Automobilgeschichte : Die Mär vom VW Käfer und der deutschen Autobahn

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    Heute ist die Bundesrepublik eine Nation von Autofahrern. Den Weg in die motorisierte Gesellschaft aber hat das Zweirad gewiesen. Am Anfang stand das Motorrad, fand ein Historiker jetzt heraus.

    Der Brautschleier weht im Wind, doch sie hat ihren Schatz fest im Griff. Er sitzt mit Zylinder und Frack vor seiner Herzdame und gibt auf dem Motorrad die Richtung vor. So setzte der Berliner Milieu-Zeichner Heinrich Zille um 1920 das Paar für seine Tuschezeichnung „Brautomobil“ in Szene.

    Was heute ein Jaguar oder ein schöner Benz ist, war früher das Motorrad: ein Prestigeobjekt, mit dem der Bräutigam vor der Kirche Eindruck schinden konnte. Überhaupt ließ sich die Damenwelt vor 90 Jahren gern von Motorradfahrern betören. Archivfotos zeigen kuschelnde Pärchen auf knatternden Maschinen.

    „Die Deutschen waren am Anfang ein Volk von Motorradfahrern“, sagt Frank Steinbeck, 40. Der Historiker hat seine Dissertation über die deutsche Automobilgeschichte an der TU Berlin vorgelegt. Die überraschende Erkenntnis aus seiner Arbeit: Nicht das Auto hat die Deutschen mobil gemacht, sondern das Motorrad. Es erlebte einen weitläufig unterschätzten Aufstieg vom Sport- und Experimentiergerät in der Kaiserzeit hin zu einem Volksfahrzeug für die Massen in der Weimarer Republik – bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg.

    Und auch wenn die Deutschen mit Autobahn und VW Käfer in Verbindung gebracht werden und dafür bekannt sind, seit jeher eine Affenliebe zu Blechkisten zu pflegen: Der Zweiradboom hielt bis in die frühen 60er-Jahre an und flaute erst mit zunehmender Entfaltung des Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik ab. „Die Deutschen waren ein Volk von Motorradfahrern, das – im Vergleich zu anderen westlichen Industrienationen – erst sehr spät von zwei auf vier Räder umstieg“, konstatiert Steinbeck.

    DDR bis 1989 Motorradnation

    1938 noch verkehrte die Hälfte aller weltweit zugelassenen Motorräder im Deutschen Reich. Automobile trugen nur zu vier Prozent zum Gesamtfahrzeugbestand bei; in den USA besaß dagegen Ende der 20er-Jahre jeder vierte Amerikaner ein eigenes Auto. In der DDR war das Motorrad sogar noch bis zum Mauerfall 1989 Kraftfahrzeug Nummer eins.

    Schon jetzt wird „Das Motorrad. Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft“ (Franz Steiner Verlag, 346 Seiten, 57 Euro) als „wissenschaftliches Standardwerk“ gepriesen. Bislang hätten sich die Experten viel zu wenig mit der Bedeutung der Motorräder beschäftigt, sagt Autor Steinbeck.

    Während in den USA und Großbritannien große sozialgeschichtliche Studien zum Motorrad verfasst wurden, ging weder von Wissenschaft noch Wirtschaft noch Politik ein Impuls aus, die Geschichte des „motorradfahrenden Proletariats“ aufzuarbeiten. Die „knatternden Gesellen“ von einst schienen vielerorts auf Abneigung zu stoßen. Dabei wurde selbst der ADAC, heutzutage Schutzheiliger aller Autofahrer, 1903 in Stuttgart „von 25 begeisterten Motorradfahrern“ aus der Taufe gehoben, wie es in der Klubgeschichte heißt.

    Rüstungsfirmen trieben Zweirad-Produktion voran

    Tatsächlich waren nicht Sportsgeist und Freiheitsdrang Hauptgrund für die Verbreitung des motorisierten Zweirads, sondern ökonomische Zwänge. Ein Auto blieb für die meisten Deutschen in den 20er- und 30er-Jahren ein Traum. „Die Mehrheit der Berufstätigen bestand aus schlecht bezahlten Arbeitern. Die Massenkaufkraft war sehr gering“, sagt Steinbeck. Das günstigste Auto, ein Opel, kostete nach heutigen Maßstäben etwa 15.000 Euro. Hinzu kamen Spritpreise von vier bis fünf Euro pro Liter. Nur 20 bis 30 Prozent der Wagen, die von den Bändern liefen, waren für Privatpersonen bestimmt.

    Der Siegeszug der Motorräder konnte beginnen. Die Massenmotorisierung verantworteten die Motorrad-Schmieden NSU und Wanderer, die an Fahrräder einfache Motoren montierten. Als Rüstungsfirmen nach dem Ersten Weltkrieg Profite witterten, sattelten auch sie auf die Motorradproduktion um.

    Zum Beispiel Zündapp, von 1917 bis 1984 einer der größten deutschen Motorradhersteller. Oder die Deutsche Industriewerke AG, in denen Zehntausende Exemplare des D-Rads vom Band rollten. Dem Zweiradgewerbe kam gelegen, dass ab 1928 alle Motorräder bis 200 Kubikzentimeter steuerbefreit waren, einen Führerschein brauchte man auch nicht. Ungefährlich war das nicht. „Die Maschinen erreichten Geschwindigkeiten von 80 bis 100 km/h“, sagt Steinbeck.

    Beiwagen als Familien-Omnibus

    Auch der aufkommende Berufsverkehr kurbelte das PS-Geschäft an. „Insbesondere in den Großstädten wurde der Pendlerverkehr um 1930 zum Massenphänomen“, sagt Steinbeck. In der Freizeit fuhren die Arbeiter mit dem Motorrad ins Grüne oder an den Baggersee. Wurden 1936 nur 25.000 Motorräder neu zugelassen, waren es 1939 schon mehr als 40.000; die Zahl der Autos ging im selben Zeitraum von 23.000 auf 13.000 zurück.

    Zu großer Beliebtheit bei den Ausflüglern brachte es der Beiwagen. Ende der 20er-Jahre fuhren in den großen Städten sonntags nahezu die Hälfte aller Motorräder als Gespanne. Im Seitenwagen nahmen auch Kind und Kegel Platz, was ihm den Beinamen „Familien-Omnibus“ einbrachte.

    Den Nationalsozialisten galt das „billige Kraftrad“ als Symbol für den „unglückseligen Kriegs- und Nachkriegszustand“. Adolf Hitler ließ lieber den Autobahnbau pompös feiern und kündigte vollmundig den Volkswagen an, doch über die Vorbereitung der Produktion kam der Ur-VW bekanntlich nicht hinaus.

    Die Motorräder blieben dominierend im Straßenbild und führten dem NS-Regime den erheblichen Entwicklungsrückstand Deutschlands gegenüber westlichen Konkurrenzstaaten vor Augen. Im Krieg wurden auf den Soziussitzen Zigtausender Militär-Motorräder Maschinengewehre installiert.

    Entwicklung zurück zum Freizeitgerät

    Erst mit Gründung der Bundesrepublik erfüllten sich die Wünsche der Deutschen nach einem eigenen Auto. Das Motorrad hatte als Statussymbol ausgedient – und bekam wie das Fahrrad den Anstrich eines „Arme-Leute-Fahrzeugs“. Die Ablösung hatte sogar friedensstiftende Folgen, behauptet Steinbeck. Das Wirtschaftswunder habe den Motorisierungsrückstand gegenüber den westlichen Industriestaaten wettgemacht. Die „lang ersehnte Massenmobilisierung“ habe das demokratische System in der Bundesrepublik stabilisiert, weil sich jeder ein Auto leisten konnte.

    Das Motorrad indes wurde wieder in seine ursprüngliche Rolle als Freizeit- und Sportgegenstand zurückgefahren. Motorradfahren ist heute ein gepflegtes Hobby. Knapp vier Millionen Bikes sind derzeit zugelassen, dagegen stehen 43 Millionen Pkw; das Durchschnittsalter des Bikers ist 39 – Tendenz steigend.

    Eine kleine Renaissance könnte das Zweirad durch die zunehmende Urbanisierung erleben. Pedelecs und andere Elektroräder boomen. Auch mit dem Motorroller kommt man auf verstopften Straßen schneller voran. So hat auch Forscher Steinbeck sein Auto abgeschafft und fährt nur noch Motorrad; übrigens ein britisches Modell A.J.S., Baujahr 1960.

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