Ausweitung der Ausbeutungsbereiche. Damals begann das, was heute allumfassende Realität im Kapitalismus ist: Auch das private Leben wurde der Verwertung unterworfen. Heute sind alle Lebensbereiche dem Prinzip der Produktion und des Konsums unterworfen. Heute scheint es keine Welt mehr zu geben, in der das Prinzip der Verwertung von Natur und Leben nicht dominierend ist.

    Diese Kombination aus reaktionärer Gesellschaftlichkeit und Übergreifen der Verwertung auf die bisher vom Kapital noch nicht der Verwertung unterworfenen Lebensbereiche machte die Besonderheit der BRD in der westlichen Welt in den 1960er Jahren aus und ist, neben den internationalen Geschehnissen, für die der Vietnamkrieg pars pro toto steht, der Hintergrund, auf dem sich hier die Revolte vollzog, die 1968 ihren Höhepunkt erreichte.
    Ohne Arbeiter

    Und hier können wir dann über den bewaffneten Kampf sprechen. Was unter »1968« gefasst wird, war nach der Oktoberrevolution, der zweite, weltweit relevante politische Einbruch von links in die Welt des Kapitals und beinhaltete im Kern die Vorstellung, das gesamte Leben zu ändern. Das macht jenes »’68« so radikal. Wir erkannten die Welt um uns herum als eine, die wir nicht mehr wollten, und plötzlich tauchte eine andere auf, nicht als Traum oder Utopie, sondern als konkrete Möglichkeit. Einem solchen geschichtlichen Moment, als das Fenster zu einem anderen Leben in gewisser Weise einen schmalen Spalt geöffnet war, musste man folgen. Man musste versuchen, das Fenster völlig aufzustoßen. Das war eine wesentliche soziale Triebkraft. Insoweit ist ’68 eine wirkliche Revolte gewesen.

    Ihre später hervortretende Schwäche war, dass die hergestellte und ersehnte Gegengesellschaftlichkeit über die Änderungen im Überbau des Systems nicht hinaus kam. Die Französische Revolution war möglich, als das Bürgertum mit seinen Manufakturen die gesellschaftliche Produktion in der Hand hatte und den unnütz gewordenen Adel politisch entmachten konnte. Die 68er-Bewegung kam an die Produktionssphäre nicht heran. Dazu fehlte eine politisch bewusste Arbeiterklasse. Deswegen wurde die 68er-Bewegung nicht wirkliche Gegengesellschaft, sondern stellte Gegengesellschaftlichkeit nur im Bereich des Überbaus her. Damit war sie mittelfristig integrierbar. Denn im Überbau lässt sich zwar die Vermittlung des Kapitalismus verändern, aber nicht sein Prinzip. Auf diesem Wege wurde die Haltung nach und nach weniger radikal, die Hoffnung aber blieb noch lange. Nur fand diese Hoffnung keinen realen Ausdruck mehr in der eigenen alltäglichen Praxis. Die Erschütterung des Kulturellen, die die 68er-Revolte einleitete und die sich auf den Straßen dann irgendwann totlief, führte auf Neben- und Fluchtwege. So entstanden die Ideen des »Marsches durch die Institutionen«, so entstanden die K-Gruppen, so entstanden kulturelle Basisinitiativen mit antiautoritären Kinder- und Jugendgruppen, die im Bereich der Erziehung und Bildung den Ansatz für eine völlig andere zukünftige Gesellschaft sahen. Die Frauenbewegung kam auf. Und es bildeten sich die bewaffneten Gruppen.

    unterschieden sich von allen anderen. Sie verweigerten jede Zusammenarbeit und jede Integration, und sie negierten alle Versuche, sie zu kaufen. Sie bestanden darauf, dass der Kapitalismus ein vernichtendes System ist und gestürzt werden musste. Ihre Praxis war nicht auf später ausgerichtet, sondern auf den Aufbau von sofortiger Gegenmacht.

    Es ist in Wirklichkeit nicht die Bewaffnung, die den bewaffneten Gruppen vorgeworfen wird und die bis heute dazu führt, dass sie im öffentlichen Raum tabuisiert werden. Was ihnen vorgeworfen wird, ist ihre soziale und politische Intransigenz, ihr bedingungsloser Einsatz für den Sturz des kapitalistischen Systems, gegen den jeder Integrationsversuch aussichtslos war und scheitern musste. Es ist der Versuch dieser Gruppen, ein »Außen« herzustellen, ein »Anderes«, das die Gesetze und Regeln der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht anerkennt, sondern etwas Neues schaffen will, das auf seiten des Systems dazu führt, eine andere Art von Krieg auszulösen. Denn das »Außen« und das »Andere« sind untrennbar verbunden mit der Frage nach dem Sinn der bestehenden »Normalität« und der Möglichkeit von Gegenmacht und Gegen­souveränität, um eine andere, kapitalismusfreie Welt zu schaffen.
    Stellvertreterfunktion

    Man kann »’68« auch als einen revolutionären Aufbruch verstehen, der abgebrochen wurde. Dieser Abbruch war für viele, für die ’68 mit der Hoffnung auf das Ende des Kapitalismus verbunden war, etwas Unerträgliches. Hier liegt der Grund, warum die bewaffneten Gruppen noch über lange Jahre hinweg als Teil der eigenen linken Geschichte begriffen wurden. Sie haben stellvertretend für eine oder zwei Generationen die Möglichkeit der Revolution oder eben ihre Unmöglichkeit in dieser Zeit praktisch erfahrbar gemacht.

    Was waren die bewaffneten Gruppen, was die RAF, die Bewegung 2. Juni, die Roten Brigaden? Ich kann, aus einer historisierenden Sichtweise, keinen Sinn darin erkennen, sie über ihre Aktionsgeschichte zu definieren. Manche Aktionen waren gut, manche politisch oder sozial sinnvoll, manche sozial und politisch falsch. Wie überall im Leben reiht sich auch hier das Richtige ans Falsche oder umgekehrt. Und, zurückkehrend auf das eingangs erwähnte: Es gab keine praktische Erfahrung. Die Erfahrung musste erst gemacht werden. Es musste und muss eine neue Form – und ein neuer Inhalt – des revolutionären Widerstands und Kampfes her.

    Der Kapitalismus zwingt uns eine falsche Existenz auf, er lehrt uns, dass seine Produktions- und Konsumtionsweise alternativlos sei, dass seine Höhle, in der das Leben des Menschen eingefangen ist, dessen ausschließlich mögliche Existenzweise ist.

    Der Kommunismus – und der Sozialismus auf dem Weg dahin – sprach in seiner alten Form davon, dass die Höhle ein Ort der bleibenden Unkenntnis, Unfreiheit und Ausweglosigkeit ist. Er wollte die Menschheit mittels des Klassenkampfes aus dieser Höhle herausführen. Aber damit verbunden waren auch Vorstellungen einer linearen Entwicklung des technologischen Fortschritts, der Glaube, dass die Technik den Menschen vom Reich der Not befreien könne. In dieser Hinsicht wies der Kommunismus Verwandtschaft mit seinem Feind Kapitalismus auf. Heute wissen wir, dass die lineare Fortschreibung technisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse das Reich der Not möglicherweise eher vergrößert als verkleinert.

    Slavoj Zizek hat in einem Vortrag mit dem Titel »Mut zur Hoffnungslosigkeit« vor eineinhalb Jahren im Schauspielhaus in Hamburg auf das Höhlengleichnis von Platon hingewiesen und meinte, dass bewaffnete Gruppen wie die RAF vielleicht die historische Aufgabe angenommen hätten, die Menschen aus der Höhle, in der sie festsitzen, zu vertreiben und zur Freiheit zu zwingen. Das Produktive am Höhlengleichnis ist, auf eine Welt hinzuweisen, die außerhalb der Höhle liegt. Wir erinnern uns alle an Francis Fukuyama, der nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus vom alternativlosen »Ende der Geschichte« sprach.

    Ich möchte im Kontext der bewaffneten Gruppen noch einen anderen Gedanken aufgreifen. Den des »Deus ex machina«, des Gottes aus der Maschine im griechischen Theater, wo die Götter in einer Art von Flugmaschine auf die Bühne hinabschweben und nach ihren eigenen Gesetzen alles ändern.

    Beides, das Heraustreiben aus der Höhle und das Ändern der Spielregeln und damit die Herrschaft der Menschheit über Ort und Zeit sind Attribute einer wirklichen Revolution, die sich mit allem, was der Mensch hat, gegen jene falsche Welt stellt, in der er nichts anderes ist als das Objekt niederträchtiger Verhältnisse.
    Außerhalb der herrschenden Logik

    Mir ist es inzwischen völlig egal, ob man einzelne Aktionen der bewaffneten Gruppen herausgreift, um sie moralisch zu verurteilen. Mag sein, ich sprach schon davon, dass manches falsch und manche Niederlage auch verdient war. Aber das Zentrale an den bewaffneten Gruppen war, dass sie von einer anderen Welt wussten, dass sie sinnlich von ihr erfasst waren, und dass sie wussten, dass der Kampf um das ganze Leben geht. Nur das allein gab die Kraft, alles durchzustehen und bei aller Gewalt des Systems nichts im Leben zu vermissen. Jeder Kampf, der nicht das Leben aller berührt, wird emanzipatorisch unfruchtbar bleiben.

    Was immer sie auch falsch gemacht haben, die bewaffneten Gruppen wollten den Bruch mit dem Bestehenden, sie wollten nicht innerhalb der herrschenden Logik eine Lösung suchen, sondern außerhalb und gegen sie. Ich halte das für ein Verdienst.

    Und weil dieses Problem für alle, die grundsätzlich am falschen Leben etwas ändern wollen, die diese demütigende Existenz als Produktions- und Konsummonade nicht hinnehmen wollen, weiter existiert, kann heute offensichtlich immer noch nicht über die RAF oder die anderen bewaffneten Gruppe diskutiert werden. Hier herrschen das Tabu und die dumme Distanzierung. Die Regeln sollen nicht verändert werden. Der Mensch soll in der Höhle bleiben.

    #Allemagne #gauche #RAF #répression #lutte_des_classes